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Mord und Zerstörung

Die "Freunde Syriens" verwandeln Syrien in einen Trümmerhaufen

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Hier ist jetzt ungefähr der Frontverlauf: Douma, Harasta, Jobar, Qaboun, Arbeen…«. Ghassan Khoury zeichnet langsam schwarze Kreise auf ein Blatt, die rechts und links von zwei Linien liegen, der Autobahnverbindung von Damaskus nach Aleppo. Vor wenigen Tagen trafen zwei Mörsergranaten ein Gesundheitszentrum der Al-Ihsan Stiftung und ein weiteres Haus in der Altstadt, nicht weit vom Bab Scharki, dem Osttor. »Unser Haus liegt nur wenige Meter entfernt«, sagt Ghassan Khoury, der in den letzten Monaten deutlich gealtert ist. Mit seinen 70 Jahren kann der Galerist nicht mehr gut sehen, sein Gesicht ist eingefallen, langsam und überlegt formuliert er jeden Satz.

»Jetzt wo es so heiß ist und der Strom oft ausfällt, sind unsere Fenster immer geöffnet.« Daher seien bei den heftigen Explosionen keine Scheiben zu Bruch gegangen. Er sei auf die Straße gelaufen und habe einen Mann dort liegen sehen, dem die Beine abgerissen worden seien. Manche sagten, der Mann sei ein Selbstmordattentäter gewesen, doch Leute aus den gegenüberliegenden Geschäften hätten ihm berichtet, daß der Mann von etwas niedergeschmettert worden sei, das mit großer Wucht auf ihn heruntergefallen sei, eine Mörsergranate.

Oft sehe es so aus, als wollten die Kämpfer die Altstadt angreifen, »doch sie wissen genau, daß sie hier bei uns kaum Unterstützung finden«. Er sei überzeugt, daß die »Freunde Syriens« den geheimen Plan gefaßt hätten, dort anzugreifen, wo Syrer aller Konfessionen und Herkunft gut und vertraut zusammenlebten. »Bisher ist es ihnen nicht gelungen, Sunniten und Schiiten, Christen, Drusen, Kurden und Alawiten gegeneinander aufzuhetzen, aber Saudi-Arabien und Katar drängen darauf.« Egal mit wem er spreche, und er höre täglich viele Meinungen von seinen Nachbarn, von Verwandten und Freunden in anderen Teilen des Landes, »alle hier in Syrien wollen, daß die Kämpfe aufhören«. Sowohl die Regierung, als auch die innersyrische Opposition und vor allem die Menschen wollten, daß das Morden aufhöre. Doch der Krieg sei »weit über Syrien« hinausgewachsen, ist Ghassan Khoury überzeugt. »Deutschland, Frankreich, England, die USA, alle denken nur daran, was sie hier in Syrien wollen, nicht was wir, die Syrer wollen.«

Jeden Morgen kommt Ghassan Khoury für einige Stunden in die Galerie, wo er zwischen den vielen wunderbaren Bildern sitzt, die irakische und syrische Künstler ihm zum Verkauf anvertraut haben. Er trinkt starken Kaffee, raucht einen Zigarrenstummel und liest die Zeitung. Zwischen den Bildern könne er für einige Stunden die Atmosphäre von Syrien »vor den Ereignissen« spüren. Seit zwei Jahren ist niemand mehr an den Bildern interessiert, einige Künstler haben ihre Werke wieder abgeholt.

Wer mit dem Bus aus dem Norden, Osten oder Süden des Landes nach Damaskus kommt, ist viele Stunden unterwegs. Zwölf Stunden aus Aleppo, aus Deir Ezzor im Osten dauert es noch länger. Selbst für die relativ kurze Fahrt von Tartus an der Küste oder Homs in die Hauptstadt, die früher zwei Stunden dauerte, ist man heute vier bis sechs Stunden unterwegs. Die Autohäuser von Mercedes, BMV, VW, Peugeot und wie sie alle heißen, die in den letzten zehn Jahren entlang der Aleppo-Autobahn im Osten von Damaskus entstanden waren, liegen in Schutt und Asche.

