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Kein zweites Jugoslawien

Hintergrund. Rußland und China treten für ein selbstbestimmtes Syrien ein. Politische, ökonomische und defensive militärische Maßnahmen sollen das Ziel befördern

Von Karin Leukefeld *

In Syrien tobt ein »Krieg niedriger Intensität«. Die Protestbewegung, die zunächst friedlich mit Angriffen der Sicherheitskräfte konfrontiert war, wurde bald von bewaffneten Gruppierungen benutzt, die andere Ziele als die Demonstranten verfolgten: Austragen alter Konflikte, religiöser Eifer gegen modernen Säkularismus, Ausnutzen des zunehmenden Chaos für eigenen Profit oder im Auftrag anderer. Die bewaffnete Auseinandersetzung hat eineinhalb Jahre nach Beginn der Proteste im März 2011 die politische Protestbewegung beiseite geschoben; in Syrien herrscht die Sprache der Gewalt. Auf der einen Seite kämpfen Geheimdienste und Milizen an der Seite oder auch in den Reihen der regulären syrischen Streitkräfte, auf der anderen Seite kämpft eine Vielzahl bewaffneter Gruppen: »syrische Bürger, die zu den Waffen gegriffen haben«, Deserteure der syrischen Armee, Einheiten der in Syrien verbotenen Muslimbruderschaft, stammesbezogene Milizen, Dschihadisten, Salafisten und bezahlte Söldner mit Kampferfahrung aus Zentralasien, Afghanistan, Irak und Libyen, zu denen hier auch Al-Qaida gezählt werden soll.

Die jeweiligen Parteien werden finanziell, militärisch, logistisch und nicht zuletzt propagandistisch unterstützt. Der syrischen Armee stehen Rußland und Iran zur Seite. Berater helfen bei Vermittlungsversuchen. Um die neue Kommunikationstechnologie überwachen zu können, mit der die Aufständischen aus dem Westen versorgt wurden und sich unerkannt verständigen können, hilft Rußland bei der Aufklärung. Die bewaffneten Assad-Gegner werden regional von Türkei, Saudi-Arabien und Katar sowie international – anderen voran – von den USA, Frankreich und Großbritannien unterstützt. Auch der deutsche Bundesnachrichtendienst hat seine Ohren im Kampfgetümmel (siehe jW vom 10.9.2012).

Die in der westlichen Hemisphäre um die USA gruppierten europäischen Großmächte und die Golfmonarchien machen Rußland und China dafür verantwortlich, daß der UN-Sicherheitsrat keine harte Resolution verabschiedet. Rußland wiederum macht den Westen für das anhaltende Blutvergießen mitverantwortlich, da deren Vetostaaten im UN-Sicherheitsrat zwar ein gemeinsames Vorgehen beschlossen haben (Sechs-Punkte-Plan, Genfer Abkommen1), sich aber mit ihrer einseitigen und finanziell massiven Unterstützung der bewaffneten Aufständischen völlig entgegengesetzt verhalten. Sie verlängern so nicht nur den Konflikt, sondern heizen ihn auch an. Handeln Rußland und China einfach nur interessengeleitet »böse«, wie es der westliche Blick vermittelt? Was sind die russischen und chinesischen Interessen in Syrien? Wie wollen sie den innersyrischen Konflikt lösen?

Rußland im Mittleren Osten

Die Beziehungen Rußlands zum Mittleren Osten haben Tradition. Im 18. und 19. Jahrhundert stand das Zarenreich mit Großbritannien und anderen europäischen Staaten in wirtschaftlicher Konkurrenz. Ende des 18. Jahrhunderts durchfuhr die russische Flotte das östliche Mittelmeer, um den Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reichs Grenzen aufzuzeigen, das mit den Kolonialstaaten Europas verbündet war. Die russische Armee besetzte die Krim, die später dem Russischen Reich eingegliedert wurde. Der Einfluß der Osmanen im Schwarzen Meer wurde zurückgedrängt und die russische Flotte im Hafen Odessa stationiert. Das Manöver sollte auch die wachsende muslimische Bedeutung in den von orthodoxen Christen bewohnten Gebieten im Südwesten des Zarenreichs stoppen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts lieferten sich Großbritannien und Rußland ein Rennen um Autorität in Zentralasien und um den Zugang zum Indischen Ozean. Der Konflikt wurde unter dem Namen »The Great Game« (Das große Spiel) bekannt. Rußland wollte am Indischen Ozean einen eisfreien Hafen bauen, London wollte das verhindern.

