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Die Turmuhr zeigt kurz vor zwölf

Ein Tag im umkämpften Homs

Von Karin Leukefeld, Homs *

Homs gilt als Zentrum der Kämpfe zwischen syrischer Armee und bewaffneten Gegnern von Präsident Assad. Das syrische Informationsministerium organisierte vergangene Woche eine Journalistenreise in die drittgrößte Stadt Syriens.

Es regnet in Homs. Einige Bauern trotzen Wind und Wetter und stapfen durch ihre kleinen Felder am Rande der Stadt. Um sie herum grasen Ziegen und Schafe mit zotteligem Winterfell, der Wind wirbelt schwarze Vogelschwärme aus den Wolken.

Die Schnellstraße von Nordwesten in die Stadt ist wenig befahren. Der Bus verlangsamt seine Fahrt und stoppt an einem militärischen Kontrollpunkt. Es ist der erste Kontrollpunkt, seit der Bus mit der Gruppe Journalisten Damaskus in den Morgenstunden verlassen hat. Verwundert blicken die Soldaten zu den Fenstern empor, während das schwere Fahrzeug langsam an ihnen vorbei fährt. Manche tragen helle, beigefarbene Mäntel als Schutz vor Regen und Wind, nicht alle sind bewaffnet. Verfroren und müde starren sie in die Kameras, die aus dem Innern des Busses auf sie gerichtet sind.

Die Gruppe müsse unbedingt zusammenbleiben, sagt einer der Begleiter vom Informationsministerium über Mikrofon, die Sicherheitslage in der Stadt sei angespannt. »Stadtviertel wie Baba Amro oder Khaldiye können nicht besucht werden.« Mehrere Wohnviertel würden von bewaffneten Gruppen und Regierungsgegnern kontrolliert, zwischen ihnen und der syrischen Armee bestehe eine Pattsituation.

»Märtyrermarsch« für getötete Soldaten

»Wer ohne unsere Begleitung nach Homs oder in andere Teile des Landes fahren will, kann das ab morgen tun«, schließt der Begleiter seine Durchsage. »Wir bitten Sie dann, eine entsprechende Erklärung beim Informationsministerium zu unterschreiben. Heute müssen wir darauf bestehen, dass alle zusammenbleiben.«

Vor der Leichenhalle des Nationalen Militärkrankenhauses haben sich Soldaten, medizinisches Personal und Angehörige versammelt, um drei Toten - zwei Soldaten, einem Polizisten - das letzte Geleit zu geben. Elf Menschen waren am Tag zuvor durch einen Mörserangriff bewaffneter Gruppen auf einen Kleinbus ums Leben gekommen, das Fahrzeug brannte völlig aus. Der Anschlag ereignete sich auf der Straße des 16. Oktober, einer großen Nord-Süd-Verbindung mitten durch Homs.

Drei Särge stehen am Boden, davor jeweils Uniformierte mit einem Kranz. Ein Kommando ertönt, die Särge werden angehoben, eine kleine Kapelle intoniert den »Märtyrermarsch«, ein Trompeter spielt das letzte »Lebewohl«. Die Frauen trällern zum Abschied, eine Mutter weint laut auf und ist kaum zu beruhigen. Langsam setzt sich der kleine Zug in Bewegung. Die Särge werden in bereitstehende Kleinbusse geladen, jeder wird in sein Heimatdorf gebracht, um dort beerdigt zu werden.

Kurz darauf liegt der Platz wie verlassen. Einsam hängt das große Bild von Präsident Baschar al-Assad über dem Eingang der Leichenhalle, eingerahmt von syrischen Nationalflaggen mit den Symbolen des Staates und der Armee. Seitlich führt eine Tür zu dem Raum, in dem die Leichen gewaschen werden. Schüchtern blicken drei junge Männer heraus, aus dem Raum strömt starker, süßlicher Geruch. Auf dem Boden liegen große schwarze Plastiksäcke, darin die gänzlich verbrannten Überreste vier weiterer Menschen, die bei dem Anschlag am Vortag getötet worden waren.

Im Krankenhaus führt man uns zu einem Überlebenden des Angriffs, dem Soldaten Jamal Mustafa aus Homs. Nur sein Gesicht und seine Handflächen sind zu sehen, sein verbrannter Körper ist vollständig verbunden. In Sekundenschnelle umstellen die Kameras von ARD, BBC, CNN und anderen das Bett des Mannes, zur Seite gedrängt wird auch Ghassan al-Asa’ad, ein Cousin des Verletzten.

»Unser Leben hier ist reiner Terror«

»Ich habe eine Botschaft an die ganze Welt«, sagt der Mann mit tränenerstickter Stimme abseits des Getümmels: »Ohne Baschar al-Assad wird es keine Freiheit für Syrien geben. Und ohne die syrische Armee werden wir keine Sicherheit haben.« Die Herzen aller Syrer seien gebrochen, sagt der Mann und ringt nach Worten. »Ich frage Obama, Sarkozy, Hamad (den Emir von Katar - K. F): Warum geschieht das alles hier? Warum? Syrien ist unser Land!«

Wie viele Syrer wirft auch dieser Mann den USA, Frankreich und Katar vor, bewaffnete Gruppen in Syrien finanziell zu unterstützen und von einer Verhandlungslösung abzuhalten.

