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Syrien: Nein zu Interventionen, Nein zu Illusionen

Von Phyllis Bennis *

Nach nun fünfzehn Monaten hat sich der kurze syrische Frühling seit längerem verwandelt in einen strengen „Winter des Missvergnügens“ (ein viel benutztes Zitat aus Shakespeares Drama Richard III; E.F.). Syrien steht kurz vor einem offenen Bürgerkrieg. Falls der Konflikt weiter eskaliert, wird er Auswirkungen zeitigen, die weit über das Land selbst hinausreichen. Wie der frühere UN-Generalsekretär und derzeitiger Gesandter der UN und der Arabischen Liga, Kofi Annan, es ausdrückte: „Syrien ist nicht Libyen, es wird nicht implodieren, es wird über seine Grenzen hinaus explodieren.“

Wie in schon so vielen Fällen vorher sind die menschlichen Kosten in diesem Konflikt unschätzbar hoch. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die normale menschliche Reaktion darauf lautet: „Wir müssen hier etwas tun!“ Was genau aber eine Armee oder Luftwaffe tun könnte, die wirklich in der Situation helfen würde, ist überhaupt nicht klar. Für Libyen brachten die US/NATO-Interventionen keine Stabilität, Demokratie oder Sicherheit, und sie werden es mit Sicherheit nicht für Syrien tun.

Eine von außen kommende Vorgehensweise, die zumindest helfen könnte den unmittelbaren Konflikt zu lösen: ernsthafte Verhandlungen, in denen beide Seiten vertreten sind, bleibt zurzeit außer Reichweite. Der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan, gemeinsamer Gesandter der UN und der Arabischen Liga in Syrien hat eine diplomatische Initiative vorgeschlagen, welche die Unterstützter des Regimes in Damaskus, Iran und Russland, ebenso einbezieht wie die US-Alliierten, also die westlichen Staaten und jene arabischen und regionalen Regierungen, die die bewaffnete Opposition unterstützen. Bis jetzt haben die USA den Vorschlag zurückgewiesen, wenigsten was den Iran betrifft, mit dem Hinweis der US-Außenministerin Hilary Clinton, dass Teheran, was Syrien beträfe, Teil des Problems sei und nicht Teil von dessen Lösung sein könne. Der gegenwärtige UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, der häufig Washingtons Interessen widerspiegelt, untergrub das Potenzial des Vorschlags seines eigenen Gesandten weiter mit seiner Aussage, dass Assad „jegliche Legitimation verloren“ habe – diplomatischer Jargon für „mit dem brauchen wir nicht zu reden.“

Für an Analogien und Pendants Interessierte sei gesagt, dies ist nicht Ägypten oder Libyen, wo die Opposition zur politischen Führung überwältigend war. Trotz einer Geschichte brutaler Repression durch seine Regierung genießt Bashar al-Assad immer noch signifikante Unterstützung von Teilen der syrischen Wirtschaftselite, insbesondere in Damaskus und Aleppo, und in einigen Gemeinden der Minderheiten (Christen, Schiiten, Teile der Drusen und sogar einiger Kurden), die das Regime seit Jahren unterstützt haben. Die Opposition war von Anfang an gespalten über ihr Ziel: weitreichende Reformen oder das Ende des Assad-Regimes. Sie spaltete sich noch weiter, als ein Teil der Opposition sich bewaffnete und nach internationaler Militärintervention rief. Die gewaltlose Oppositionsbewegung, die diese Rufe nach Militärintervention ablehnt, überlebt zur Zeit noch, allerdings nur unter außergewöhnlicher Bedrohung.

