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Der traurigste Tag in Ali Borays Leben

Seit 41 Jahren sind die syrischen Golan-Höhen israelisch besetzt

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

»Seit der Generation meiner Großväter lebte unsere Familie auf den Golan-Höhen in Beer-Ajam, einem kleinen Dorf, ungefähr hier.« Ali Boray (78) beugt sich über die Karte und sucht nach seinem Heimatort nördlich von Kuneitra.

Die Familie Boray kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Syrien, als viele Tscherkessen im Zuge der Expansion des russischen Zarenreiches ihre kaukasische Heimat verließen und in den südlichen Provinzen des Osmanischen Reiches, in Syrien oder Palästina Schutz fanden. Borays Vorfahren arbeiteten noch als Bauern, die nächste Generation besuchte die Schule, manche siedelten nach Damaskus über. In der Zeit der französischen Besatzung (1919-1945) verdingten sich etliche Tscherkessen als Soldaten in der französischen Armee, andere gingen zur Polizei oder eröffneten Geschäfte in der Hauptstadt.

Die Familie saß beim Abendessen

»Das Klima auf den Golan-Höhen war ähnlich wie in unserer kaukasischen Heimat«, sagt Ali Boray, schwerer Schneefall im Winter, viel Regen und warme Sommer. Der Golan sei für die Tscherkessen eine ideale neue Heimat gewesen. Boray selber lernte als Kind Arabisch und Französisch, später besuchte er die Universität. Nach dem Abzug der Franzosen sei es auf dem Golan friedlich und normal gewesen. Die Familien arbeiteten, um das Beste für ihre Kinder zu erreichen.

Am 5. Juni 1967 änderte sich sein Leben schlagartig, erinnert sich der alte Mann, der heute in Damaskus ein kleines Hotel führt. »Unsere Familie war beim Abendessen versammelt, als wir im Radio hörten, dass es Kämpfe zwischen syrischen und israelischen Soldaten gab. Am nächsten Tag zogen Soldaten durch unser Dorf nach Süden. Uns befahl man, nachts kein Licht anzumachen und in den Häusern zu bleiben. Alle hatten Angst.«

Einige Familien flohen nach Damaskus. Doch die meisten Männer blieben, um Haus und Hof zu verteidigen. Auch Ali Boray, damals 37 Jahre alt, blieb mit anderen Männern im Dorf. Ohne Waffen allerdings waren sie chancenlos. Am Nachmittag des 9. Juni stand die israelische Armee kurz vor Kuneitra und für Ali Boray brach der »traurigste und schlimmste Tag« seines Lebens an.

Die Soldaten gaben den Einwohnern nur wenig Zeit, ihre Häuser zu verlassen. »Es war Krieg, wir hatten keine Chance, es ging um Leben und Tod.« Die Flüchtlinge von den Golan-Höhen lebten zunächst in Schulen und Moscheen in und um Damaskus. Andere fanden bei Freunden und Verwandten Zuflucht. Später stellte die Regierung Wohnungen und Häuser zur Verfügung, bis heute werden die Golan-Flüchtlinge von Syriens Regierung unterstützt.

Nabil Mokaow war 15 Jahre alt, als seine Familie aus Kuneitra vertrieben wurde. Heute arbeitet der 56-Jährige im syrischen Landwirtschaftsministerium und betreut staatliche Agrarprojekte auf dem Golan östlich von Kuneitra. Auch seine Vorfahren stammen aus dem Kaukasus, erzählt Mokaow. »15 Prozent der Leute auf den Golan-Höhen waren Tscherkessen, die anderen waren Beduinen, Christen, Drusen, Turkmenen. Wir lebten wie eine große Familie, bevor die Israelis kamen.«

Auch Mokaow schwärmt vom Golan-Klima: »Saubere Luft, sauberes Wasser«, das im Frühjahr Bäche, Flüsse und Seen füllt. Im Norden rage der Berg Hermon fast 3000 Meter in die Höhe, erklärt Mokaow. Wegen der immer weißen Haube auf der Bergspitze, die aussieht wie ein weißes Tuch, das von (religiösen) Scheichs getragen wird, nennen ihn die Leute vom Golan auch den »Berg des Scheichs«.

Die Golan-Höhen, die sich über insgesamt 1860 Quadratkilometer Fläche erstrecken, waren stets von strategischer Bedeutung, erklärt Mohammad Ali vom Pressebüro in Kuneitra. »Der Golan ist die Brücke von Syrien nach Libanon, nach Palästina und Jordanien. Klima und Vegetation sind einzigartig, wegen der hohen Niederschlagsmenge ist der Boden sehr fruchtbar.« 1967 lebten nach seinen Angaben 153 000 Menschen auf dem Golan, 130 000 von ihnen wurden durch den israelischen Expansionskrieg 1967 vertrieben.

