Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tummelplatz für Geheimoperationen

Für die gezielten Tötungen in Syrien kommen nicht allein die Sicherheitskräfte in Frage

Von Karin Leukefeld *

Dschisr al-Schughur, Hama, Homs, Deir El-Zor, Latakia – das sind syrische Städte, in denen sich nach offizieller Darstellung »bewaffnete terroristische Gruppen« Kämpfe mit Armee und Sicherheitskräften liefern. Westliche Medien ignorieren diese Darstellung weitgehend ebenso wie Meldungen von großen Waffenfunden, die in den letzten Wochen immer wieder von Damaskus bekannt gegeben wurden.

Westliche Medien folgen fast ausschließlich Berichten von Oppositionellen, die – oft unterlegt mit Videoaufnahmen unklarer Herkunft – erklären, alle staatlichen Einsätze der syrischen Regierung richteten sich »gegen die friedliche Protestbewegung«. Tatsächlich wurden in den vergangenen Wochen Hunderte Menschen festgenommen, weil man sie zu den Organisatoren der Proteste zählte, bei ihnen Waffen vermutete oder fand. Geheimdienstkräfte bedrohen und schüchtern die Protestbewegung ein, die Zahl der gezielten Ermordungen durch Scharfschützen hat in den letzten Tagen zugenommen.

Doch ein differenzierter Blick ist angeraten, sagt Samir Aita, Chefredakteur der arabischen Ausgabe von »Le Monde Diplomatique« im Gespräch mit der Autorin. Aita ist ein scharfer Kritiker des syrischen Regimes und führt die Unruhen vor allem auf ein wirtschaftliches Versagen und auf politische Fehler von Präsident Baschar el-Assad zurück. Gleichzeitig zeigt er auf, dass es viele Strömungen in der Protestbewegung gibt, unterschiedliche Ziele, keine Führung und keine Perspektive.

»Um der Wahrheit willen muss man sagen, ja, es gibt bewaffnete Gruppen«, meint Aita. In manchen Gegenden gebe es historisch bedingten Hass auf das Regime, wie in Dschisr al-Schugur und in Hama, wo man die blutige Niederschlagung des Aufstandes der Muslim-Bruderschaft (1979-1982) nicht vergessen habe. Entlang den Grenzen zu Irak, Libanon und der Türkei seien Gruppen mit Waffen versorgt worden, um gegen den Staat zu kämpfen. »99 Prozent der Aufstandsbewegung sind mutig, friedlich und voller Humor«, so Aita, der die Zahl der bewaffneten Gruppen als »klein« einschätzt. Doch »natürlich gibt es Leute die wollen, dass Syrien in einem Religionskrieg versinkt.«

Das militärische Vorgehen in dem palästinensischen Flüchtlingslager Al-Ramle al-Janoubi in Latakia wird von offizieller Seite mit Angriffen der islamistischen Gruppe Jund al-Scham begründet. Erstmals hörte man von dieser Gruppe 1999 in Afghanistan, eine Gruppe gleichen Namens tauchte auch in palästinensischen Flüchtlingslagern in Libanon auf und war 2007 dort an den Kämpfen mit der libanesischen Armee beteiligt. Kämpfer von Jund sollen sich später in das Flüchtlingslager in Latakia abgesetzt haben. Syrien ist in den letzten Jahren wiederholt gegen vermutliche Mitglieder von Jund vorgegangen.

Die Küstenregion gilt als Schmuggler»pfad«, auf dem seit Jahrzehnten Waren aller Art zwischen der Türkei, Syrien, Libanon, Jordanien und Saudi-Arabien verschoben werden. Viele haben hier viel Geld verdient, Syrer wie Nicht-Syrer.

Auf einen anderen Aspekt – den der »bewaffneten Gruppen« in Syrien verweist die kanadische Internetplattform »Global Research« (www.globalresearch.ca) und bringt einen alten Pentagonplan zur Destabilisierung von Staaten in Erinnerung. Die so genannte »Salvador Option« wurde in den 80er Jahren in Lateinamerika vom US-Botschafter in Honduras, John Negroponte, eingeführt, der seit dem Vietnamkrieg auf den Einsatz von Todesschwadronen setzt. Nachdem Negroponte 2004/05 US-Botschafter in Bagdad wurde, tauchten auch dort Todesschwadronen auf, die für Entführungen und gezielte Morde verantwortlich gemacht werden. Keines dieser Verbrechen wurde aufgeklärt. Mitarbeiter von Negroponte in der Botschaft in Bagdad sei damals Robert S. Ford gewesen, der heutige US-Botschafter in Damaskus.

