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Die neue Kraft, die Syrien "reinigen" will

Das Auftreten der Freien Syrischen Armee im Internet lässt nichts Gutes ahnen

Von Florian Bernhardt *

Die im Sommer gegründete Freie Armee Syriens hat inzwischen einen provisorischen Militärrat gegründet. Sein Ziel hat er unverblümt verkündet: den Sturz von Staatschef Assad.

Diese Männer lassen keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinen. Sie sind schwer bewaffnet, zum Teil vermummt. Einige verlesen ihre Erklärungen an Tischen, die sich unter der Last von Handgranaten und Schnellfeuergewehren biegen. Bilder wie diese, die im Internet und auf Al Dschasira verbreitet werden, verdeutlichen zumindest eines: Der Widerstand gegen das Regime in Syrien wird nicht allein von friedlichen Demonstranten, sondern seit Monaten auch von bewaffneten Gruppen getragen. Viele Bewaffnete gehören zur Freien Syrischen Armee. Die besteht nach eigenen Angaben aus Deserteuren, die sich nicht länger am Vorgehen von Armee, Milizen und Geheimdiensten gegen unbewaffnete Demonstranten beteiligen wollen. Doch worin bestehen ihre Ziele?

Es gibt nur wenige gesicherte Informationen zur Identität derjenigen, die am 29. Juli die Gründung der Freien Syrischen Armee bekannt gaben. Ihre Stärke wurde bereits im Oktober auf 15 000 geschätzt. Die auf lokaler Ebene agierenden Einheiten nennen sich »Grüne Brigade Khalid Ibn Walid«, nach dem Führer des islamischen Heeres, das im 7. Jahrhundert Syrien eroberte. Andere tragen Bezeichnungen wie »al-Faruq«, nach dem Beinamen Omars, dem zweiten der sogenannten rechtgeleiteten Kalifen, oder »al-Qassam«, nach dem 1935 von den Briten getöteten palästinensischen Prediger, der auch die Al-Qassam-Brigaden der Hamas zu ihrem Namen inspirierte. Die islamische Konnotation ist unübersehbar.

Blickt man auf Facebook-Präsenzen der Freien Syrischen Armee, fällt auf, dass ihre Hauptseite in englischer Sprache ist. Schließlich setzt zumindest ein Teil der Aufständischen auf eine NATO-Intervention ähnlich wie in Libyen. Da dominiert das Bekenntnis zu nationaler Einheit und Demokratie. Das zeigen nationalistische Referenzen wie die an den syrischen Nationalhelden Yusuf al-Azmeh, der 1920 vergeblich versucht hatte, Syriens Unabhängigkeit gegenüber einer französischen Invasionsarmee zu bewahren, und bei der Schlacht von Maisalloun bei Damaskus ums Leben kam.

Die arabischsprachigen Seiten der »Deir az-Zor« und der »Khalid Ibn Walid Brigade« vermitteln ein anderes Bild, das man vermutlich im Westen und in anderen Oppositionskreisen gerne ausblenden würde. Eines der Profilbilder zeigt den Schattenriss eines Soldaten mit einer Fahne, die sowohl von Al Qaida, als auch von der Hizb at-Tahrir (Partei der Befreiung) verwendet wird. Seit Wochen berichtet die Gruppe in Kommuniqués über angebliche militärische Erfolge. Glaubt man den Angaben, wurden bisher über tausend Soldaten und Milizangehörige getötet. Zu den erklärten Zielen der »Khalid Ibn Walid Brigade« gehört »die Reinigung jeden Fußbreit Syriens von Assads Hunden«.

Man verfüge, so ein Kommuniqué vom 10. November, über Listen derer, die sich an Verbrechen beteiligt haben, und werde sie zur Verantwortung ziehen. Zugleich wird hervorgehoben, dass viele von ihnen der Konfession des »Verbrechers Assad« angehörten, also Alewiten sind.

Mit dem Verweis auf die Zugehörigkeit Assads zur alewitischen Minderheit bewegen sich die Militanten auf bekanntem Terrain. Viele Beobachter hängen der irrigen These an, der Konflikt in Syrien sei eine Auseinandersetzung zwischen der herrschenden alewitischen Minderheit und der unterdrückten sunnitischen Mehrheit. Auch die syrische Muslimbruderschaft, lange Zeit eine der stärksten oppositionellen Organisationen, vertrat diese Ansicht immer wieder. Zurzeit enthält sie sich jedoch dieser Rhetorik und beschwört die Einheit aller Syrer.

Unübersehbar auf Facebook-Seiten der Freien Syrischen Armee ist, dass auch viele derjenigen, die ihre Aktivitäten als »Freunde« verfolgen und kommentieren, dem islamistischen Lager zuzurechnen sind. So droht ein »Freund« mit Namen Ahmad Homs in einem Kommentar den »Hunden Assads, Alewiten und Abschaum« am 16. November: »Wir in Homs haben uns bewaffnet … Wartet auf uns, wir kommen, um euch zu töten, ihr Hunde!«

Wer steckt hinter solchen Profilen? Oppositionelle oder Vertreter des Regimes? Wie relevant sind solche Äußerungen? Die im Westen wahrgenommenen Oppositionsführer wie Burhan Ghaliyun, aber auch die Sprecher der »Tansiqiyat«, lokaler Koordinierungskomitees, verwahren sich gegen jede Form des Konfessionalismus und beschwören die Einheit aller Syrer. Sie beschuldigen das Regime der Verbreitung konfessioneller Ressentiments. So wolle man Zwietracht in der Opposition säen und zugleich Angehörige religiöser Minderheiten und diejenigen, die einen Bürgerkrieg wie in Irak befürchten, an sich binden.

