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Sensation in Moskau

Neue Chance für Diplomatie

Von Rainer Rupp *

Lange Zeit schien es ausgeschlossen, daß Washington in der Syrien-Frage umschwenken und für die von Moskau und Peking geforderte Verhandlungslösung im Rahmen des »Genfer Kommuniqués« (siehe Spalte) eintreten könnte. Denn die USA setzten bisher auf einen gewaltsamen Regimewechsel in Damaskus, der Wechsel zu der anderen Option hätte eine politische Niederlage und Gesichtsverlust bedeutet. Nun aber ist die Sensation perfekt. Nach seinen Gesprächen in Moskau am 7. Mai mit Präsident Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow erklärte US-Außenamtschef John Kerry: »Wir sind der Auffassung, daß das Genfer Kommuniqué tatsächlich ein wichtiger Weg ist, um dem Blutvergießen in Syrien ein Ende zu setzen. Es darf kein Fetzen Papier oder leere Diplomatie sein, sondern muß den Weg zu einem neuen Syrien bahnen, in dem es kein blutiges Gemetzel gibt«. Kerry betonte, die zentrale Aufgabe sei nun, Vertreter der Opposition und der syrischen Regierung auf einer internationalen Konferenz zusammenzubringen. Genau das fordern Moskau und Peking seit Beginn des bewaffneten Aufstandes vor zwei Jahren. Dazu ist auch die Regierung in Damaskus bereit.

Zugleich informierte Lawrow, der syrische Außenminister habe in einem Telefongespräch das Festhalten der Assad-Regierung an den Genfer Vereinbarungen bekräftigt und sich bereit erklärt, Verhandlungen mit der Opposition umgehend aufzunehmen. Der russische Chefdiplomat erklärte am Dienstag abend: »Jetzt geht es darum, alle Oppositionsgruppen dazu zu bewegen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen.« Diese indirekte Forderung dürfte sich auf Washington beziehen, das jene Kräfte unterstützt, die bisher jegliche Gespräche mit der Regierung Assad kategorisch ablehnen. Kerry bestätigte seinerseits, daß die USA und Rußland versuchen werden, schon für Ende Mai ein Folgetreffen der »Aktionsgruppe für Syrien« zu organisieren. An deren erster Tagung am 30. Juni 2012 in Genf hatten die Chefs der UN und der Arabischen Liga, die Außenminister Rußlands, der USA, Großbritanniens, Chinas, Frankreichs, der Türkei, des Irak, Kuwaits und Katars sowie die EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton teilgenommen. Im vergangenen Februar schlug Rußland eine Erweiterung der Gruppe um Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten, Libanon und Iran vor.

Der Syrien-Gesandte der UN und der Arabischen Liga, Lakhdar Brahimi, begrüßte am Mittwoch den, wenn auch zaghaften, Schulterschluß Rußlands und der USA als »ersten wichtigen Schritt« und mahnte schnelle weitere Maßnahmen an.

Rußland und die USA einigten sich am Dienstag in Moskau außerdem auf eine Zusammenarbeit ihrer Geheimdienste, um gemeinsam die Berichte über den angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Syrien zu überprüfen. Das sei beim Treffen Kerrys im Kreml mit dem russischen Präsidenten Putin beschlossen worden, so Außenminister Lawrow. Er betonte: »Wir müssen hundertprozentig sicher sein, keinen Gerüchten oder sogar absichtlichen Provokationen aufzusitzen«

* Aus: junge Welt, Freitag, 10. Mai 2013


Das Syrien-Dilemma

US-Interventionspläne stoßen auf Ablehnung in der Bevölkerung und beim Militär. Falken in Washington wollen einen zweiten Bürgerkrieg

