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Blankoscheck für Krieg?

Die Granate, die im Oktober 2012 in einem türkischen Ort nahe der syrischen Grenze fünf Menschen tötete, stammte möglicherweise aus NATO-Beständen

Von Karin Leukefeld *

Der Angriff auf die türkische Ortschaft Akcakale, der zur Stationierung von NATO-Patriot-Abwehrbatterien im türkisch-syrischen Grenzgebiet Anfang 2013 führte, ist möglicherweise mit Granaten aus NATO-Beständen ausgeführt worden.

Darauf weist eine kleine Meldung der österreichischen Zeitung Der Soldat vom 18. Januar hin. In der Rubrik »Militärschlagzeilen«, die von einem Oberst Karl Heinz Eisler zusammengestellt wurden, heißt es unter dem Stichwort »Türkei: Jene Werfergranate aus Syrien, die fünf Türken tötete, stammt eindeutig aus NATO-Beständen. Es scheint so, als hätte das NATO-Mitglied Türkei die syrischen Aufständischen mit Waffenlieferungen unterstützt. Allerdings müßten diese Lieferungen mit anderen NATO-Staaten abgestimmt sein.«

Die »Unabhängige Zeitung für Wehr- und Sicherheitspolitik« steht in enger Verbindung zum Österreichischen Landesministerium für Landesverteidigung und Sport. Bis Redak­tionsschluß war eine Antwort auf eine jW-Anfrage auf nähere Quellenangabe der Meldung nicht eingetroffen.

Die Nachricht bezieht sich auf einen Vorfall am 3. Oktober 2012, als gegen 16.30 Uhr nachmittags eine Granate ein Haus im Zentrum des türkischen Ortes Akcakale zerstört hatte. Übereinstimmend berichteten türkische und internationale Medien noch am Abend über den Angriff. Eine 39jährige Mutter wurde mit drei ihrer Kinder getötet, auch eine weitere Frau starb. 13 Personen wurden verletzt. »Woher die Granaten abgefeuert wurden sowie ihre Herkunft sind unbekannt«, hieß es in einem Bericht der türkischen Tageszeitung Hürriyet tags darauf. Die türkischen Behörden veröffentlichten keinen Bericht über die Schußbahn der Granate.

Allerdings wurde zurückgeschossen. Fünf F-16-Kampfjets stiegen 90 Minuten später von ihrem Stützpunkt bei Diyarbakir auf, begleitet von Aufklärungsflugzeugen vom Stützpunkt Malatya (Erhac). Die ausgemachten Ziele wurden an die türkische Armee weitergegeben, die schließlich Raketen mit einer Reichweite von bis zu 45 Kilometern abfeuerten. Ziel des türkischen Vergeltungsschlages war die Region um Tal Abiyad in der syrischen Provinz Rakka, berichtete die türkische Zeitung Radikal. Die den syrischen Aufständischen nahe stehende »Beobachtungsstelle für Menschenrechte« in London wußte schließlich zu berichten, daß drei syrische Soldaten getötet worden waren, die Zeitung Milliyet gab die Zahl der getöteten syrischen Soldaten mit zwölf an. 87mal sei auf den syrischen Militärposten gefeuert worden, so die türkische Zeitung.

Dann ging alles sehr schnell. Das türkische Parlament autorisierte die türkische Armee, im Zuge der Selbstverteidigung in anderen Staaten zu intervenieren. Der NATO-Rat verurteilte den Angriff scharf. Ein Antrag der Türkei auf die Stationierung der »Patriot«-Raketen wurde im Eilverfahren noch vor Weihnachten bewilligt, sechs Batterien aus Deutschland, den Niederlanden und den USA sind seit Anfang Februar im Einsatz.

Eine unabhängige Untersuchung des Beschusses von Akcakale gab es nicht. Mit der Tötung der syrischen Soldaten wurden wichtige Zeugen zum Schweigen gebracht. Die Vermutung, daß die Geschehnisse möglicherweise anders waren, als von der Türkei behauptet, äußerte schon am 27. Oktober der Kommandeur der US-Armee in Europa und der 7. Armee, Generalleutnant Mark Hertling. »Wir sind nicht sicher, ob diese Granaten von der syrischen Armee stammen, von den Rebellen, die wollen, daß die Türkei sich einmischt oder von der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans)«, sagte Hertling dem privaten Fernsehsender NTV.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 19. März 2013


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