Nachdem das Osmanische Reich sich im Ersten Weltkrieg mit Deutschland und Österreich gegen die Triple Entente (Großbritannien, Frankreich, Rußland) verbündete, wurden die arabischen Provinzen zum Kriegsschauplatz. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs und dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden die ehemaligen osmanisch-arabischen Provinzen Groß-Syrien und Mesopotamien unter den Franzosen und Briten geteilt. Rußland wurde die Kontrolle über die Meerengen Bosporus (Schwarzes Meer/Marmara-Meer) und die Dardanellen (Marmara-Meer/Mittelmeer), über Istanbul und die ehemaligen armenischen Provinzen im Osten der Türkei (Westarmenien) als Einflußsphäre zugestanden. Waren im 18. und 19. Jahrhundert die Kolonialstaaten Europas Gegner der Großmacht Rußland, verlief die Front im 20. Jahrhundert – nach der Gründung der Sowjetunion (UdSSR) und mehr noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – zwischen den beiden Weltmächten USA und UdSSR und ihren jeweiligen Einflußsphären. Syrien, das 1946 Gründerstaat der Vereinten Nationen war, lehnte sich an die UdSSR an, ohne seine Kontakte zu Europa aufzugeben. 1961 wurde das Land Mitglied der Staatenbewegung der Nichtpaktgebundenen.

Brzezinskis »Schachbrett«

Zbigniew Brzezinski, von 1977 bis 1981 nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident James Carter, brachte die US-Strategie um die Vorherrschaft in seinem Buch »Die einzige Weltmacht« (1997) auf den Punkt: Für die USA steht die Kontrolle »Eurasiens« im Zentrum jeder Außenpolitik, die Europa, den Mittleren Osten, Rußland und Asien betrifft. Eurasien als weltweit größter zusammenhängender Kontinent verfüge über die meisten Rohstoffe und Rohstoffwege, die größte Bevölkerung und die wichtigsten Waffenproduzenten (nach den USA). Zum Glück für die USA herrsche keine Einigkeit auf dem »Megakontinent«, den der Politikwissenschaftler als »Schachbrett« definiert, auf dem es gelte, geschickt zu spielen. Er teilt den Kontinent in »mittlere, westliche, südliche und östliche Regionen« ein, wobei die »südliche Region« vom östlichen Mittelmeer über die Golfstaaten, Indien und Ostchina bis in die zentralasiatische Region reicht. Brzezinski formuliert seine Strategie vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, in dem die USA sich zur Weltmacht entwickelte. Er zitiert die kulturellen, ethnischen und religiösen Unterschiede, die die Sowjetunion schließlich zu Fall gebracht hätten.

20 Jahre später haben sich neue Machtzentren gebildet: Rußland, China, Indien auf dem »Mega-kontinent Eurasien«, Südafrika und Brasilien auf anderen Kontinenten. Diese sogenannten BRICS-Staaten haben neue wirtschaftliche und politische Räume geschaffen. China und Rußland dehnten ihren wirtschaftlichen Einfluß bis weit nach Afrika und Europa aus; die US-Finanzkrise, der Währungsverfall des Dollars, die festgefahrenen Kriege in Afghanistan und Irak haben die USA geschwächt. Ihr Image als Leuchtturm für »Freiheit und Demokratie« hat insbesondere in der arabischen Welt enorm gelitten. Mit subtiler Interventionspolitik und Kriegen niedriger Intensität – für die sich die USA Söldnertruppen wie Al-Qaida bedient – versuchte Washington, die russische und chinesische Konkurrenz aus Afrika und der arabischen Welt zu vertreiben. Es gelang in Afghanistan, Sudan, Irak und – nach Beginn des »Arabischen Frühlings« – mit Gewalt auch in Libyen. Allerdings verloren die USA durch Umstürze in Tunesien und Ägypten wichtige Bündnispartner, die mit den Kernstaaten Europas jahrzehntelang die »Pax Americana« im südlichen Mittelmeerraum (Maghreb) und gegenüber Israel garantiert hatten. Das US-Imperium wankt, Kontrolle und Zugriff des »eurasischen Schachbretts« sind in Gefahr. Neue Krisen und Stellvertreterkriege läuten das möglicherweise letzte Kapitel in der Geschichte der »einzigen Weltmacht« USA ein. Diese versucht, das mit allen Mitteln abzuwehren.

