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Syrien steht vor neuen Bedrohungen

Louay Hussein: Die Europäer sollten in Bezug auf uns nicht ihre eigenen demokratischen Prinzipien verraten *


Louay Hussein gehörte früher einer kommunistischen Partei an, wurde als Student verhaftet und verbrachte sieben Jahre im Gefängnis. Im Juli 2011 gehörte er zu den Organisatoren einer großen Konferenz von Oppositionellen in Damaskus. Er gründete die Bewegung »Den Syrischen Staat aufbauen«, die heute in verschiedenen Teilen des Landes aktiv ist. Mit dem Schriftsteller Louay Hussei sprach in Damaskus Karin Leukefeld.


nd: Die Waffen sprechen, die Gewalt nimmt zu, sehen Sie noch eine politische Lösung?

Hussein: Beide Seiten versuchen, militärisch so viel Boden wie möglich zu erobern. Da es derzeit keine politische Lösung, keinen Kompromiss oder Gespräche gibt, wollen sie für sich sichern, was sie bei möglichen späteren Verhandlungen in die Waagschale werfen können. Ich sehe keine integrierte Komplettlösung, um unseren Konflikt zu beenden. Die Lage ist sehr komplex. Ich sehe verschiedene Ansätze und Wege, die auf eine Art Kompromiss zustreben.

Hat Ihre Bewegung einen Vorschlag, um den Konflikt zu lösen?

Wir haben tatsächlich zwei Aktionspläne vorgelegt, was nicht öffentlich gemacht wurde. Ein Plan konzentrierte sich auf einen Waffenstillstand zwischen den kämpfenden Parteien; der zweite darauf, den Kampf im ganzen Land zu beenden. Wir haben Kopien dieser zwei Aktionspläne an alle Beteiligten gegeben, auch das wurde nicht bekannt gemacht. Die Mission von UN-Vermittler Kofi Annan erhielt Kopien, ebenso die EU, die Russen und die anderen internationalen Akteure. Unser Plan beinhaltete lokale Waffenstillstände, also in bestimmten Gebieten und nicht landesweit. Dafür haben wir uns in den letzten Wochen sehr eingesetzt. Und er soll umgesetzt werden. Das haben Herr Annan und die syrische Regierung beschlossen.

Politisch versuchen wir, eine Grundlage zu schaffen, auf der eine Lösung aufgebaut werden kann. Es gibt eine Fülle internationaler Akteure, die unsere ursprünglich innersyrische Krise beeinflussen. Mit der syrischen Führung ist keine Lösung zu finden, wenn nicht die Meinung der Russen, der Amerikaner und einiger regionaler Staaten einbezogen wird. Der Schlüssel zur Lösung ist nicht mehr in der Hand der verschiedenen Akteure in Syrien.

Der Syrische Nationalrat stellt als Bedingung den Rücktritt von Präsident Baschar al-Assad. Tun Sie das auch?

Was wir in den letzten Monaten in Syrien gesehen haben ist, dass es neue Bedrohungen gibt, die mindestens ebenso gefährlich sind, als wenn das Regime an der Macht bliebe - ein Bürgerkrieg und die Gefahr einer Invasion, die letztlich den Syrern ihre Selbstbestimmung rauben würde. Sie (die Auslandsopposition - K.L.) sollte ihren Plan umfassender gestalten und sich nicht am Sturz des Regimes festbeißen. Es gibt andere Aspekte, die einbezogen werden müssen.

Es ist fast auf den Tag ein Jahr her, dass die historische Konferenz der syrischen Opposition im Semiramis-Hotel hier in Damaskus stattfand. Würden Sie sagen, dass sie ein Erfolg war? Oder hat die Opposition ihre Chance nicht genutzt?

Das Treffen war sicherlich ein Erfolg. Vier Jahrzehnte lang war der syrischen Opposition eine öffentliche Konferenz in Damaskus nicht möglich gewesen. Aber die Opposition hat so viele Fehler gemacht, ich werde sie jetzt nicht alle aufzählen. Als Mitglied der Opposition bin ich überzeugt, dass wir alle mitverantwortlich dafür sind, dass sich die Lage im Land so sehr verschlechtert hat. Wir sind mitverantwortlich für die Militarisierung und für die Gewalt, die sich über das ganze Land ausbreitet.

Eine harte Kritik.

Wir müssen zugeben, dass wir alle, die gesamte Opposition, versagt haben. Es ist uns nicht gelungen, den politischen Kampf friedlich zu halten, was er am Anfang war. Es ist uns nicht gelungen, Gewalt und Militarisierung zu verhindern. Ich rede über uns, nicht über das Regime.

Könnten die EU oder die deutsche Regierung eine andere Aufgabe übernehmen, als das, was sie im Moment tun?