Es steht außer Frage, dass das Regime brutale Maßnahmen gegen Zivilisten durchgeführt hat, möglicher-weise dabei auch Kriegsverbrechen. Es scheint auch so zu sein, dass die bewaffnete Opposition verantwortlich ist für Angriffe, die den Tod von Zivilisten zur Folge hatten. Es wird zunehmend schwieriger zu verifizieren, wer für irgendeinen Angriff die Verantwortung trägt. Die UN-Beobachter, deren Zugang bereits massiv eingeschränkt war, sind jetzt abgezogen worden. Das Regime hat noch einigen ausländischen Journalisten mehr die Einreise gestattet, aber die Beschränkungen bleiben in Kraft und die Kämpfe in einigen Gebieten sind so heftig, dass die Journalisten nicht in der Lage sind, solide Informationen zu erhalten. Das Regime ist eindeutig verantwortlich für weitere Angriffe mit schweren Waffen, inklusive Panzer und Artillerie, aber es ist auch klar, dass die Anti-Regierungskräfte mit zunehmend schwereren Waffen versorgt werden, größtenteils bezahlt von Katar und Saudi-Arabien und koordiniert von der Türkei und der CIA. Es mehren sich außerdem Anzeichen von wachsenden Aktivitäten von ausländischen terroristischen Kräften innerhalb Syriens.

Die Verantwortlichkeit, ob gegenüber nationaler oder internationaler Gerichtsbarkeit, bleibt ein entscheidender Punkt – aber das Stoppen der gegenwärtigen Eskalation der Gewalt und die Vermeidung eines offenen Bürgerkriegs muss Priorität haben.

Anwachsen des aggressiven Sektierertums

Syrien explodiert in einem Teil der Welt, der noch unter den Nachwirkungen des US-Kriegs im Irak schwelt. Während zwar die meisten US-Truppen und Söldner den Irak verlassen haben, stellen die Zerstörungen und die Instabilität eine Hinterlassenschaft dar, die noch für Generationen spürbar sein wird. Ein Aspekt dieser Hinterlassenschaft ist die religiöse Spaltung, die die US-Invasion und -Besatzung im Irak bewirkt haben – und weil sich diese Spaltung in der Region fortsetzt, droht auch eine wachsende Spaltung in Syrien. Obwohl die Regierungen des Assad-Regimes – von Vater Hafezs Aufstieg zur Macht 1970 durchgehend bis zur Herrschaft seines Sohns Bashar seit 2000 – immer rücksichtslos säkular waren, bleibt Syrien so etwas wie ein Vorzeigeland für sektiererische Kämpfe. Der herrschende Assad-Clan besteht aus Alawiten (eine der Schia verwandte Form des Islam ) und herrscht über ein Land mit einer starken sunnitischen Mehrheit.

Wenn das wachsende Sektierertum des syrischen Konflikts sich über seine Landesgrenzen ausdehnt, könnte dies zu regionalen Großbränden führen, mit noch größeren Flüchtlingsströmen und möglichen Kämpfen in oder um Syriens Nachbarn Libanon, Irak, Türkei oder sonstwo. So ist bereits neben den internationalen Interessen, die in Syrien kollidieren, der Beginn eines Sunniten-Schiiten-Stellvertreterkriegs erkennbar, mit Saudi-Arabien und Katar als Unterstützer der kämpfenden Gruppen auf der sunnitischen und dem Iran auf der schiitischen Seite.

Die Drohungen mit einer US/westlichen Intervention

Die Rolle des Iran in der Region ist die einzige wichtige Grundlage für US- und andere westliche Interessen in Syrien, wodurch der sich abzeichnende Stellvertreterkrieg noch gefährlicher würde. Mit dem derzeitigen beständigen US-Druck, immer schärferen US- und EU-Sanktionen und den israelischen Drohungen gegenüber dem Iran bleibt Syrien ein verlockendes Ziel eines Stellvertreterkriegs. Syrien selbst ist kein bedeutender Ölproduzent und Washington war bisher mehr damit beschäftigt, auf die Sicherung der syrischen Grenze zu Israel zu achten und den iranischen Einfluss zurückzudrängen, als in Syrien selbst einzugreifen. Die seit langem bestehenden ökonomischen, politischen und militärischen Verbindungen von Damaskus zu Teheran bedeuten, dass Bemühungen zur Schwächung oder Unterminierung Syriens weitgehend verstanden werden als Versuche zur zumindest teilweisen Unterminierung des Iran, indem man Teherans einzigen verlässlichen arabischen Verbündeten zerstört. Hier liegt vielleicht der einflussreichste Faktor für das Drängen der USA auf stärkeres Vorgehen gegen Syrien.

