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"EU-Europa verschärft den Konflikt"

Vertreter der friedlichen syrischen Opposition in Berlin

Von Roland Etzel *

Obwohl die täglichen Kriegsbilder aus Syrien anderes vermitteln - es gibt durchaus oppositionelle Kräfte im Land, die zwar für Veränderung eintreten, aber gegen Waffengewalt sind. Zwei von ihnen sind derzeit Gast deutscher Friedensorganisationen.

»Den syrischen Staat aufbauen« haben sie ihre Bewegung betitelt. Das legt nahe, dass sie das Machtgefüge ihrer Republik, wie es bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges existierte, verändert wissen wollen. Es lässt aber auch viele Wege offen und lädt damit zur Mitwirkung ein - unter einer Voraussetzung: Man achtet das Gebot für einen ausschließlich friedlichen Wandel. Darüber berichteten am Dienstag in Berlin Mouna Ghanem und Louai Hussein, die derzeit Gast von Friedensverbänden wie der Ärzteorganisation IPPNW und Pax Christi sind.

Sie sind hier, weil sie mit der Rolle EU-Europas im Syrien-Drama unzufrieden sind und weil sie Aufklärung betreiben möchten. Hussein kritisiert, dass im Westen nur noch von den Interessen dieser oder jener geredet wird und kaum noch vom Kampf um Demokratie. Die Stellungnahmen der EU, spitzt er zu, seien sogar dazu geeignet, den Konflikt noch zu verschärfen. Zu Fragen, wie er dann die Rolle Chinas oder Russlands bewerte, sagt Hussein, er sehe deren Haltung durchaus kritisch. Wie konkret, das sage er ihnen, wenn er dort sei. »Jetzt bin ich hier in Westeuropa.«

Wer den Publizisten darob einer gewissen Regime-Nähe verdächtigt, liegt falsch. Louay Hussein war stets ein unerschrockener kritischer Geist und hat dafür unter Assad sen. und jun. insgesamt acht Jahre Gefängnis auf sich genommen. Auf »nd«-Nachfrage, was er von den Dialogbeteuerungen von Präsident Baschar al-Assad halte, antwortet er mit skeptischem Blick und den Worten: »Assad kann nicht Teil des Demokratieprozesses sein. Demokratie kann nur demokratisch und somit friedlich erreicht werden.«

Hussein blickt zurück: »Im März/April 2011 hatten wir Hunderttausende Demonstranten auf der Straße. Damals sagten mir die Verfechter des bewaffneten Kampfes gegen meinen Rat: ›Wenn wir jetzt zu den Waffen greifen, haben wir in drei Monaten gesiegt.‹ Jetzt dauert der Krieg schon anderthalb Jahre, und Zehntausende sind tot. Ich denke, wenn man auf uns gehört hätte - das neue Syrien wäre längst da.«

Ähnlich habe er sich bereits im Juni auf einer Konferenz von Oppositionellen in Damaskus geäußert. Für den anwesenden Vertreter der EU im Lande war das offenbar unbefriedigend. Dieser wollte von ihm hinterher vor allem wissen: »Sind Sie für oder gegen Assad?« Diese Engstirnigkeit hat ihn sehr verbittert. Außerdem: »Kein ausländischer Vertreter hat das Recht, mir so eine Frage zu stellen.« »Den syrischen Staat aufbauen« steht nicht unter dem Einfluss ausländischer Interessen, auch nicht der der EU. Entsprechend frostig verhalten sich die europäischen Demokratielehrer.

Die Ärztin Mouna Ghanem stimmt in Bezug auf das Diktum, jeglichen Widerstand friedlich zu gestalten und sich gegen jede ausländische Einmischung zu verwahren, völlig mit Hussein überein. Aber sie sagt mit großer Entschiedenheit: »Es gibt keine echte Demokratie ohne Mitwirkung der Frauen, so wie es kein freies Bürgertum ohne Gleichstellung der Frau gibt.«

Die syrischen Frauen wollten nicht länger durch den Krieg zu Witwen gemacht werden und ihre Kinder verlieren; sie seien es leid, Opfer von Vergewaltigung oder Zwangsverheiratung, von Prostitution oder verbrecherischer Entführung zu werden. Und: »Wir syrischen Frauen wollen endlich Einfluss auf Gesellschaft und Politik.« Auch wenn die Gefahr besteht, dass mit Syrien beschäftigte Politiker der EU das wieder nicht verstehen, ist es Mouna Ghanem wichtig festzustellen: »Wir sind keine Initiative von ›Oppositionsfrauen‹ oder ›Regierungsfrauen‹, wir sind offen.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 08. November 2012


Mahnung: Die Waffen nieder

Von Rüdiger Göbel **

Großbritanniens Premier David Cameron will die »Freie Syrische Armee« durch direkte Gespräche politisch aufwerten, die Türkei drängt auf eine stärkere Unterstützung der Aufständischen im Kampf gegen Präsident Baschar Al-Assad, etwa durch die militärische Durchsetzung sogenannter sicherer Zonen. Im Syrien-Drama ziehen NATO-Mitglieder immer unverhohlener die militärische Karte. Der Kampf um Damaskus wird zugespitzt, notfalls bis zum letzten Syrer wird auf den »regime change« hingemordet.

Auch Louay Hussein, Schriftsteller und Präsident der Bewegung »Den syrischen Staat aufbauen«, und Mouna Ghanem, Ärztin und syrische Frauenrechtlerin, fordern einen fundamentalen Wandel, eine wirkliche Demokratisierung für ihr Land. Dem steht aber die aktuelle – auch von der EU beförderte – Eskalation der Gewalt entgegen. Auf Einladung der Bundestagsfraktion Die Linke sind Oppositionelle in dieser Woche in Berlin, um über Auswege aus Krieg und Terror zu diskutieren. Von den anderen Parteien mag niemand mit den Gästen aus Damaskus reden. Auch beim Auswärtigen Amt hat keiner Zeit. Es bleibt Friedensgruppen wie der Ärzteorganisation IPPNW und Pax Christi vorbehalten, ihnen ein Podium zu geben. Es sind nicht viele, die Louay Hussein und Mouna Ghanem in der deutschen Hauptstadt zuhören wollen. Sie passen einfach nicht ins übliche Syrien-Schwarz-Weiß, in das schlichte Gut-Böse-Klischee des Konflikts. Statt das Feindbild Assad zu pflegen, kritisieren sie in allererster Linie die zunehmende Gewalt im Land, auf seiten der Aufständischen wie auf der der regulären Streitkräfte. »Die Waffen nieder« statt »Weg mit Assad« könnte man ihre Maxime zusammenfassen.

Mouna Ghanem mahnt, es werde keine Demokratie ohne Mitwirkung der Frauen geben. Syriens Frauen wollten endlich Einfluß auf Gesellschaft und Politik. Für Präsident Assad wird im neuen Syrien kein Platz sein, daran hat Louay Hussein keinen Zweifel. Verständigen über »den Tag danach« müssen sich aber die Syrer selbst – die Syrer im Land, Anhänger Assads wie dessen Gegner, nicht die in Doha oder Istanbul versammelten Exilkräfte oder sogenannte Revolutionspaten. Das in Berlin ausgearbeitete Projekt »The Day After« nennt Louay Hussein prägnant-kurz »Putschplan«.

Ist angesichts der vielen tausend Toten ein Dialog überhaupt möglich? Louay Hussein ist nicht gewillt zu glauben, es könne keine Verhandlungslösung geben. Man müsse sie nur wollen. Es sei für ihn unvorstellbar, daß der Mensch zum Mond fliegen, aber nicht mit anderen über die friedliche Beilegung eines Konfliktes reden können soll. Man müsse auf den anderen zugehen, »der Mond ist auch nicht zu uns gekommen«.

** Aus: junge Welt, Freitag, 09. November 2012


Patriotisch sinnlos

René Heilig über Schutzmaßnahmen der Türkei vor Syrien ***

Die NATO soll zum Schutz vor Beschuss aus Syrien in der Türkei Patriot-Flugabwehrraketen stationieren. Als Schutzschirm, der Flüchtlingen die Rückkehr nach Syrien ermöglicht. Das will der türkische Außenminister. Der wiederholt nur, was die Zeitung »Hürriyet« schon vor Tagen als Szenario ausgemalt hat. Und was sagt die NATO? Dass sie keine offizielle Anfrage habe. Ist das ein Dementi? Nein! Offizielle Anfragen werden erst auf den Weg geschickt, wenn auf auf »Arbeitsebene« Nägel mit Köpfen gemacht sind.

Was da gefordert wird, ist militärisch Schwachsinn. Patriots können - wenn es gut geht - Flugzeuge und Raketen abfangen, gegen einzelne Artillerie- und Mörsergranaten helfen sie gar nicht. Doch darum geht es nicht. Die Raketenanfrage hat politische Gründe. Die Hardliner in der NATO wollen - nachdem in den USA geordnete Nachwahl-Verhältnisse einziehen - den Druck auf Syrien erhöhen, das Bündnis insgesamt näher heranführen an den Konflikt. Statt Flüchtlingshilfe gibt es militärischen Beistand. Auf - vorerst - kleinstem gemeinsamen Nenner. Der Einsatz von defensiven Patriot-Flugkörpern ist über die meisten Parteigrenzen hinweg konsensfähig und der Bevölkerung relativ einfach vermittelbar.

Beim US-Krieg »Desert Storm« gegen Irak haben die Niederlande Patriot-Staffeln in der Türkei stationiert. Inzwischen verfügt die zu reformierende Bundeswehr über überflüssige Systeme und könnte - anders als gegen Libyen - mal wieder mitmachen, ohne mittendrin zu sein.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 09. November 2012 (Kommetar)


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