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Die "Straße der Iraker" in Damaskus

Monat für Monat kommen 40.000 Flüchtlinge aus dem Zweistromland nach Syrien

Von Karin Leukefeld, Damskus *

In Sayed Zainab, einem Vorort der syrischen Hauptstadt Damaskus, gibt es bereits eine »Straße der Iraker«, in der viele Flüchtlinge aus dem Zweistromland leben. Und es werden immer mehr. 40 000 Iraker fliehen.

Monat für Monat nach Syrien.

»Gestern habe ich gehört, dass hier die UNO ist, da bin ich gleich hergekommen, um zu sehen, ob man mir helfen kann.« Der alte Herr in blauem Anzug trägt eine Dokumentenmappe unter dem Arm. Erst am Abend zuvor sei er aus Bagdad eingetroffen, erzählt er. 74 Jahre sei er alt, seinen Namen möchte er lieber nicht nennen. Auf die Frage, wo er in Bagdad gewohnt habe, meint er, das sei doch egal. »Bagdad ist Bagdad.« Das Leben dort sei unerträglich geworden. Um sich selber mache er sich keine Sorgen, er sei ein alter Mann. Aber seine Kinder! »Sie sind jung, für sie ist es eine Frage von Sein oder Nichtsein. Sie sollten Irak verlassen.« Für die nahe Zukunft gebe es keine Hoffnung für seine Heimat.

Ein Drohbrief trieb Halime in die Flucht

Noch vor Sonnenaufgang stehen die ersten irakischen Flüchtlinge vor dem Gebäude des UNFlüchtlingshilfswerks UNHCR in Damaskus. Die 39-jährige Halime as-Saedi hat als Journalistin beim Irakischen Mediennetzwerk gearbeitet. Vor einem Monat floh sie nach Damaskus. »Ich bin Schiitin und mein Mann ist Sunnit«, berichtet sie. »Wir lebten in der Haifa-Straße in Bagdad, bis eine Miliz, die Brigaden von Omar, unser Haus beschlagnahmte und mir diesen Drohbrief schickte.« Sie hält das Papier vor ihr Gesicht, aus Angst vor weiterer Verfolgung möchte sie nicht auf einer Fotografie erkannt werden. Zum Schutz ihrer Kinder habe sie beschlossen, ihre Arbeit aufzugeben und Irak zu verlassen, sie hoffe aber, das sei nur vorübergehend. »Unsere Zukunft liegt in Irak, auf jeden Fall«, sagt sie mit Nachdruck.

Eine andere Frau drängt nach vorn, um ihre Geschichte zu erzählen. »Vor drei Jahren«, so berichtet sie, »haben sie meinen Vater getötet und meinen Bruder entführt, meine Mutter landete verletzt im Krankenhaus.« Verzweifelt ringt sie die Hände, während sie nervös und zitternd in sorgfältig formulierten Sätzen auf Englisch ihr Leid klagt. »An wen sollen wir uns nur wenden, wer kann uns Irakern, Muslimen, Christen, uns allen helfen?« fragt sie. Die Regierung in Bagdad sei total vom Leben der Menschen abgehoben.

Die Journalistin gibt ihr Recht. »Früher«, so Halime, »war Irak wie ein Mosaik und hatte eine säkulare Regierung. Aber heute haben wir eine islamische Regierung, die den Menschen vorschreibt, wie sie denken sollen. Kein Iraker will diesen Konfessionsstreit, die Regierung ist dafür verantwortlich.« Und natürlich auch die USA und all die anderen Staaten, die die USA unterstützen. Die seien die Hauptverantwortlichen.

Im letzten Sommer ergab eine Befragung des UNHCR, dass 57 Prozent der irakischen Flüchtlingsfamilien Schiiten, 21 Prozent Sunniten und 20 Prozent Christen unterschiedlicher Bekenntnisse sind. Zwei Drittel begründeten ihre Flucht mit der mangelnden Sicherheit in Irak, mehr als die Hälfte stammt aus Bagdad und Umgebung. 69 Prozent der Befragten wollten nicht nach Irak zurückkehren. Etwa 40 000 Iraker haben in Damaskus den Antrag auf die Ausreise in ein anderes Land gestellt. »Warum gibt uns die Bundesregierung nicht die Möglichkeit, nach Deutschland einzuwandern?« möchte Kifah Abdulzahar wissen, die ebenfalls in der langen Warteschlange steht. Sie hat müde Augen, das Gesicht ist blass. Sie komme aus Saidiye, erst vor einem Monat sei sie geflohen, erzählt sie. Ihre Schwester habe 13 Jahre in Deutschland gelebt, gern würde sie dorthin gehen, aber es sei unmöglich, ein Einreisevisum zu bekommen. »Wenn uns die Deutschen schon nicht in ihr Land lassen«, findet sie »könnten sie doch wenigstens Geld geben, damit wir mit Essensrationen versorgt werden.«