Dass sich das Regime, um seinen Sturz abzuwenden, einer Politik des »Teile und herrsche« bedient, kann als sicher gelten. Ebenso sicher ist jedoch die Zunahme der Propaganda salafistischer Prediger in Saudi-Arabien, Ägypten und Libanon. Viele von ihnen rufen seit Monaten auf verschiedenen Fernsehkanälen und in Internet-Predigten zum bewaffneten Kampf gegen das Regime in Syrien auf. Ihre Erklärungen zeichnen sich durch aggressive antischiitische und antialewitische Ressentiments aus.

Ungewiss ist, welchen Einfluss ihre Appelle auf die Aufständischen haben. Im syrischen Alltag hat sich in den vergangenen Jahren eine sichtbare Islamisierung vollzogen, zum Teil mit staatlicher Billigung. Viele Syrer, die als Arbeitsemigranten in Saudi-Arabien leben, haben zur Verbreitung eines wahhabitischen Islam beigetragen. Die »Qubaisiyat«, ein ausschließlich von Frauen getragener missionarischer Orden, ist seit Jahren erfolgreich bei der »Ermutigung« von Frauen zur Annahme des Hidschab (Ganzkörperschleier). Zwar stellte die Diffamierung, ja bereits die Thematisierung konfessioneller und religiöser Unterschiede in der syrischen Öffentlichkeit ein Tabu dar, dessen Bruch mit äußerster Härte geahndet wurde. In privaten Gesprächen werden jedoch seit Jahren unverblümt Ressentiments gegen Angehörige anderer Konfessionen und Religionen geäußert.

Welche Kräfte sich nach einem Sturz Assads durchsetzen würden, ist nicht absehbar. Zu hoffen wäre, dass diejenigen, die zu Gewalttaten gegen Angehörige anderer religiöser, konfessioneller und ethnischer Gruppen aufrufen, kein Gehör finden. Angesichts des eskalierenden Bürgerkrieges besteht jedoch kein Anlass zu Optimismus.

* Der Autor ist Islamwissenschaftler und hat lange Zeit in Syrien gelebt.

Aus: neues deutschland, 22. November 2011



Alles oder nichts

Friedensdiktat der arabischen Liga

Von Werner Pirker *


Das von den Westmächten geforderte Ende des Blutvergießens in Syrien wird es erst geben, wenn eine der beiden Seiten besiegt am Boden liegt. Dafür garantiert die von den Westmächten gesponserte syrische Opposition, die keine andere Lösung als die eines gewaltsamen Regimewechsels mehr in Betracht zu ziehen bereit ist. Angesichts der offenen Parteinahme der imperialen Mächte zu ihren Gunsten meinen sich die Aufständischen eine »Alles oder nichts«-Strategie leisten zu können. Die von US-Außenministerin Hillary Clinton zum Ausdruck gebrachte Zuversicht, »es könnte einen Bürgerkrieg mit einer sehr entschlossenen und gut bewaffneten und letztlich gut finanzierten Opposition geben«, zeigt, wie Washington gegenüber Syrien weiter vorzugehen gedenkt. Um sich eine offene Militärintervention zu ersparen, soll die Opposition bürgerkriegstauglich gemacht werden.

Ob sie das je sein wird, ist eine andere Frage. Gegenwärtig scheint sie sich darin zu üben, militärische Erfolge vorzutäuschen. Wie jW-Korrespondentin Karin Leukefeld in der gestrigen Ausgabe zu berichten wußte, hat der von den Rebellen gemeldete Beschuß des Gebäudes der Baath-Partei in Damaskus gar nicht stattgefunden, was die Westmedien freilich nicht daran hinderte, die Falschmeldung genüßlich weiterzuverbreiten. Es ist also keineswegs gesagt, daß die Strategie zur Erzwingung eines Regimewechsels durch einheimische Kräfte auch aufgeht und es nicht doch noch zu einer direkten westlichen Militärintervention kommt.

Im Moment zieht es das Hegemonialkartell noch vor, sein Powerplay über die Bande aufzuziehen. Die diplomatische Druckausübung auf das Assad-Regime erfolgt vor allem über die Arabische Liga. Das von den Ölscheichs beherrschte Gremium weiß sich mit dem Westen in der Absicht eins, dem Aufruhr in Nordafrika und Nahost die antiimperialistische Spitze zu brechen und die Kontrolle über die »arabische Straße« wiederherzustellen. Gegenüber den in den Fokus westlicher Umsturzabsichten geratenen Ländern Libyen und Syrien als Verfechter von Demokratie und Menschenrechten auftrumpfend, erhofft sich die arabische Reaktion, die Wut der eigenen Massen weiter auf Distanz halten zu können.

Der vom Baath-Regime angenommene Friedensplan der Arabischen Liga wäre nur unter der Voraussetzung einer zu Verhandlungen bereiten Opposition zu realisieren gewesen. Da deren Strategie aber darauf ausgerichtet ist, die Staatsmacht zu Gewaltmaßnahmen herauszufordern, waren das Scheitern des Plans und damit die Verschärfung des diplomatischen Drucks programmiert. Die Verhängung von wirtschaftlichen Sanktionen ergibt sich als nächster Schritt. In Wahrheit geht es der vom saudischen Königshaus und den ägyptischen Obristen dominierten Arabischen Liga um eine offene Einmischung in syrische Angelegenheiten. Wer solche »arabischen Brüder« hat, braucht keine Feinde mehr.

** Aus: junge Welt, 22. November 2011


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