Von Rainer Rupp **


Das Ergebnis mehrerer repräsentativer Umfragen der vergangenen Woche in den USA zu einer möglichen Intervention in Syrien auf seiten der Aufständischen ist eindeutig: Die große Mehrheit antwortete mit Nein. Laut einer Erhebung der Internetzeitung Huffington Post lehnen US-Bürger Luftangriffe auf Syrien bzw. Waffenlieferungen an die Rebellen im Verhältnis von drei zu eins oder sogar im Verhältnis von vier zu eins ab. Unabhängig von parteipolitischen Orientierungen waren sie auch im Verhältnis von 14 zu eins gegen einen Einsatz von US-Bodentruppen. Jeweils gemeinsame Erhebungen von CBS und New York Times sowie von Reuters und Ipsos kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Bei letzterer sprachen sich die Befragten sogar im Verhältnis von 61 zu zehn gegen eine US-Invasion aus. Selbst im hypothetischen Fall eines Giftgas­einsatzes durch die Assad-Regierung wollten sie im Verhältnis von 44 zu 27 die angebliche »Schutzverantwortung« für die Aufständischen nicht wahrnehmen.

Verfahrene Situation

Der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Patrik Buchanan, kommentierte den Gesinnungswechsel in den USA seit dem Irak-Krieg 2003 mit den Worten: »Die außenpolitischen Eliten des Landes sind viel interventionistischer … als die amerikanische Mitte«. Den Militär- und Rüstungslobbyisten gelinge es nicht mehr, die öffentliche Meinung wie gewünscht zu formen. Er ging auf die Erklärung Carla del Pontes, Mitglied der 2011 vom UN-Hochkommissar für Menschenrechte eingesetzten Unabhängigen Untersuchungskommission für die Syrische Republik, vom Montag ein. Sie hatte geäußert, daß mit großer Wahrscheinlichkeit syrische Rebellen und nicht die Assad-Regierung für den Einsatz des Giftgases Sarin verantwortlich waren. Diese Stellungnahme werde die öffentliche Unterstützung für die im Weißen Haus diskutierten Pläne für Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen weiter untergraben, so Buchanan.

Tatsächlich weiß die Obama-Administration nicht, wie sie sich der verfahrenen Situation ohne Gesichtsverlust entziehen kann. Fakt ist, daß die kampfstärksten Verbände der Aufständischen sich mit den fundamentalistischen und menschenverachtenden Zielen des Al-Qaida-Terrornetzwerks identifizieren und sich – wie die Al-Nusra-Gruppe – sogar offen dazu bekennen. Al-Nusra ist in Teilen von Aleppo und in anderen von Rebellen besetzten, vorwiegend sunnitischen Gebieten tonangebend. Nicht zuletzt deswegen, weil sie sich bei der Versorgung der Zivilbevölkerung als effizient zeigte. Das ist nur dank großzügiger Unterstützung durch Saudi-Arabien und Katar möglich.

Neue Freunde

Aber Al-Nusra und Co. sind zugleich für Folter, Entführungen und Massenmord an Gefangenen und Andersgläubigen berüchtigt. Entsprechende Vorwürfe kommen nicht nur von der Assad-Regierung, sondern auch von den wenigen noch verbliebenen säkular orientierten Rebellengruppen. Sie aber haben in der »Freien Syrischen Armee«, dem Dachverband des bewaffneten Aufstands, nichts mehr zu sagen. Dort bestimmen inzwischen die mit den besten Waffen, den größten Kampferfahrungen und dem meisten Geld, d.h. fanatisierte Islamisten. Und hier liegt denn auch der Kern von Wa­shingtons Dilemma.

Für die US-Strategen ist klar, daß bei einem Sturz Assads islamistische Gewaltextremisten vom Typus Al-Nusra in Damaskus an die Macht kommen. Das würde Syrien in ein Chaos stürzen ähnlich dem in Libyen zwei Jahre nach der dortigen »humanitären« Intervention des Westens. Ein Krieg mit »Militärstiefeln auf dem Boden«, die Einrichtung einer von der US- beziehungsweise NATO-Luftwaffe durchgesetzten Flugverbotszone oder auch einer Schutzzone für die Rebellen, wie von Washingtoner Falken vehement gefordert, wird vom Weißen Haus, aber insbesondere von der US-Militärführung offen abgelehnt.