* Aus: Neues Deutschland, 19. August 2011

Russland lehnt Rücktrittsforderungen an Assad ab

dapd meldete am 19. August, dass Russland internationale Forderungen nach einem Rücktritt des syrischen Präsidenten Baschar Assad vorerst nicht unterstützen wolle.
Der Sprecher des Außenministeriums, Alexander Lukaschewitsch, sagte nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax vom Freitag, Russland wolle Assad ausreichend Zeit geben, um seine Reformversprechen zu erfüllen.

Erste Schritte habe er bereits unternommen und den Notstand aufgehoben sowie per Dekret friedliche Demonstrationen erlaubt. Lukaschewitsch führte hinzu, Russland stimme nicht mit den USA und der EU überein, die Assad zum Rücktritt aufgefordert haben.

Zugleich meldete AFP:
Die Europäische Union plant nach Angaben aus Diplomatenkreisen weitere Sanktionen gegen Syrien. Wie ein EU-Diplomat in Brüssel am Freitag sagte, will die Europäische Union Sanktionen gegen den syrischen Ölsektor verhängen und erwägt ein Embargo auf "sämtliche syrische Ölimporte". Außerdem wolle die EU bis kommende Woche 15 weitere Namen auf die Liste der Menschen und Firmen setzen, deren Vermögen eingefroren und gegen die Einreiseverbote verhängt wurden. Dem Diplomaten zufolge will die EU nicht mehr nur Menschen und Firmen bestrafen, die direkt an der Niederschlagung der Proteste im Land beteiligt sind, sondern auch solche, die die Regierung wirtschaftlich unterstützen.



Militäreinsatz unterbrochen

UN berät über Lage in Syrien. Assad macht »bewaffnete Gruppen« für Eskalation verantwortlich

Von Karin Leukefeld **


In einem Telefonat mit UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon hat der syrische Präsident Baschar Al-Assad am Mittwoch (17. Aug.) zugesichert, daß die militärischen Operationen beendet seien. Das teilte ein UNO-Sprecher in New York mit. Die Zusicherung kam einen Tag, bevor sich der UNO-Sicherheitsrat erneut mit der Lage in Syrien befaßte. Unter anderem sollten sich am Donnerstag die UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay und die Leiterin des UNO-Hilfsprogramms, Valerie Amos, zu den Vorgängen in Syrien äußern.

Weil man »außerordentlich besorgt« über die Lage in Lattakia sei, hatte die UNO bereits am Dienstag den Abzug aller »nicht notwendigen Mitarbeiter« aus Syrien angeordnet. Michael Williams, UNO-Sonderkoordinator für den Libanon, der auch für Syrien zuständig ist, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, daß 26 Mitarbeiter und ihre Familien vorübergehend aus Syrien abgezogen worden seien. Abgesehen davon, daß die Bezeichnung »nicht notwendig« wohl für jeden UNO-Mitarbeiter wenig respektvoll ist, wird die Maßnahme von Beobachtern als Druckmittel auf die syrische Regierung gewertet.

Präsident Assad und das Militär hatten in den vergangenen Wochen wiederholt »bewaffnete Gruppen« für den Militäreinsatz in verschiedenen Städten verantwortlich gemacht, die im Schutz der Protestbewegung Armee und Polizei angegriffen und getötet sowie staatliche Einrichtungen verwüstet hätten. Oppositionelle betonten gegenüber den großen Nachrichtensendern, Militär und Sicherheitskräfte gingen mit schwerem Geschütz gegen die Protestbewegung vor.

Operationen in Dschisr Al-Schugur, Hama und Deir Essor wurden mittlerweile beendet, wie internationale Medienvertreter berichteten. Nicht näher definierte Oppositionskräfte dementierten gegenüber dem arabischen Nachrichtensender Al-Arabiya den Abzug der Truppen.

Das militärische Vorgehen in dem palästinensischen Flüchtlingslager Al Ramle Al-Janubi wird von offizieller Seite mit Angriffen der islamistischen Gruppe Jund Al-Sham begründet. Erstmals hörte man von dieser Gruppe 1999 in Afghanistan, eine weitere gleichen Namens tauchte auch in palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon auf und war 2007 an den Kämpfen in Nahr Al-Bared zwischen Fatah Al-Islam und der libanesischen Armee beteiligt. Das Flüchtlingslager Nahr Al-Bared wurde in Schutt und Asche gebombt, 10000 Palästinenser mußten fliehen.

Kämpfer von Jund Al-Sham hätten sich später in das Flüchtlingslager bei Lattakia abgesetzt. Syrische Sicherheitskräfte sind in den letzten Jahren wiederholt gegen mutmaßliche Mitglieder von Jund Al-Sham und deren Familien vorgegangen. (...)

** Aus: junge Welt, 19. August 2011


Zurück zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage