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"Lasst uns zuerst dieses Regime loswerden"

Der syrische Publizist Michel Kilo zum Streit in der Opposition


Der internationale Syrien-Beauftragte Lakhdar Brahimi (Algerien) will seine schwierige Mission aufgeben. Dies sagten UN-Diplomaten in New York am Mittwoch gegenüber AFP. Die Bemühungen um ein Ende des blutigen Konflikts dürften sich damit weiter komplizieren.
Der 1940 in der syrischen Hafenstadt Latakia geborene Michel Kilo hat in der BRD Geschichte, Publizistik und Volkswirtschaft studiert. In Syrien war er mehrfach aus politischen Gründen inhaftiert. Seit Ende 2011 lebt er in Paris. Er gehört dem Syrischen Demokratischen Forum an, das im Februar 2012 gegründet wurde. Mit ihm sprach für "nd" Karin Leukefeld.


nd: Herr Kilo, wo steht die syrische Opposition heute?

Kilo: Im Allgemeinen sagen wir, alle Parteien der Opposition haben im Grunde genommen den gleichen Diskurs. In der Praxis gibt es große Unterschiede. Es gibt eine Opposition, die mehr für die Macht kämpft als gegen die Macht. Es gibt eine Opposition, die - wie ich hoffe - die Demokraten in Syrien repräsentiert, die sagt: Lasst uns zuerst dieses Regime loswerden und dann zusammenarbeiten. Dann könnten wir freie Wahlen machen und diejenigen, die diese Wahlen gewinnen, sollten eine Regierung bilden. Jetzt sollten wir einig sein, damit Syrien nicht verloren geht. Als demokratische Opposition verlangen wir die Erweiterung der (Nationalen) Koalition, um ein nationales Gleichgewicht herzustellen. Wir verlangen, dass ein Dokument zwischen uns und den Islamisten formuliert wird, in dem wir uns auf die Zusammenarbeit während einer Übergangsphase verpflichten.

Was ist mit bewaffneten Gruppen?

Es gibt die Freie Syrische Armee, die politisch unserer Meinung sehr nahe ist. Es existieren zwei große militärische Widerstandsformationen; einmal die legale Opposition, die Freie Syrische Armee und die Gruppen, die mit dieser Armee arbeiten, und zum anderen die so genannten »Integristen«, das sind die Leute, die einen islamischen Staat in Syrien bauen wollen.

Wer sind diese »Integristen«?

Radikale um die sogenannte Al-Nusra-Front. Wir hoffen aber, bald mit der Freien Syrischen Armee zusammenzukommen, um einen friedlichen, demokratischen Block von Islamisten, Demokraten, Laizisten und Soldaten gegen die »Integristen« und Radikalen zu bilden, um das Land irgendwie zu retten; und auch, um der Welt aus ihrer Verlegenheit herauszuhelfen.

Wenn Sie sagen, dass es eine Opposition gibt, die für die Macht eintritt, meinen Sie ...

Ich meine die Muslimbrüder. Die kämpfen jetzt vor allem um die Macht, und das ist unsere Hauptkritik an ihnen. Der Hauptwiderspruch sollte eigentlich mit dem Regime sein und nicht mit den anderen politischen Richtungen.

Spielt der Konfessionalismus innerhalb dieses Krieges eine Rolle?

Ja, es spielt eine Rolle, aber nicht in dem Sinne, in dem es verstanden wird in der internationalen öffentlichen Meinung. Es gibt keinen konfessionellen Bürgerkrieg. Es gab Ausschreitungen, ohne Frage. Aber es gibt keinen konfessionellen Krieg in Syrien. Es gibt keinen Syrer, der sein Dorf verlassen und ein anderes Dorf angegriffen hat, um Alawiten oder Christen oder Muslime zu töten. In der Gharb- Region leben bis heute Christen, Alawiten und Muslime zusammen.

Was für ein Krieg ist es dann?

Es ist viel schlimmer als der Bürgerkrieg. Es ist der Krieg einer bewaffneten, sehr straff organisierten Macht, mit einer überwältigenden Kraft und einer sehr großen, sehr gut gedrillten Armee gegen eine Bevölkerung, die am Anfang unbewaffnet war.

Stimmt dieses Bild angesichts von vielen Berichten über Waffenlieferungen an die Aufständischen? Dass es auf der einen Seite die gut ausgebildete syrische Armee gibt und auf der anderen Seite die Zivilbevölkerung, die versucht sich zu verteidigen?

Die Bewegung war friedlich, jetzt ist die Bewegung bewaffnet. Das muss man zugestehen.