Wiederholt hat z.B der höchste US-Offizier, der Chef der Vereinigten Stabschefs, General Martin Dempsey, vor einem militärischen Eingreifen gewarnt. Das beschleunige nicht nur den Sieg der Gewaltextremisten, destabilisiere die gesamte Region und sei wegen der syrischen Luftabwehr und ihrer Boden-Boden-Raketen nicht allein durch den Einsatz der Luftwaffe durchzusetzen. Ein neuer Bodenkrieg in einem arabischen Land sei aber »nicht im US-Interesse«. Bereits vor acht Monaten erklärte Dempsey z.B. in London: »Syrien ist nicht mit Libyen zu vergleichen.«

Dennoch scheinen sich im Weißen Haus jene Kräfte durchgesetzt zu haben, die in einer massiven militärischen Unterstützung von säkularen und »gemäßigten« Rebellengruppen eine Möglichkeit sehen, die US-Ziele durchzusetzen. Laut New York Times vom 27. April sollen US-freundliche Kräfte mit den besten Waffen ausgerüstet und mit viel Geld versehen werden. Damit sollten erstens ein Gegengewicht zu Al-Nusra und Co. geschaffen und zweitens für die Zeit nach Assad verläßliche Partner aufgebaut werden. Sie müßten zuvor natürlich finanziell und politisch von Washington abhängig gemacht werden. Mit Hilfe solcher neuen Freunde sollten Al-Nusra und verwandte Gruppen im »neuen« Syrien marginalisiert werden. Das aber bedeutet: Für die Zeit nach Assad wird von den US-Falken bereits ein zweiter Bürgerkrieg geplant. Dessen Ausgang jedoch bleibt selbst im für die USA günstigsten Fall unklar. Ein zweiter Bürgerkrieg birgt zugleich die große Gefahr in sich, über US-Militärberater vor Ort schleichend in den Konflikt hineingezogen zu werden.

Angesichts dieser Lage hat Washington keine verheißungsvollen Optionen in Syrien. Wahrscheinlich lehnt es deshalb nun zum ersten Mal die von Rußland und China von Anfang an verfolgte Verhandlungslösung nicht mehr kategorisch ab.

** Aus: junge Welt, Freitag, 10. Mai 2013


Strategiewechsel?

Querschüsse gegen Syrien-Initiative

Von Werner Pirker ***


Washington und Moskau setzen sich gemeinsam für eine Syrien-Konferenz ein, auf der Vertreter der Regierung und der Opposition eine politische Lösung des Konflikts aushandeln sollen. An sich eine ausgezeichnete Idee. Daß aber der dem Falkenlager zugerechnete ­US-Außenminister John Kerry nun so tut, als hätte er als erster diese Idee gehabt und damit den Königsweg für einen friedlichen Ausgang der syrischen Tragödie gefunden, zeigt die ganze Doppelbödigkeit und Verlogenheit der US-Politik gegenüber Syrien. Die Grundzüge einer politischen Lösung sind bereits in der Genfer Vereinbarung vom Juni 2012 vorgezeichnet worden. Demnach sollte aus Vertretern des gegenwärtigen Regierungslagers und der Opposition eine Übergangsregierung gebildet werden – von einem Rücktritt des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad ist an keiner Stelle die Rede.

Dieser einzig vernünftige Lösungsansatz ist von Rußland stets verfolgt worden. Ganz im Gegensatz zu den USA, die, obwohl Mitunterzeichner der Genfer Vereinbarung, eisern an ihrer Orien­tierung auf einen gewaltsamen Regimewechsel festhielten. Bis zu einem Zeitpunkt, als die Dinge aus dem Ruder zu laufen begannen. An der innersyrischen Front erbrachte die Regierung in Damaskus den Vereinbarungen von Genf entsprechende Vorleistungen. Sie brachte eine neue, auf dem Mehrparteiensystem beruhende Verfassung zur Abstimmung und band den konstruktiven Teil der Opposition in den politischen Prozeß mit ein. Doch die von den falschen »Freunden Syriens« aufgeputschte Opposition beharrte auf ihrem »Alles oder Nichts«-Standpunkt, der auf die militärische Ausschaltung des Pro-Assad-Lagers und damit des Mehrheitsspektrums der syrischen Gesellschaft hinausläuft. Am entschiedensten und militärisch am effektivsten wird dieses zutiefst demokratiefeindliche Programm von den salafistischen Pogrombanden vertreten.

