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Brahimis Mission beginnt

Neuer UN-Beauftragter für Syrien zu ersten Gesprächen in Kairo

Von Karin Leukefeld *

Bei schweren Anschlägen in der nordsyrischen Wirtschaftsmetropole Aleppo sind am Sonntag zahlreiche Menschen getötet worden. Die »Freie Syrische Armee« habe sich zu den Anschlägen bekannt, hieß es in einer Erklärung des Syrischen Forschungs- und Kommunikationszentrums (SRCC), das dem Syrischen Nationalrat nahe steht. Demnach sollen »mehr als 200 Soldaten« getötet worden sein. Der Angriff habe Stellungen der Streitkräfte gegolten. Die Nachrichtenagentur SANA berichtete unter Bezugnahme auf eine »offizielle Quelle«, daß bei dem Anschlag 30 Personen getötet wurden, darunter Frauen, Kinder und zwei Sicherheitsbeamte. 64 Personen seien verletzt worden. Der Anschlag habe die Front des Al-Hayat-Krankenhauses in Aleppo zum Einsturz gebracht und sei vermutlich durch einen mit Sprengstoff beladenen Kleinlaster verursacht worden. Auch das Zentralkrankenhaus sowie eine Grundschule und umliegende Gebäude seien beschädigt worden. Gleichzeitig habe eine weitere Explosion nahe einer Schule drei Menschenleben gefordert.

Der neue UN-Beauftragte für Syrien, Lakhdar Brahimi, ist am Sonntag zu ersten Gesprächen in Kairo eingetroffen. Brahimi wird zunächst den ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi treffen, der in den letzten Wochen mehrmals öffentlich seinen syrischen Kollegen Bashar Al-Assad zum Rücktritt aufgefordert hatte. Weitere Gesprächspartner sollen der Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil Al-Arabi, sowie der ägyptische Außenminister Mohamed Kamel Amr und andere ägyptische Vertreter sein. Von Kairo aus wird Brahimi nach Damaskus reisen, auch ein Besuch in Teheran ist vorgesehen.

Brahimi hatte in den letzten Tagen deutlich gemacht, daß er seine Mis¬sion in Syrien außerordentlich skeptisch sieht. Mit täglichen hohen Opferzahlen und einer massiven Zerstörung der Infrastruktur wird eine friedliche Lösung immer schwieriger. Schlüsselstaaten wie die Golfmonarchien und die Türkei weigerten sich bisher, den Vorgänger Brahimis, Kofi Annan, zu Gesprächen zu empfangen, was schließlich zu dessen Rücktritt als Syrien-Beauftragter geführt hatte. Ob sich die Türen in Riad, Doha und Ankara für Brahimi öffnen werden, ist bisher nicht bekannt.

Der Sprecher des syrischen Außenministeriums, Jihad Makdessi, sagte am Wochenende dem Fernsehsender Al-Mayadeen, daß »einige Staaten, die Syrien nichts Gutes wünschen, den Weg von Brahimi mit Landminen« pflasterten. Die Lösung des Konflikts in Syrien seien der Sechs-Punkte-Plan von Kofi Annan und die Genfer Vereinbarung vom Juni. Diese sieht einen Waffenstillstand und die Bildung einer Übergangsregierung aus Vertretern der aktuellen Regierung und der Opposition in Syrien vor. Während einer Übergangszeit sollen dann Neuwahlen vorbereitet werden. Die innersyrische Opposition, die eine ausländische Einmischung in Syrien ablehnt, hatte die Vereinbarung begrüßt.

Der UN-Botschafter Syriens, Baschar Al-Jaafari, hatte bereits am vergangenen Dienstag vor der UN-Vollversammlung »alle arabischen, regionalen und internationalen« Staaten, die Einfluß auf die bewaffneten Gruppen in Syrien hätten, aufgefordert, die Mission von Brahimi zu unterstützen. Das gelte insbesondere für jene Staaten, die sich geweigert hätten, Annan zu empfangen.

Vor seinem Aufbruch nach Kairo hatte Brahimi mit den UN-Sicherheitsratsmitgliedern USA und Rußland gesprochen, die in der Frage des Umgangs mit Syrien tief gespalten sind. Während der russische Außenminister Sergej Lawrow am Wochenende erneut die Vetomächte des UN-Sicherheitsrates an die Vereinbarung von Genf erinnerte und sie aufforderte, diese umzusetzen, machte seine US-amerikanische Amtskollegin Hillary Clinton deutlich, daß Washington notfalls auch ohne eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates »mit gleichgesinnten Staaten die syrische Opposition unterstützen werden, um den Sturz von Assad zu beschleunigen«.

Eine für den 12. September geplante Konferenz der Opposition in Damaskus wurde derweil aufgrund interner Meinungsverschiedenheiten verschoben.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 11. September 2012


Türkische Kehrtwende

Ankara will Zehntausende Syrien-Flüchtlinge im Landesinneren unterbringen

Von Rainer Rupp **


Die Türkei hat in ihrer Politik gegenüber syrischen Flüchtlingen eine "dramatische Kehrtwende" vollzogen. Zu diesem Schluß kommt die Washington Post (Montagausgabe). Bisher hatte Ankara die bewaffneten Aufständischen im Nachbarland Syrien offen unterstützt und für sie und ihre Familien auf türkischer Seite der Grenze einen sicheren Hafen eingerichtet. Dort wurden die Kämpfer von Mitarbeitern westlicher Geheimdienste in der Kunst des Guerillakrieges ausgebildet, auf neue Ziele angesetzt und mit neuen Kommunikationsmitteln ausgerüstet. Dann ging es ausgeruht, aufmunitioniert und mit neuen Kampfaufträgen versehen weitgehend unkontrolliert wieder zurück nach Syrien. Das dürfte in Zukunft stark eingeschränkt werden.

In Reaktion auf die zunehmende Ablehnung der Aufständischen durch die türkische Bevölkerung in der Grenzregion hat die Regierung in Ankara am Wochenende laut Washington Post damit begonnen, die Flüchtlinge in Lager weit weg von der Grenze im Landesinneren zu verlegen. In den vergangenen Wochen habe es z.B. in Antakya im Süden des Landes mehrere Demonstrationen der einheimischen Bevölkerung zur Unterstützung des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad und gegen die Rebellen gegeben, die als Terroristen bezeichnet wurden, berichtete die US-Zeitung.

Die großangelegte Verlegung von Tausenden syrischen Flüchtlingen kommt für die anderen NATO-Mitgliedsländer überraschend. Nicht nur die auf 80000 geschätzten, in Camps untergebrachten Menschen sollen aus der grenznahen Region verlegt werden, sondern vorrangig auch die 40000 Syrer, die bisher in angemieteten Häusern und Zimmern in Dörfern und Städten der Südtürkei Unterkunft gefunden hatten, was von syrischen Aufständischen und ausländischen Gotteskriegern bevorzugt wurde. Als Grund für den türkischen Sinneswandel wird vermutet, daß sich die Regierung mit ihrer Forderung nach einer sicheren Zone auf syrischer Seite der Grenze vom Westen im Stich gelassen fühlt und nicht länger riskieren will, daß der Konflikt auf die Südtürkei überspringt, wo sich die einheimische, mit Assad sympathisierende Bevölkerung mit gewaltbereiten Flüchtlingen konfrontiert sieht. Das deckt sich mit der Behauptung türkischer Regierungsbeamter, daß damit die Kontrolle entlang der Grenze zu Syrien wiederhergestellt werden soll.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 11. September 2012


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