Sicherlich würden die USA, die EU und die US-unterstützten arabischen Golf-Emirate eine verlässlichere, pro-westliche (genauer: anti-iranische ), weniger zum Widerstand geneigte Regierung als die Assads in Syrien vorziehen – einem Staat, der an Länder wie Israel, Irak, Libanon und die Türkei angrenzt, die für die USA von zentralem Interesse sind. Sie würden auch eine weniger repressive Regierung bevorzugen, da Brutalität Protestierende auf die Straßen bringt, wodurch Instabilität droht. Aber für den Moment machen die Bedingungen in dieser Region immer noch einen US/NATO-Militärschlag nach dem libyschen Muster gegen Syrien wenig wahrscheinlich - trotz der US-Beteiligung bei der Hilfe seiner Alliierten, die die Opposition bewaffnen.

Es ist also im Moment eher unwahrscheinlich, dass die Obama-Regierung einen Angriff auf Syrien ohne eine Ermächtigung des UN-Sicherheitsrats riskieren würde. Und ein derartiges Mandat wird in der nahen Zukunft wohl auch nicht erfolgen. China und Russland haben beide angedeutet, dass sie jegliche Gewaltanwendung gegen Syrien ablehnen, und bisher gilt das auch für zusätzliche Sanktionen.

Die Ablehnung eines Angriffs auf Syrien durch Russland geht über Moskaus üblichen Widerstand gegen Sicherheitsratsermächtigungen von Interventionen irgendwo auf der Welt hinaus. Sie betrifft den Kern von Russlands strategischen nationalen Interessen, inklusive seiner militärischen Kapazitäten und seinem Wettstreit mit dem Westen um Macht, Märkte und Einfluss im Nahen und Mittleren Osten. Die russischen Beziehungen zu Syrien stellten in gewisser Weise eine Parallele dar zu den US-Beziehungen zu Bahrein; Damaskus ist ein wichtiger russischer Handelspartner, insbesondere für militärische Ausrüstung und, noch viel wichtiger, gewährt Russland die einzige Marinebasis im Mittelmeer (und die einzige Militärbasis außerhalb des Gebiets der früheren Sowjetunion) in Tarsus an der Südküste Syriens.

Allerdings gibt es keinerlei Garantien. Die Politik kann immer auch über strategische Interessen hinausschießen. Das Risiko eines US/NATO-Angriffs auf Syrien bleibt also bestehen, und die Drohung damit könnte jederzeit wieder hochgefahren werden. Hier geht es nicht um humanitäre Dinge – weder die USA noch irgendein anderes Land hat jemals militärische Macht lediglich für humanitäre Ziele eingesetzt. Aber der „CNN-Faktor“, die ständige Präsentation herzzerreißenden Leidens schafft eine politische Realität, die Entscheidungsprozesse in Washington, London, Paris, Ankara und anderswo beeinflusst. Wenn die Gewalt eskaliert in Syrien, wenn mehr und mehr Zivilisten, insbesondere Kinder, getötet werden, werden Rufe nach Intervention, einige davon aufrichtig, einige zynisch gemeint, ebenfalls eskalieren.

In den USA und Europa hat sich die frühere Parteinahme für die bewaffnete Opposition etwas gesetzt, als Folge von ansteigenden Berichten über Angriffe der Opposition mit daraus resultierenden zivilen Opfern. Aber die Anti-Assad-Propaganda bleibt nach wie vor dominant. Und Washington befindet sich im Wahlkampf und damit steigt der Druck „etwas zu tun“. Die Rufe nach militärischer Intervention kommen von den Medien und teilweise vom Kongress, von den Neo-Konservativen dort, die nie ihre Pläne für einen Regimewechsel in der gesamten arabischen Welt aufgegeben haben, und von einigen militanten liberalen Interventionisten, die mal wieder militärische Macht als Lösung für alle humanitären oder Menschenrechtsprobleme sehen.