Viele, die am Anfang auch protestiert haben, lehnen die Bewaffnung ab, auf beiden Seiten.

Die meisten Leute von Al-Nusra waren friedliche Demonstranten. Ich glaube auch, dass jetzt sehr viele Waffen ins Land hinein kommen, aber vergleichen Sie das mit ungefähr 100 000 Tonnen Munition, die auf die Bevölkerung abgefeuert worden sind. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gewaltsam das Regime gegen die syrische Bevölkerung immer noch vorgeht.

Deswegen gibt es ja auch viele Stimmen - in der Opposition, in der übrigen Bevölkerung - die sagen, militärisch ist dieses Regime nicht zu besiegen. Deswegen muss man nach einem friedlichen Weg suchen, verhandeln, einen Dialog führen.

Wenn wir das Regime nicht besiegen können, dann sollten wir verhindern, dass das Regime uns besiegt. Ich glaube, das ist die Situation in Syrien. Das Regime kann die Leute nicht besiegen. Können die Leute das Regime besiegen? Ich glaube doch, wenn es Waffen gibt. Aber es gibt nicht genügend Waffen. Deshalb sagen wir, dass wir eine Verhandlungslösung wollen. In Genf (Genfer Abkommen, K. L.) wurde beschlossen, dass der nächste Schritt in Syrien der Übergang zur Demokratie sein wird. Bitte sehr. Gebt uns Leute aus dem Regime, die damit einverstanden sind, dass Syrien im nächsten Schritt zur Demokratie geht, und wir sind bereit, mit ihnen zu verhandeln. Aber mit Baschar al-Assad zu verhandeln, der die Menschen tötet und bombardiert, weil sie Reformen verlangt haben, das ist vergeblich.

Die Führung in Damaskus hat eine Gruppe benannt, die für Verhandlungen bereit steht. Aber es gibt von Seiten der Opposition keine Antwort.

Das stimmt. Sie sollten eine Erklärung abgeben, in der sie sagen, wir akzeptieren den Übergang zur Demokratie, und wir sind bereit darüber zu verhandeln. Dann gehen wir morgen nach Damaskus.

Der bisherige Präsident der Nationalen Koalition, Mouaz al-Khatib, hat Gesprächsbereitschaft bekundet und wurde innerhalb der Koalition isoliert. Er ist nun zurückgetreten. Gibt es Kräfte in der Koalition, die Verhandlungen nicht wollen?

Mouaz al-Khatib hat eine sehr große internationale Unterstützung, und er hat eine überwältigende Unterstützung von der Bevölkerung. Er ist relativ isoliert innerhalb der Koalition, aber der Held der syrischen Bevölkerung.

Innerhalb der Nationalen Koalition hat er keine Mehrheit.

Er hat ungefähr 25 Mann hinter sich, fast 40 Prozent. Und er hat eine große Unterstützung innerhalb der Freien Syrischen Armee. In Wirklichkeit hat Mouaz al-Khatib Katar und die Türkei gegen sich. Ich sage es ganz offen. Aber er hat die Unterstützung von Amerika, von Frankreich, von Deutschland, von Großbritannien.

Es spielt sich sehr viel hinter verschlossenen Türen ab, die Entwicklungen sind für die Öffentlichkeit in Europa wie auch in Syrien nicht sichtbar. Das ist doch schwierig für eine Opposition, die Transparenz fordert.

Wissen Sie, das ist eine Krise, die so kompliziert ist, dass wir manchmal selber nicht verstehen, was geschieht. Und infolgedessen gibt es sehr viele Hände im Spiel, viele Interessen, viel Geld und viele Widersprüche. Es gibt Amerika, Russland, Iran, die Türkei, China, die Golfstaaten. Und dann die Parteien um Syrien herum, die Leute, die nach Syrien gekommen sind, um zu kämpfen. Das macht es sehr kompliziert.

Wird es bald Frieden geben?

Ich hoffe es. Es gibt in Syrien sehr viele Schwierigkeiten, und ich denke, dass es die auch nach Überwindung des Regimes geben wird. Eine Revolution zeigt den Beteiligten die eigenen Schwachpunkte und Mängel. Und diese Revolution hat uns gezeigt, dass wir sehr viele Schwachpunkte und Mängel haben: in unserer Gesellschaft, in unseren Beziehungen, in unserem Staat und unserem Denken. Wenn wir diese Schwachpunkte überwinden, können wir sagen, dass wir eine Revolution gemacht haben. Wenn es uns nicht gelingt, dann werden wir - ich weiß nicht wann - eine zweite Revolution machen.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 3. Mai 2013


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