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Einig in der Uneinigkeit

EU verlangte von Russland auf Gipfel Abkehr von Syrien

Von Irina Wolkowa, Moskau *

St. Petersburg erlebte am Montag den den 29. EU-Russland-Gipfel. Der Gastgeber forderte dort mit Nachdruck eine Aufhebung der Visapflicht. Die EU-Granden dagegen wollten vor allem eine Änderung der Haltung Moskaus zu Syrien erreichen. »Selbstverständlich sind wir uns nicht in allen Punkten einig«, sagte Präsident Putin nach dem Treffen.

EU-Kommissionschef José Manuel Barroso und Ratspräsident Herman van Rompuy hatten sich drängender Fragen des alten neuen Präsidenten Wladimir Putin zu erwehren. »Eine vollwertige Partnerschaft ist unmöglich, solange es eine Visabarriere für die Bürger unserer Länder gibt«, sagte Putin gegenüber Interfax am Montag in St. Petersburg. Das Thema wird bereits seit Langem von beiden Seiten diskutiert. Brüssel wolle keine »künstliche Frist« festsetzen, verlautete vor dem jetzigen Gipfel aus EU-Kreisen. Aber weiter kam man offenbar nicht.

Auch die Eurokrise war ein Thema, zu dem es »viele russische Fragen« gegeben habe, gestand van Rompuy. Doch die EU-Spitzen wollten eigentlich vor allem über Syrien reden. Sie verlangten von Russland erneut eine härtere Gangart gegen Damaskus. Erfolge dabei gab es wohl nicht.

Zwar braucht der Kreml den Westen als Modernisierungspartner. Auch riskiert Russland als Schutzherr Syriens internationale Isolierung. Laut der Zeitung »Kommersant« lehnte Moskau daher sogar die Unterzeichnung lukrativer Wirtschaftsverträge ab, die Assad dem Kreml jüngst anbieten wollte - einerseits. Andererseits unterstützt Moskau den Friedensplan von UN-Sonderbotschafter Kofi Annan und blockiert mit seinem Veto bisher jedoch alle vom Westen und von arabischen Staaten eingebrachten Resolutionen, die als Mandat für eine Intervention interpretiert werden könnten. Russland, so Dmitri Trenin vom Moskauer Carnegie Center, gehe es dabei nicht um ein einzelnes Land, sondern um die globale Sicherheitsordnung«, eine militärische Intervention würde diese in einer Weise ändern, die Russland nicht akzeptiert, und dazu das Prinzip der staatlichen Souveränität aushebeln, das ebenfalls zu den traditionellen Glaubenssätzen russischer Außenpolitik gehört. Dazu kommen wirtschaftliche und strategische Interessen.

Mit einem Anteil von 78 Prozent ist Russlands staatlicher Rüstungskonzern Rosoboronexport Syriens größter Lieferant von Kriegstechnik. Putin versicherte vorige Woche in Berlin, Russland liefere an Damaskus keine Waffen, die in einem Bürgerkrieg eingesetzt werden könnten. In der Tat: Zwischen 2007 und 2011 orderte Assad laut offizieller Darstellung Luftabwehr, Kampfjets und Küstenartillerie - Verteidigungswaffen gegen einen möglichen Angriff Israels.

Dagegen behauptete die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, dass Rosoboronexport dennoch - auch nach Beginn der Unruhen - Panzer und gepanzerte Fahrzeuge geliefert habe. Auch sollen demzufolge neue Verträge zur Lieferung von Munition, Pistolen, Maschinengewehren und Panzerfäusten mit einem Volumen von bis zu 400 Millionen Dollar unterzeichnet worden sein. Eine Ladung schwerer Waffen soll erst Ende Mai in Tartus gelöscht worden sein. Rosoboronexport wollte sich dazu nicht äußern. In Tartous unterhält Moskau seit 2008 auch den einzigen Marinestützpunkt außerhalb der Grenzen der ehemaligen UdSSR. Russland, so ein Sprecher des Rüstungskonzerns, werde liefern, bis die UNO ein entsprechendes Embargo verhängt. Das indes dürfte allein schon an Moskaus Vetorecht im Sicherheitsrat scheitern.