Es gibt aber auch prominente Gegner des militärischen Eingreifens innerhalb des Weißen Hauses und des Pentagon, die erkennen, dass es weit schlimmere Probleme für die US-Interessen verursachen würde ( selbst wenn ihnen die Auswirkungen auf die syrische Zivilbevölkerung eher gleichgültig sind). Der Widerstand von denjenigen Kräften der Zivilgesellschaft, die Nein sagen zur militärischen Intervention, während sie gleichzeitig den durch die mechanistische Formel von „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ getragenen Anspruch zurückweisen, dass es sich beim syrischen Regime doch irgendwie um eine brüderliche Bastion mit anti-imperialistischer Legitimität handele, dieser Widerstand wird von entscheidender Bedeutung sein.

Syrien, Widerstand, Anti-Imperialismus?

Syriens geographische und politische Lage und das daraus resultierende Interesse von äußeren Akteuren macht die Dinge höchst kompliziert. Das Land liegt an einer der Bruchstellen des Nahen und Mittleren Ostens – von den sektiererischen Spaltungen eines kriegsgeschädigten Iraks und einem prekär ausbalancierten multi-konfessionellen Libanon mit den angrenzenden Gebieten bis zum Wettstreit der Großmächte, inklusive den USA und der NATO gegen Russland, bis zum arabisch-israelischen Konflikt und den Rollen der nicht-arabischen Staaten Türkei und Iran. Es gibt eine wichtige Divergenz zwischen der Rolle, die das Assad-Regime innenpolitisch gespielt hat, und seiner Position innerhalb der Region. Wie der Ko-Herausgeber von Jadaliyya, Bassam Haddad schrieb, schreibt, „stehen die meisten Menschen in der Region in Opposition zum innenpolitischen Vorgehen des syrischen Regimes während der letzten Jahrzehnte, nicht aber zu seiner Rolle in der Region. Das Problem ist die innenpolitische Repression des syrischen Regimes, nicht seine Außenpolitik“. Diese Meinung könnte auch die Ansicht vieler Syrer wiedergeben.

Natürlich war, anders als in Ägypten oder Tunesien, das Ziel der anfänglich gewaltlosen Proteste in Syrien nicht ein US-gestützter Diktator, sondern ein brutaler, aber doch irgendwie populärer Führer im Zentrum des anti-westlichen Widerstandsbogens im Nahen und Mittleren Osten. Selbstverständlich hätten die Syrer, auch wenn Assad eine konsistent anti-imperialistische Rolle in der Region gespielt hätte, alles Recht und jeden Grund der Welt, gegen die Brutalität des Regimes und die Verweigerung von Menschenrechten vorzugehen. Aber die obige Behauptung verführte einige internationale Aktivisten dazu, die syrische Regierung als Bastion des Anti-Imperialismus zu preisen und deshalb alle oppositionellen Kräfte als US-Lakaien zu verdammen.

Die Wirklichkeit des Regimes sieht bei weitem anders aus. Sicherlich sehen die USA Syrien größtenteils wegen seines Bündnisses mit dem Iran (und auch etwas wegen seiner Unterstützung der Hisbollah im Libanon) als einen Störfaktor an. Aber Syrien war niemals ein konsistenter Opponent von US-Interessen. 1976 unterstützte es während des libanesischen Bürgerkriegs einen massiven Angriff der rechten Falangisten und anderer christlicher Milizen auf das palästinensische Flüchtlingslager bei Tel al-Zataar. 1991 schickte Syrien Kampfflugzeuge, um sich der US-Kriegskoalition gegen den Irak bei der Operation Desert Storm anzuschließen. Nach dem 11. September 2001 arbeitete George W. Bush mit dem Assad-Regime zusammen, um unschuldige Gefangene wie Maher Arar in Syrien vernehmen und foltern zu lassen.