Auf jeden Fall. Die EU als Ganzes und einige Staaten insbesondere, haben zur Eskalation hier beigetragen. Sie haben das, was hier geschieht, auf eine Ebene jenseits der politischen Auseinandersetzung gehoben, so wurde das Geschehen militarisiert und gewalttätig. Sie müssen ihr Verhalten ändern, insbesondere auf der diplomatischen Ebene, politisch, medial. Es geht hier um eine demokratische Veränderung in Syrien, also sollten sie ihre demokratischen Prinzipien nicht verraten. Und sie sollten das Geschehen nicht in eine Konfrontation mit Assad persönlich oder dem Regime umwandeln. Es geht hier um eine integrierte, demokratische Herangehensweise.

Was werfen Sie der EU vor?

Es gibt Berichte, dass europäische Staaten und die USA die Opposition mit Waffen ausrüsten und sie ausbilden. Sie haben nicht einmal die Erklärung der Golfstaaten verurteilt, die ganz offen der »Freien Syrischen Armee« Waffen liefern. Und sie sollen die ökonomischen Sanktionen gegen unser Land einstellen. Sie richten einen kollektiven Schaden an, alle Syrer sind wirtschaftlich erschöpft. Wenn sie Sanktionen verhängen, sollen sie diese gegen Einzelpersonen aus dem Regime verhängen, nicht gegen das syrische Volk.

Ich sprach kürzlich mit einem Offiziellen der EU in Brüssel über das Kochgas. Er sagte, man erlaube einigen Firmen, Kochgas nach Syrien zu exportieren. Das ist unwahr, denn keine Firma wagt es, Kochgas nach Syrien zu liefern, aus Angst, von den USA mit finanziellen Sanktionen dafür bestraft zu werden. Mir ist das egal. Ich will Kochgas in meiner Küche, damit ich für mich und meine Familie Essen kochen kann. So einfach ist das. Und wenn sie den Syrern helfen wollen, sollen sie ihre Botschafter zurückschicken. Sie sollten sich nicht in diesen persönlichen Konflikt mit Assad als Person verwickeln, sondern dem syrischen Volk helfen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. Juli 2012


Eiskalte Drohung oder heiße Luft?

Syrien: Spekulationen um Einsatz von C-Waffen / EU verschärft Sanktionen

Von Ingolf Bossenz **


Während die Nachrichtenkanäle mit Chemiewaffen-Spekulationen gespeist werden, setzt die EU bereits auf die Zeit nach Assad.

Bis auf 41 Grad soll die Temperatur heute in Damaskus steigen. Fast scheint es, als wolle das meteorologische mit dem politischen Klima in der syrischen Hauptstadt gleichziehen.

Die heißeste Nachricht des Montags kam aus dem Damaszener Außenministerium. Im Fall eines »ausländischen Angriffs«, so verkündete laut AFP ein Sprecher, werde Syriens Führung Chemiewaffen einsetzen. Bei dpa las sich die Nachricht indes weniger martialisch: Demzufolge wolle das Regime seine chemischen und biologischen Waffen nicht gegen die Aufständischen im Bürgerkrieg einsetzen. Die Kampfstoffe seien nur dazu entwickelt worden, um das Land im Falle eines Angriffs von außen verteidigen zu können, wurde Außenamtssprecher Dschihad al-Makdissi zitiert. Von einer direkten Drohung war nicht die Rede.

Unterdessen erweiterten die EU-Außenminister die Sanktionen gegen Damaskus: Die Chefdiplomaten setzten 26 weitere Personen und drei Unternehmen auf ihren Strafzettel. Auf der schwarzen Liste der EU stehen mit dem jüngsten Beschluss 155 Personen und 52 Organisationen oder Unternehmen. Die neue, eher symbolische Strafmaßnahme zeugt von der Unsicherheit, mit der Europas Politiker der weiteren Entwicklung in dem arabischen Land entgegensehen. Präsident Baschar al-Assads Regime werde zwar stürzen, erklärte Schwedens Außenminister Carl Bildt. »Aber es wird Syrien in einer sehr schwierigen Lage zurücklassen.« Deshalb müsse sich Europa nun auf diesen Zeitpunkt vorbereiten. Eine Aussage, die angesichts der Unwägbarkeiten wie das berühmte Pfeifen im Walde klingt.

Was sich mit Sicherheit voraussagen und bereits jetzt beobachten lässt, ist das unablässige Anwachsen der Flüchtlingsströme in Syrien und aus dem Land heraus. Deshalb hat die EU ihre Notfallhilfe nun auch erneut aufgestockt. So stellt Brüssel 20 Millionen Euro zusätzlich bereit, um Not leidende Menschen in Syrien und Flüchtlinge außerhalb des Landes mit Unterkünften, medizinischer Hilfe, Lebensmitteln und Wasser zu versorgen. Das teilte Kommissarin Kristalina Georgieva mit. Die Gesamthilfe der Kommission belaufe sich auf 63 Millionen Euro.