Der größte Exodus in Nahost seit 1948

Einreisepapiere für ein europäisches Land, Kanada, die USA oder Australien stehen bei den Irakern ganz oben auf der Wunschliste. In Bagdad verdienen illegale »Auswanderungsmakler« ein Vermögen mit der Not der Menschen. Um Papiere für die skandinavischen Staaten, für Deutschland, Großbritannien oder Kanada zu erhalten, verkaufen Iraker Haus und Besitz und zahlen bis zu 25 000 US-Dollar pro Person. Eine Garantie, dass sie das so Ersehnte wirklich erhalten, gibt es nicht. Verlässlichen Zahlen über die irakischen Flüchtlinge besitzt das UNHCR nicht. Es sei die größte Fluchtbewegung im Nahen Osten seit der Vertreibung der Palästinenser 1948, heißt es lediglich. In Ägypten leben offiziell 80 000, in Libanon 40 000, in Jordanien 700 000 und in Syrien mehr als eine Million, doch inoffiziell dürften die Zahlen doppelt so hoch sein.

Syrien ist derzeit das einzige Land, das Irakern ungehindert Zugang gewährt. 40 000 von ihnen überqueren monatlich die Grenze, sagt das Flüchtlingshilfswerk Damaskus. Palästinenser, die in Irak ebenfalls verfolgt werden, lässt Syrien allerdings nicht mehr einreisen. In einem provisorischen Lager an der irakisch-syrischen Grenze leben gegenwärtig rund 180 palästinensische Flüchtlinge, die vom UNHCR mit dem Nötigsten versorgt werden.

Für irakische Flüchtlinge hingegen tue die syrische Regierung sehr viel, konstatiert der Niederländer Laurens Jolles, der UNHCR-Repräsentant in Damaskus ist. Die Kinder können in die Schule gehen, sie dürfen unbegrenzt bleiben, und wie die Syrer haben die Iraker Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung. Die ist allerdings nicht ganz kostenfrei, Operationen müssen bezahlt werden, es sei denn, das UNHCR übernimmt die Kosten.

Viele Iraker sind mit eigenem Vermögen eingereist, nur ein Bruchteil der Flüchtlinge hat sich beim UNHCR gemeldet. Was offiziell zwar vehement zurückgewiesen wird, ist im Gespräch mit Syrern allgegenwärtig: Die Flüchtlingsmassen werden ein Problem. Preise für Grundnahrungsmittel und Mieten sind in die Höhe geschossen, die Schulen sind zu klein, so dass der Unterricht schichtweise vormittags und nachmittags stattfinden muss, und Iraker drängen auf einen Arbeitsmarkt, der selbst für die Syrer nicht genügend hergibt. Oft gehen selbst Regierungsangestellte noch einem zweiten Job nach, um ihre Familie ernähren zu können.

»Bisher gab es noch keine Spannungen, aber in jedem Land, wo so viele Ausländer leben, besteht ein Konfliktpotenzial«, schätzt Laurens Jolles ein. »Wenn der Trend anhält und es keine zusätzliche Unterstützung gibt, um die Not der Menschen zu lindern, kann es sein, dass die syrische Regierung ihre großzügige Haltung nicht aufrechterhalten kann.«

Anfang Januar ging das UN-Flüchtlingshilfswerk in die Offensive und appellierte an die Mitgliedsländer, 60 Millionen US-Dollar zu spenden, um den irakischen Flüchtlingen weiterhin helfen zu können. Das Geld sei vor allem für den Bildungs- und den Gesundheitssektor gedacht, erklärt Laurens Jolles. Medikamente und weitere Ärzte würden ebenso gebraucht wie Geld für notwendige Operationen. Außerdem sollten größere Schulen gebaut und mehr Lehrer eingestellt werden. Manche der Flüchtlinge seien gar nicht mehr in der Lage, sich finanziell oder mental allein noch zu helfen, diese Menschen müssten versorgt werden.

»In der Bevölkerung kann man schon ein Murren über die vielen Flüchtlinge hören«, warnt der Holländer. Jeder habe irgendeine Geschichte über die Iraker zu erzählen. »Das ist einer der Gründe, warum wir den Flüchtlingen helfen müssen, so gut es geht. Es ist der einzige Weg, um Spannungen in der Zukunft zu verhindern.«

* Aus: Neues Deutschland, 31. Januar 2007


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