Einfluß radikaler Muslime

Die Konflikte in Syrien haben eindeutig innenpolitische Ursachen. Der reformorientierte Präsident Baschar Al-Assad hat die Dynamik, die der »Arabische Frühling« in der US-Politik ausgelöst hat, nicht rechtzeitig erkannt. Fehler in den ersten Tagen beim Umgang mit den Protesten wurden nicht rechtzeitig korrigiert, die Reformangebote an die syrische Bevölkerung konnten mangels Zeit nicht getestet werden, weil sie von einer rasch gestrickten Opposition im Ausland (Syrischer Nationalrat) abgelehnt und demontiert wurden. Das setzte die innersyrische Opposition unter Druck, die von Syrern im Ausland als »Verräter« oder »Opposition von Assad« denunziert wurde. Mit der Einmischung der Regionalmächte Türkei, Saudi-Arabien und dem finanzstarken Katar wurde der Konflikt gegen den Willen der Protestbewegung der ersten Stunde militarisiert. Das US-Imperium hat mit seinen Verbündeten in Europa und am Golf auf allen Ebenen – politisch, wirtschaftlich, militärisch und propagandistisch – eine neue Front in der »südlichen Region Eurasiens« eröffnet. Rußland und China halten dagegen, unterstützt, wenn auch weniger exponiert, von Indien, Südafrika, Brasilien und den blockfreien Staaten. Die Welt ist in zwei multipolare Blöcke geteilt, die Front verläuft durch Syrien.

In westlichen Analysen werden allgemein zwei Gründe genannt, warum Rußland die syrische Führung unterstützt: der Mittelmeerhafen Tartus und die Waffenlieferungen an Syrien. Tatsächlich ist der Hafen von strategisch geringer Bedeutung, zumal die russische Militärpräsenz sich in Grenzen hält, schreibt der türkische Journalist Mehmet Ali Birand am 12.7.2012 in der türkischen Tageszeitung Milliyet. Nur fünf Prozent der russischen Waffenexporte würden an Syrien geliefert, neue Verträge seien auf Eis gelegt. Birand verweist auf einen Kommentar von Ruslan Pukhow, Direktor des Zentrums für strategische und technologische Analysen in Moskau. In dem Beitrag für die New York Times vom 6.7.2012 schreibt Pukhow: »Der wirkliche Grund, warum Rußland sich einem starken internationalen Eingreifen gegen das Assad-Regime widersetzt, ist die Angst, daß der islamistische Radikalismus sich ausbreitet« und zwar auch nach Rußland. Dadurch würde die russische »Position als Supermacht geschwächt, in einer Welt, in der westliche Nationen immer häufiger einseitige Militärinterventionen durchführen«.

Tatsächlich haben sowohl die Veränderungen durch den »Arabischen Frühling« als auch die Kriege in Afghanistan und Irak vor allem eine Entwicklung deutlich gemacht: Repressive, aber dennoch säkular orientierte Regime wurden zerstört, islamistische Radikale gewannen an Einfluß. Organisationen und Parteien der Muslimbruderschaft und, in ihrem Windschatten, der Salafisten haben in Tunesien und Ägypten die Macht übernommen. In Marokko und Jordanien wächst ihr Einfluß, in der syrischen Opposition dominieren sie den Syrischen Nationalrat und haben bewaffnete Gruppen vor Ort. Sowohl die Muslimbrüder als auch die Salafisten werden finanziell von Katar und Saudi-Arabien unterstützt.

Jenseits der auch von Rußland vorgetragenen Kritik am Umgang des syrischen Regimes mit der Protestbewegung steht Assad für ein säkulares Staatsmodell und gilt als Garant für religiöse und ethnische Vielfalt. Das ist besonders für die russischstämmigen Minderheiten in Syrien (Tscherkessen) und die orthodoxen Christen von großer Bedeutung. Die russisch-orthodoxe Kirche ist in Syrien mit den altrömischen und orthodoxen Gemeinden eng verbunden. Die Beziehungen zwischen beiden Staaten sind intensiv, eine große binationale Gemeinde lebt in Syrien. Viele Syrer haben in Rußland studiert, dort geheiratet und pflegen soziale, kulturelle und wirtschaftliche Kontakte. Für sie alle ist der Säkularismus des syrischen Regimes von unschätzbarem Wert.