Vor dem Eingang zum Operationsraum wartet der 31-jährige Fahdi Tomeh. Am Morgen hat er seinen verletzten Nachbarn gebracht, nachdem Soldaten einen Versuch zur Entführung des Mannes verhindert hatten. Die Ärmel seines Pullovers sind blutgetränkt. Die Hauptstraße, die an ihrem Viertel Bab Tadmur vorbeiführe, sei »sehr gefährlich«, berichtet Tomeh. An der Universität von Homs habe er Journalistik und Medienwissenschaften studiert, Arbeit habe er nicht. »Bewaffnete schießen auf uns, wenn wir die Straße überqueren wollen, unser Leben hier ist reiner Terror.« Niemand wisse, wer sich hinter den Masken verstecke, rund um die Uhr schüchterten sie die Bewohner ein. Alle Syrer wollten wirtschaftliche und politische Veränderungen im Land, doch mit Demokratie und Freiheit habe das nichts mehr zu tun, sagt er. »Das erste, was sich ändern muss, ist diese unerträgliche Situation.« Nach seiner Meinung müsste die Armee härter gegen die bewaffneten Gruppen durchgreifen.

Die Fahrt geht weiter. Zugänge zu offiziell aussehenden Gebäuden sind mit hoch aufgestapelten Sandsäcken und Panzersperren verbarrikadiert, dahinter stehen Soldaten mit Schutzhelmen. Auf der berühmten Turmuhr am Uhrenplatz im Zentrum der Stadt stehen die Zeiger kurz vor zwölf. Jeden Freitag versammeln sich hier viele Demonstranten gegen die Regierung, für die Oppositionellen in Homs ist der Platz zum Symbol der »syrischen Revolution« geworden.

Hinter der Dalati-Moschee beginnt das Stadtviertel Al-Hamidiye. Der mächtige Journalistenbus behindert den Verkehr erheblich, als er mitten auf der zentralen Hamidiye-Straße stehen bleibt, die quer durch das Viertel zum Tadmur-Tor führt. An den Seitenstraßen wachen Soldaten hinter aufgetürmten Sandsäcken. Andere regeln den Verkehr.

Die Botschaft der Maskierten

Die Fernsehteams und Agenturfotografen haben ihre schusssicheren Westen angelegt, Schutzhelme aufgesetzt und schwärmen in die Seitenstraßen aus. Ununterbrochen ist Gewehrfeuer zu hören.

Der 21-jährige Bahidsch Massour hat demonstrativ das bunte Kragenfutter seiner Winterjacke nach außen gekehrt und ein goldenes Kreuz angeheftet. Mit einer Plastiktüte voll Bücher ist er auf dem Weg zu einem Freund, um sich auf die bevorstehenden Universitätsprüfungen vorzubereiten. Er studiere im vierten Semester Tourismus, sagt Massour. Als er erfährt, dass er mit einer deutschen Journalistin spricht, fügt er langsam in Deutsch hinzu: »Guten Tag, wie geht es Ihnen? Ich spreche nicht viel Deutsch.« Auf dem Heimweg von der Universität sei er schon mehrfach bedroht worden, erzählt er. Man habe ihn aufgefordert, sich den Protesten anzuschließen, sonst ergehe es ihm schlecht. Wer diese Männer seien, wisse er nicht, sie hätten immer Masken getragen. »Es sind vermutlich arme Männer, die diesen Aufstand machen«, sagt Massour. Er selbst stehe auf keiner Seite. Viele hätten schlechte Erfahrungen mit dem Regime gemacht, und sicherlich seien ihre Forderungen gerecht. Das werde von interessierter Seite im Ausland ausgenutzt. »Doch wir leben im 21. Jahrhundert, Menschen sind auf den Mond geflogen! Wir haben gelernt, unsere Konflikte friedlich, im Dialog und durch Verhandlungen zu lösen.«

Das Gewehrfeuer wird lauter. Gegen 15.00 Uhr beginnen oft heftige Kämpfe in Homs, sagen die offiziellen Begleiter, Zeit zur Rückfahrt. Am Uhrenplatz hält der Bus noch einmal für einen Fototermin. Ein großer Mann am Straßenrand hebt zu einer lauten Rede an, als er bemerkt, dass er von vielen Journalisten umgeben ist. »Wir haben kein Leben hier«, ruft er laut in Mikrofone und Kameras, die sich ihm entgegenstrecken. »Ich bin 60 Jahre alt, und mein Leben ist nichts!« Die Journalisten sollten nach Baba Amro oder Khaldiye fahren, setzt er auf Arabisch fort, »überall wird getötet.« Als einige Journalisten ihn fragen, was in Syrien geschehe, überschlägt sich seine Stimme: »Was fragen Sie mich? Fragen Sie den Präsidenten, was in Syrien geschieht!« Andere Männer kommen hinzu. Vor Kameras und Mikrofonen entsteht ein heftiger Streit. Schließlich löst sich die Menge auf. Die Männer verschwinden in einem Café, die Journalisten verlassen die Stadt Richtung Damaskus. Der Zeiger auf der Turmuhr steht noch immer kurz vor zwölf.

* Aus: neues deutschland, 30. Januar 2012


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