Auch die EU-Justiz- und Innenminister zeigten sich besorgt über die Lage in Syrien. Bei einem Treffen in Nikosia hieß es, für die 200 000 westlichen Ausländer in der Region stehe ein Rettungsplan bereit.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. Juli 2012


Märkte wieder offen

Syrische Hauptstadt versucht, zum Alltag zurückzufinden

Von Karin Leukefeld, Damaskus ***


Syrien wird nie und unter keinen Umständen Chemiewaffen oder andere unkonventionelle Waffen gegen die eigene Bevölkerung und Zivilisten einsetzen.« Das Außenministerium habe dies in einem Brief an die Vereinten Nationen, Israel und die USA deutlich gemacht, erklärte Jihad Makdessi, Sprecher des syrischen Außenministeriums am Montag in Damaskus. Syrien befinde sich »im Krieg, aber nicht gegen Zivilisten«, so Makdessi. Das Land wehre sich gegen eine Kampagne »die von Washington und seinen Verbündeten geführt« werde, doch sei man in der Lage, sich zu verteidigen. Alle Waffen seien unter Kontrolle der Armee, fügte Makdessi hinzu. Sie könnten ausschließlich im Falle einer ausländischen Aggression zum Einsatz kommen, darüber entscheide der Generalstab.

Das syrische Außenministerium reagierte damit auf Berichte über den möglichen Einsatz von Chemiewaffen durch die syrische Armee. Darüber hatten ehemalige syrische Politiker und Militärs in internationalen Medien spekuliert. Die israelische Regierung hatte daraufhin laut über einen möglichen Militärschlag gegen Syrien nachgedacht, um die Waffen »zu sichern«. Westliche Medien und Politiker behaupteten zudem, daß die Hisbollah sich dieser Waffen bemächtigen könnte, andere warnten davor, daß die auf Seiten bewaffneter Aufständischer eingesetzten Al-Qaida Gruppen die Waffen übernehmen würden.

Nach einem massiven Einsatz von Armee und Sicherheitskräften gegen bewaffnete Gruppen und deren Unterstützer am Sonntag, versuchte die syrische Hauptstadt am Montag, zum Alltag zurückzufinden. Geschäfte und Märkte waren weitgehend geöffnet, auch wenn die übliche Betriebsamkeit der Stadt noch nicht wieder hergestellt ist. Engpässe für Benzin schienen weitgehend beseitigt, schwer ist es weiterhin, Diesel und Heizöl zu bekommen. Der Großmarkt im Osten der Stadt wurde wieder eröffnet und konnte – anders als in den Tagen zuvor – die Geschäfte fast wieder normal beliefern. Um Mitternacht waren im Umland mindestens vier schwere Detonationen zu hören, deren Ursache unklar blieb. Am Montag morgen gab es erstmals seit Tagen wieder längere Stromausfälle sowohl im Zentrum als auch in den Vororten von Damaskus.

In Rukn Eddin (Ostdamaskus) und Mezzeh (Westdamaskus) war die Armee am Sonntag gegen bewaffnete Aufständische vorgegangen, die aus dem Grüngürtel, Al-Ghota, operieren, der häufig direkt bis in dicht besiedelte Wohnviertel hineinreicht. Im syrischen Fernsehen wurden große Mengen Waffen und Festnahmen gezeigt. Anwohner berichteten von schweren Zerstörungen durch den Einsatz von Soldaten und Panzern, Nach offiziellen Angaben wurden »Dutzende Terroristen« getötet. Bei den Militär-operationen in den vergangenen Tagen in verschiedenen Vororten von Damaskus wurden bewaffnete Kämpfer aus Tunesien, Libyen, Jordanien und Ägypten getötet. Syrische Medien zeigten die Ausweispapiere, die bei den Männern gefunden worden waren.

Die Syrien-Kommission der Arabischen Liga rief bei ihrem Treffen am Montag in Doha (Katar) den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad zum Rücktritt auf, um die Kämpfe zu beenden. Der Leiter der Gruppe, der katarische Ministerpräsident und Außenminister Scheich Hamad bin Khalifa Al-Thani bot Assad freies Geleit an und rief die »Opposition und die Freie Syrische Armee« (FSA) auf, eine »Regierung der nationalen Einheit« zu bilden. Katar und Saudi-Arabien unterstützen finanziell und militärisch den Syrischen Nationalrat und bewaffnete Gruppen in Syrien. Der syrische Außenamtssprecher Makdessi kommentierte den Aufruf mit den Worten, daß »die Zukunft von Präsident Baschar Al-Assad allein vom syrischen Volk entschieden« werde.

Die EU hat am Montag zum 17. Mal ihre Sanktionen gegen Syrien verschärft. Alle EU-Länder wurden verpflichtet, verdächtige Schiffe in ihren Hoheitsgewässern zu kontrollieren. Die Außenminister setzten zudem 26 weitere »Regime-Unterstützer« sowie drei weitere Unternehmen auf ihre Liste.

Der syrische Oppositionspolitiker Louay Hussein von der »Bewegung für den Aufbau des syrischen Staates« kritisierte im jW-Gespräch in Damaskus die Haltung der Europäischen Union. Die Sanktionen hätten das Leben einfacher Syrer unerträglich verschlechtert. Es fehle an Kochgas, Diesel und Heizöl, davon sei jede einzelne Familie betroffen. Hussein forderte die EU auf, ihre Botschafter nach Syrien zurückzuschicken, wenn sie wirklich einen politischen Übergang und ein Ende der Gewalt in Syrien unterstützen wollten.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 24. Juli 2012


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