Der von der Obama-Administration verfolgte Strategiewechsel dürfte, sofern er überhaupt ernstgemeint ist, zu spät kommen. Die Kriegsfurie, die in Kerrys Vorgängerin Hillary Clinton ihren personifizierten Ausdruck gefunden hatte, wird sich kaum noch aufhalten lassen. Vor allem die mediale Meute hat Blut gedeckt. Die auf Deeskalation ausgerichtete Politik Rußlands und somit auch die russisch-amerikanische Initiative zur Einberufung einer Syrien-Konferenz soll durch Meldungen über russische Militärhilfe für die syrischen Streitkräfte konterkariert werden. In Deutschland ist es Der Spiegel, der am lautesten in das Kriegsgeheul einstimmt, weshalb er für die Syrien-Konferenz nur Hohn und Spott übrig hat. Ihr Scheitern ist indessen tatsächlich vorhersehbar. Denn es ist kaum anzunehmen, daß Washington ernsthaft an einem innersyrischen Ausgleich interessiert ist. Es wird weiterhin, wenn auch mit anderen Mitteln, an seinem Ziel, in Damaskus einen Regimewechsel zu erzwingen, festzuhalten versuchen.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 10. Mai 2013 (Kommentar)

Genfer Kommuniqué: Vorsichtiger Optimismus

Die »Aktionsgruppe für Syrien« besteht aus Vertretern der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und z.B. Nachbarstaaten Syriens. Am 30. Juni 2012 war sie bei ihrem Treffen in Genf über die Prinzipien zur Überwindung des Krieges in Syrien übereingekommen, dazu zählte u. a. auch die Bildung einer Interimsregierung. Das damals zu den Ergebnissen des Treffens angenommene »Genfer Kommuniqué« sieht auch die Möglichkeit einer Revision der syrischen Verfassung auf der Basis eines nationalen Dialogs vor sowie die Durchführung von Mehrparteienwahlen und die Bildung neuer Staatsorgane.

Teil des Genfer Prozesses ist ebenfalls der Sechs-Punkte-Plan des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan, den er am 10. März 2012 in seiner damaligen Funktion als UN-Sondergesandter für Syrien in Damaskus vorgestellt hatte. Dieses Papier sieht u.a. einen sofortigen, von den UN überwachten Waffenstillstand zwischen den beteiligten Parteien vor, den Abzug schwerer Waffen aus Wohngebieten, die Freilassung politischer Gefangener, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sowie humanitäre Hilfe für die Bevölkerung. Die Regierung in Damaskus, unterstützt von Moskau und Peking, akzeptierte alles vorbehaltlos. Dagegen stellten sich die meisten Gruppen der zum Teil einander bekämpfenden Opposition quer. Sie weigerten sich, die Waffen ruhenzulassen und Verhandlungen aufzunehmen. Propagandistisch wurden sie dabei von Washington, Paris, London und auch Berlin kräftig unterstützt. Mit monströsen Lügen machten sie die Assad-Regierung für die Nichtumsetzung der sechs Punkte verantwortlich, wobei sie Rußland und China vorwarfen, nicht genügend Druck auszuüben. Sie setzten weiterhin darauf, die Regierung relativ rasch gewaltsam stürzen zu können.

Die Ankündigung von US-Außenminister John Kerry vom 7. Mai in Moskau, daß die Verhandlungen im Rahmen der »Aktionsgruppe für Syrien« wieder aufgenommen werden sollen, kann vor diesem Hintergrund nur vorsichtigen Optimismus hervorrufen. Außerdem gab es in den vergangenen Monaten zahlreiche westliche Versuche, das »Genfer Kommuniqué« umzuinterpretieren. Allerdings hat Washington keine andere Möglichkeit als Diplomatie, um ohne größeren Gesichtsverlust aus dem selbstverschuldeten Syrien-Dilemma herauszukommen.
(rwr)




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