Lawrows Grundregeln

Rußland versteht die geostrategischen Ziele der USA – wie von Brzezinski formuliert – genau. Es will »kein zweites Jugoslawien« und konzentriert sich international auf eine intensive Diplomatie. Regional und in Syrien sind Moskauer Berater auf vielen Ebenen aktiv, um die Militarisierung zu stoppen. Für die Ende September in Damaskus tagende Oppositionskonferenz erwirkte Rußland beim syrischen Regime Sicherheitsgarantien. Wie schwer es für Rußland ist, seinen Einfluß geltend zu machen, zeigt die Festnahme von zwei führenden Mitgliedern des Nationalen Koordinationskomitees für Demokratischen Wandel (NCC), vermutlich durch den Geheimdienst der syrischen Luftwaffe. Sie waren gerade von Gesprächen aus China zurückgekehrt und wollten an der Konferenz teilnehmen.

In einem Beitrag für das US-Internetportal The Huffington Post ordnete der russische Außenminister Sergej Lawrow bereits Mitte Juni 2012 die Ereignisse in der arabischen Welt als historisch ein und erklärt den russischen Standpunkt: Der Prozeß, der »zu einer neuen Weltordnung« der Multipolarität führe, sei in eine »turbulente Phase eingetreten«.

Er unterscheidet prinzipiell zwei Ansätze von Staaten und internationalen Organisationen im Umgang mit den Umbrüchen: »entweder den arabischen Völkern helfen, ihre Zukunft selbst zu bestimmen, oder versuchen, eine neue politische Realität zu gestalten, die dem eigenen Wunsch entspricht«. Letzteres geschehe, indem man die »Schwächung staatlicher Strukturen, die lange schon zu starr waren«, ausnutze. Rußland fördere, wie die meisten Länder der Welt, »die Bestrebungen der arabischen Völker für ein besseres Leben, Demokratie und Wohlstand«, so Lawrow. Man habe die Mittelmeerpartnerschaftsinitiative begrüßt und setze sich »nachdrücklich« gegen jede Gewaltanwendung »insbesondere gegen die Zivilbevölkerung« ein. Kaum ein Land kenne »den wahren Preis von Revolutionen« besser als Rußland. Die Transformation einer Gesellschaft sei »komplex, dauert in der Regel lange und (verlaufe) selten reibungslos«. Die Vielschichtigkeit der internationalen Beziehungen habe zugenommen, und es sei klar, »daß die Anwendung von Gewalt zur Konfliktlösung keine Aussicht auf Erfolg hat«. Der russische Außenminister zählt Beispiele auf: »die komplizierte Lage im Irak und die Krise in Afghanistan, die noch lange nicht vorüber ist«. Libyen sei nach dem Sturz von Muammar Al-Ghaddafi von Wohlstand weit entfernt, statt dessen verbreite sich Instabilität über die Sahara und die Sahel-Zone und habe zu einer dramatischen »Verschlechterung der Situation in Mali« geführt. Man müsse »verstehen, was wirklich in Syrien geschieht« und dem Land helfen, »diese schmerzhafte Phase seiner Geschichte zu überwinden«.

Rußland verteidige nicht das Regime, weder politisch noch wirtschaftlich gebe es dafür einen Grund. Doch Syrien sei ein »multireligiöser Staat (mit) muslimischen Sunniten und Schiiten, Alawiten, Orthodoxen und Christen anderer Glaubensrichtungen, Drusen und Kurden«. Gewissensfreiheit sei »in den letzten Jahrzehnten« unter der »weltlichen Führung der Baath-Partei respektiert« worden, nun seien die religiösen und andere Minderheiten voller Angst, daß all das nach dem Sturz des Regimes zerstört werde. Auch in Rußland lebten Menschen verschiedener Glaubensrichtungen, die meisten von ihnen orthodoxe Christen und Muslime, seit Jahrhunderten Seite an Seite, heißt es weiter. »Unser Land hat nie Kolonialkriege in der arabischen Welt geführt, sondern im Gegenteil, die Unabhängigkeit der arabischen Nationen und deren Recht auf unabhängige Entwicklung kontinuierlich unterstützt.« Rußland habe somit keine Verantwortung für die Folgen der Kolonialherrschaft, die Spannungen in den sozialen Strukturen geschaffen habe, »bis heute«. Man wisse, daß ausländische Interventionen in Syrien – die Blockade von unerwünschten Fernsehsendern, Zunahme von Waffenlieferungen an die Aufständischen oder gar Luftangriffe – weder »dem Land noch der Region Frieden bringen« würden. Rußland wolle auf »der richtigen Seite der Geschichte« stehen, resümiert Lawrow. Syrien soll nicht zerschlagen werden wie die Sowjetunion, wie Jugoslawien, Afghanistan, Irak oder Libyen. Syrien soll als selbstbestimmter, unabhängiger Staat erhalten bleiben. Das bestimmt das russische Engagement.