Moskaus Widerstand gegen einen Regimewechsel in Damaskus hat aber auch damit zu tun, dass der Kreml gegen die Opposition im Allgemeinen und gegen die im arabischen Raum im Besonderen tiefes Misstrauen hegt. Ausgewiesene Nahostexperten wie Jewgeni Primakow, in der Jelzin-Ära zunächst Chef des Auslandsgeheimdienstes, zuletzt Ministerpräsident, warnten gleich zu Beginn des arabischen Frühlings, die Regimegegner seien alles andere als lupenreine Demokraten, Revolutionen würden vor allem islamische Fundamentalisten an die Macht spülen, deren Terrornetzwerke die Lage nicht nur in der Region, sondern weltweit destabilisieren.

Nicht unterschätzt werden darf auch, dass Syrien Moskaus letzter Verbündeter im Nahen Osten ist. Nach Assads Sturz würde der Westen auch dort den Kammerton vorgeben. Damit wäre Moskaus außenpolitische Doktrin von einer Welt mit mehreren Schwerkraftzentren definitiv Makulatur.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 5. Juni 2012


Machtoptionen

Von Roland Etzel **

Europäer und Russen haben sich nicht auf einen Konsens zu Syrien verständigt, natürlich nicht. Längst hat die Propagandaschlacht um Syrien eine Ebene erreicht, wo Kompromissbereitschaft medial nur noch als Niederlage gebrandmarkt wird, Verständigung also ausgeschlossen. Die Debatte kennt nur eine Richtung: Sie wird noch verlogener.

So nennt Russland die andauernde Rückendeckung für Assad weiterhin Eintreten für die »globale Sicherheitsordnung«, ein politisches Faszinosum, das es nie gegeben hat. Die »Ordnung«, die es gab, waren Einflusszonen, die man, so es sich um die des anderen Lagers handelte, einzig als Resultat militärischer Fakten bereit war hinzunehmen. Und so kann Moskau überhaupt keinen Grund erkennen, warum es dem Westen erneut nachgeben und jeglichen Einfluss in Nahost abschreiben soll.

Seit der folgenlosen Schützenhilfe Russlands für die NATO bei Sturz und Tötung seines einstigen Bundesgenossen Gaddafi weiß Putin noch genauer, dass er für eine Opferung Assads nicht mehr zu erwarten hätte als das Triumphgeheul der Sieger. Man muss also die Machtoptionen des Kremls nicht sympathisch finden, sollte aber Verständnis dafür haben, wenn die Russen ihre Interessen nicht in den Sturzbächen von Merkels und Clintons Krokodilstränen hinwegschwimmen lassen wollen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag 5. Juni 2012 (Kommentar)

Opposition: Beleidigung der Opfer

Kritik an jüngster Rede von Syriens Präsident ***

Die syrische Opposition ist nach der jüngsten Rede von Präsident Baschar al-Assad überzeugt, dass die Gewalt im Land noch lange andauern wird. Nach Angaben von Regierungsgegnern wächst auch die Gewaltbereitschaft aufseiten der Opposition.

In Diskussionsforen der Regimegegner hieß es am Montag, Assad habe mit seinen Schuldzuweisungen an ausländische Mächte und »terroristische Banden« im Prinzip das Gleiche gesagt wie in allen Reden, die er seit Beginn der Proteste im März 2011 gehalten hat. Seine Ansprache sei eine Beleidigung für die Opfer des blutigen Konfliktes.

Assad hatte am Sonntag eine einstündige Ansprache gehalten, in der er das Vorgehen von Armee und Sicherheitskräften mit der Arbeit eines Chirurgen verglich. Er sagte, wenn der Chirurg sein Skalpell einsetze, um das Leben des Patienten zu retten, werfe ihm schließlich auch niemand vor, dass Blut an seinen Händen klebe.

Die Organisation Syrischer Menschenrechtsbeobachter berichtete am Montag von heftigen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und bewaffneten Oppositionellen in dem Dorf Kafr Nabel in der Provinz Idlib. Am Sonntag sollen landesweit 31 Menschen von Assads Truppen getötet worden sein. Am Montag zählten Regierungsgegner 17 Tote. Die staatliche Nachrichtenagentur Sana meldete, 30 Angehörige der Armee und der Sicherheitsbehörden beerdigt worden. Sie seien Opfer von bewaffneten Terrorbanden.

Derweil zerfällt die Opposition in immer mehr autonome Gruppierungen. Ein Sprecher einer Gruppe, die sich selbst als »Bündnis von Brigaden außerhalb der Freien Syrischen Armee« charakterisiert, sagte, mehrere Brigaden von Regimegegnern aus Deir as-Saur, Homs, Daraa und Damaskus hätten sich nun zusammengeschlossen.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag 5. Juni 2012




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