7000 syrische Drusen blieben damals im besetzten Gebiet, in sechs Dörfern im Norden. Doch 1971 wurden die Bewohner des Dorfes Sukhatah zwangsumgesiedelt, an Stelle ihres Dorfes wurde eine Militärbasis errichtet. Insgesamt 244 Städte und Ansiedlungen, auch historische Ausgrabungsstätten auf den Golan-Höhen wurden von den israelischen Truppen zerstört. Stattdessen entstanden israelische Siedlungen mit ausgedehnter Landwirtschaft und Militärstützpunkten.

Die Verteilung des Wassers vom Golan gilt als eine weitere Ungerechtigkeit, die nicht nur Syrien trifft, sondern – bis auf Israel – alle Anrainer des Jordanbeckens: Jordanien, Libanon und das palästinensische Westjordanland. Während aus Syrien jährlich 435 Millionen Kubikmeter Regen-, Schmelz- und Flusswasser ins Jordanbecken fließen, erhält das Land daraus heute lediglich 260 Millionen Kubikmeter Wasser. Israel dagegen zweigt für sich jedes Jahr 700 Millionen Kubikmeter ab, obwohl sein Anteil am Zufluss nur 160 Millionen Kubikmeter ausmacht.

Die in den besetzten Golan-Gebieten verbliebene syrisch-drusische Dorfbevölkerung verdient ihren Lebensunterhalt nach wie vor durch Landwirtschaft und Obstanbau. Seit 2004 werden Äpfel aus den besetzten Gebieten mit praktischer Unterstützung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), sogar nach Syrien geliefert. Sechs Monate lang hatte das IKRK zwischen beiden Staaten vermittelt.

Israel wollte die Verpackung der Äpfel mit einem Stempel »Made in Israel« markieren, Syrien lehnte das ab. Man einigte sich schließlich auf weiße, nicht beschriftete Kartons, die vom IKRK gestellt werden. Auch sechs Lastwagen mit Genfer UN-Nummernschildern stellte das IKRK zur Verfügung. Die extra aus Kenia eingeflogenen Fahrer transportieren die Äpfel über etwa 300 Meter »Niemandsland« zwischen dem israelischen und dem syrischen Kontrollposten. Dort wird die Fracht auf syrische Fahrzeuge verladen. Doch der Aufwand lohnt sich. 2007 wurden im Erntezeitraum von sechs Wochen 7000 Tonnen Äpfel von den besetzten Golan-Höhen nach Syrien gebracht.

1973 hatten die syrischen Truppen vorübergehend etwa 600 Quadratkilometer des besetzten Gebiets zurückerobert, darunter die Provinzstadt Kuneitra. Nachdem das Gelände im weiteren Verlauf der Kämpfe wieder aufgegeben werden musste, schlossen Israel und Syrien ein Waffenstillstandsabkommen. Eingerichtet wurde eine Pufferzone unter UN-Kontrolle. 1974 zogen Israels Truppen aus Kuneitra ab. Zurück blieb eine Trümmerwüste: Alle Gebäude, auch Kirchen und Moscheen, das Krankenhaus und die Grundschule waren Ruinen.

Ein Mahnmal: das zerstörte Kuneitra

So bietet sich die Stadt dem Besucher bis heute. Bis zum endgültigen Rückzug der Israelis vom Golan soll Kuneitra ein Mahnmal bleiben. Obwohl die tote Stadt nahezu täglich von Schulklassen und Familien, ausländischen Delegationen, Touristen und Journalisten besucht wird, deutet nichts darauf hin, dass den Vertriebenen Gerechtigkeit widerfährt.

Nur drei Tage nach der Annexion der Golan-Höhen durch Israel am 14. Dezember 1981 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 497, in der die Annexion als völkerrechtswidrig und illegal verurteilt wird. Doch Israel ignoriere diese Resolution ebenso wie die Beschlüsse, die die Besetzung des Westjordanlands und der libanesischen Scheeba-Höfe nördlich des Golan für illegal erklären, klagt Mohammad Ali in Kuneitra. Man hoffe dennoch auf einen Frieden mit Israel, denn ohne Frieden gebe es für niemanden in der Region Sicherheit, Fortschritt und Entwicklung.

Nabil Mokaow, der 1967 aus Kuneitra vertrieben wurde, glaubt indes nicht, dass Israel zum Frieden bereit ist und den Golan zurückgeben wird. Den Verhandlungen, die im Mai dieses Jahres wieder aufgenommen wurden, traut er nicht: »Es gibt keine Gleichberechtigung zwischen Syrien und Israel, das vom Westen mit Waffen und Geld ausgerüstet wird.« Niemand im Westen schere sich um die UN-Resolutionen, die die israelische Besatzung als illegal verurteilen, sagt er aufgebracht, »wie kann es da Frieden geben?«

* Aus: Neues Deutschland, 14. November 2008


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