Chinas ökonomische Unterstützung

Die meisten der russischen Bedenken über die westlichen Expansionsbestrebungen dürfte China teilen. China hat sich in den letzten 20 Jahren zu einer wirtschaftlichen Weltmacht entwickelt. Auch China sieht seine Interessen im Mittleren Osten durch den Westen bedroht. Wie Rußland gleicht China Engpässe der syrischen Wirtschaft aus, die durch die Sanktionen von USA und Europa das Land bedrücken. China ist ebenso ein Vielvölkerstaat, der im Westen des Landes einen schwelenden Konflikt mit uigurischen Muslimen auszufechten hat. Journalisten trafen radikale Uiguren in Lagern im Nordlibanon, wo sie sich auf den »Heiligen Krieg«, den Dschihad, in Syrien vorbereiteten.

Die Debatte um Syrien auf der internationalen Bühne überläßt Peking derzeit Rußland, zumal die chinesische Führung nicht nur mit innenpolitischen Turbulenzen konfrontiert ist, sondern auch mit dem plötzlich erwachenden nationalen Interesse der Japaner über (rohstoffreiche) Inseln im Ostchinesischen Meer in Streit geraten ist. In Peking weiß man, daß sich die geostrategischen Interessen der Weltmacht USA in Asien sowohl gegen Rußland als auch gegen die aufstrebende Wirtschaftsmacht China richten und sieht die Gefahr, militärisch in einen Stellvertreterkonflikt von US-Interessen zu geraten. In Afrika und der arabischen Welt unterhält China bilaterale militärische Beziehungen, dennoch ist die chinesische Außenpolitik von dem nationalen Interesse an Rohstoffen, Wirtschaftsbeziehungen und Nahrungssicherung seiner 1,344 Milliarden Einwohner geprägt. Militärisch scheint Peking den Rat des chinesischen Philosophen und Generals Wu Sunzi zu beherzigen, der etwa 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung lebte. Mit seinen Gedanken über »Die Kunst des Krieges« verfaßte Sunzi einen Klassiker. Ein zentraler Satz darin lautet: »Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.«

Die Beziehungen zwischen China und dem Mittleren Osten sind sehr viel älter als die zwischen Rußland und der Region. Seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert führten zwei zentrale Handelswege mit unzähligen Nebenstraßen von China durch Zentralasien zum Mittelmeer. Erst 1877 erhielt die Verbindung den vom deutschen Baron Ferdinand von Richthofen erfundenen, romantisierenden Namen »Seidenstraße«. Diplomatische Beziehungen nahmen die Volksrepublik China und Syrien 1956 auf und bauten im wesentlichen auf den uralten Handelsbeziehungen auf. Dabei fließen die Waren weit weniger aus dem Entwicklungsland Syrien nach China als umgekehrt. Die Chinesen spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Energiesektors, in der Öl- und Gasförderung. China unterstützt den Ausbau der syrischen Industrie beispielsweise im Textilbereich oder bei der Reifenherstellung. Vertraglich wurde der Bau eines Wasserkraftwerks vereinbart. Die militärische Zusammenarbeit beider Staaten war während der Gründungsphase der Baath-Herrschaft, Anfang der 1960er Jahre, von großer Bedeutung. Inzwischen stehen eindeutig wirtschaftliche Interessen im Vordergrund.

International folgt China auch in Syrien einem stillen Kurs von Druck und Verhandlungen und bietet sich als Vermittler an. Zuletzt empfing man in Peking Al-Assads Beraterin Bouthaina Shaaban. Dabei dürfte es neben wirtschaftlichen Vereinbarungen auch um die Umsetzung des Genfer Abkommens gegangen sein. Wie Rußland führt China mit verschiedenen Gruppen der Opposition Gespräche mit dem Ziel, die Gewalt und eine westliche Intervention zu stoppen und das Land durch Dialog zu verändern. Wie der russische nahm auch der chinesische Botschafter an der Konferenz der syrischen Opposition Ende September in Damaskus teil.

Das Genfer Abkommen wurde am 30. Juni 2012 zwischen den Vetomächten im UN-Sicherheitsrat und dem damaligen UN-Beauftragten für Syrien, Kofi Annan, vereinbart. Es sieht die Bildung einer Übergangsregierung in Syrien vor, der Mitglieder der jetzigen Regierung und der Opposition angehören sollen. Aufgabe der Übergangsregierung ist die Durchführung eines nationalen Dialogs, an dessen Ende Neuwahlen für Parlament und Präsident stehen. Die syrische Führung hat dem Abkommen zugestimmt.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 04. Oktober 2012


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