Eine Reisende aus Masyaf berichtet von großen Zerstörungen in Dörfern entlang der Strecke bei Yabroud. »Vor zehn Tagen waren die Häuser noch intakt«, wundert sie sich. Es müsse schwere Kämpfe dort gegeben haben. Masyaf liegt im Orontos-Tal, auf halber Strecke zwischen Hama und Banias. Frau Ismail, wie wir sie nennen wollen, stammt aus Deutschland und ist, nach dem Tod ihres Mannes, in ihrer Wahlheimat Syrien geblieben. In Masyaf sei es von Anfang an ruhig gewesen, inzwischen sei die Bevölkerung aber um Zehntausende Inlandsvertriebene angewachsen. Einmal im Monat müsse sie sich bei den Behörden in Hama melden, das sei neuerdings Pflicht für alle Ausländer. Die Handynummer müsse sie ebenfalls monatlich erneuern. Mit Freundinnen hat Frau Ismail ein Netzwerk zum Einkaufen gebildet, bei der Abnahme größerer Mengen seien die Preise bezahlbar. Gemüse, Eier, Milchprodukte und Fleisch seien auf dem Land billiger als in Damaskus, doch auch dort seien die Preise deutlich in die Höhe gegangen. »Wir haben erst eine Mafia gehabt, die den Verkauf von Heizöl kontrolliert und die Preise in die Höhe getrieben hat. Dann tauchte die Gasmafia auf, dann die Mafia der Lebensmittel. Neuerdings gibt es auch noch die Mafia im Medikamentengeschäft.« Da viele Fabriken für Medikamente um Aleppo herum von den Aufständischen zerstört oder geplündert wurden, müßten Spezialprodukte für die Krebsbehandlung, für Asthma oder Dialyse importiert werden. Geliefert werde aus der Türkei oder dem Libanon. Frau Ismail braucht ein Asthmaspray, das vor dem Krieg 800 Syrische Pfund kostete. Der Preis sei auf 6000 Pfund gestiegen: »Plus 500 Pfund für den Mann, der es aus dem Libanon holt«. Die Beschaffung aus der Türkei sei deutlich billiger, dort könne sie das Medikament für 3000 Pfund kaufen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 2. Juli 2013


»Woran Syrien wirklich zerbricht«

Der Publizist Jürgen Todenhöfer kommentierte am Montag in der Zeitung Tagesspiegel die Situation des Landes [Auszüge]:

Zehn Länder sind bereits in den Konflikt verwickelt. Wenn der Mittlere Osten brennt, könnten auch bei uns die Lichter ausgehen. Wie kann man diese Entwicklung stoppen? Als Erstes sollte man die Propagandalügen beiseiteschieben, die eine Analyse des Konflikts erschweren.

Erstens: Anders als in Tunesien, Ägypten und Libyen kämpft in Syrien nicht das »Volk« gegen einen isolierten Diktator, sondern eine starke oppositionelle Minderheit gegen eine relativ stabile Regierungsmehrheit. Assad hat in der Bevölkerung mindestens so viel Rückhalt wie die Rebellen, wahrscheinlich sogar mehr. Ob uns das gefällt oder nicht.

Zweitens: Die fast 100000 Opfer gehen nicht allein auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte. Auch die Rebellen töten das eigene Volk. Grob geschätzt sind ein Drittel der Toten Soldaten und Polizisten, ein Drittel Rebellen, ein Drittel Zivilisten. Der christliche Patriarch von Syrien sagte mir, die Rebellen töteten sogar mehr Zivilisten als das Regime. Wann hat Al-Qaida je Rücksicht auf Zivilisten genommen?

Drittens: Die überwältigende Mehrheit der Rebellen kämpft längst nicht mehr für Demokratie. (…) Wer Kampfgerät an Rebellen liefert, unterstützt immer Al-Qaida. Das tun die USA heimlich seit langem. Die Lieferungen Saudi-Arabiens und Katars an Al-Qaida geschahen stets mit ihrer Zustimmung, weil sie das Potential Al-Qaidas in Syrien unterschätzten. Die USA als fünfte Kolonne Al-Qaidas – eine Perversion jeder Antiterrorpolitik.

Der Konflikt läßt sich nur durch Verhandlungen lösen. Und zwar auch mit dem Iran. (…) Auch mit Assad müssen die USA verhandeln, wenn sie ihr Terrorzuchtprogramm in Syrien rückgängig machen wollen. Das Argument, Assad sei politisch für den Tod von hunderttausend Menschen verantwortlich, kann kein Verhandlungshindernis sein. Die USA sind im Irak und in Afghanistan für den Tod von viel mehr Menschen verantwortlich.«


** Aus: junge Welt, Dienstag, 2. Juli 2013




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