Es ist ferner wichtig zu erwähnen, welcher wichtige US-Verbündete im Nahen und Mittleren Osten bisher ungewöhnlich schweigsam hinsichtlich des syrischen Aufstands geblieben ist: Israel. Man hätte doch erwartet, das Tel-Aviv führend bei den Rufen nach einer militärischen Intervention, den Forderungen nach Regime-Wechsel und dem ständigen Trommelfeuer der Dämonisierung und den Rufen nach Krieg gewesen wäre. Aber Israel ist größtenteils schweigsam geblieben – weil, trotz der rhetorischen und diplomatischen Antagonismen zwischen den beiden Staaten, Syrien generell ein verlässlicher und vorhersehbarer Nachbar gewesen ist. Von gelegentlichen Grenzzwischenfällen oder kleineren Gewaltausbrüchen abgesehen hat Assad die Grenze und damit auch die wirtschaftlich strategisch wichtigen wasserreichen Golan-Höhen, die seit 1967 illegal von Israel okkupiert sind, größtenteils ruhig gehalten. Und noch zuletzt im Jahr 2009 bot Assad Israel Verhandlungen „ohne Vorbedingungen“ über die Golan-Höhen an. Des Weiteren ist Assad eine berechenbare Größe. Trotz Syriens enger Beziehungen zum Iran hat Israel wenig Interesse an einem „Post-Assad“-Syrien in einem Zustand wie das heutige Libyen, mit unkontrollierten Grenzen, unverantwortlichen Milizen, ein- und ausfließenden Waffenströ-men, steigendem islamistischen Einfluss und einer schwachen, illegitimen und korrupten Regierung, die vollständig unfähig ist für Sicherheit im Land zu sorgen. Für Israel sieht der „anti-imperialistische“ Assad noch ganz sympathisch aus.

Ursprünge, Auswirkungen und Folgewirkungen

Der syrische Aufstand begann im Frühjahr 2011 und war Teil eines breiteren regionalen Aufstands, der als „Arabischer Frühling“ bekannt wurde. Wie ihre Pendants strömten die syrischen gewaltlosen Protestierenden auf die Straßen mit politischen/demokratischen Forderungen, die mit einer seit Generationen andauernden Kultur der Furcht und politischen Lähmung brachen. Die syrischen Protestierenden waren, genau wie die, die in Ägypten und Tunesien den Protest gegen die US-unterstützen Diktatoren mobilisierten, sowohl säkular wie auch religiös und spiegelten ein weites Spektrum an Hintergründen und Meinungen wider. Es gab Rufe nach Demokratisierung, Forderungen, dass lang unterdrückte Stimmen gehört und gestärkt werden sollten, und nach sofortigen und massiven politischen Veränderungen.

Für einige bedeutete dies, dass das Regime beendet werden müsse, einige waren gewillt mit einer Regierung ohne Assad zu verhandeln, noch andere riefen nach breiten Reformen, einem Ende der politischen Repression und der Öffnung des politischen Systems innerhalb der existierenden Regierungsstrukturen. Aber niemand rief zunächst nach internationaler militärscher Intervention.

Dann aber griffen – ähnlich wie in Libyen - einige in der syrischen Opposition, insbesondere militärische Überläufer, zu den Waffen - als Reaktion auf die brutalen Unterdrückungsmaßnahmen des Regimes gegen anfänglich gewaltlose Proteste. Der anfänglich zur Verteidigung eingesetzte Gebrauch der Waffen verwandelte sich bald in ein Netzwerk von Milizen und Kämpfern, größtenteils unkoordiniert und niemandem verantwortlich, von denen einige später nach militärischer Unterstützung riefen.

Nun stellt für einige US- und westliche Unterstützer einer militärischen Intervention in Syrien der letztjährige Angriff auf Libyen ein Vorbild dafür dar, wie auf eine Menschenrechts- oder humanitäre Krise zu reagieren sei. Sie glauben, es sei ein Sieg für Menschenrechte gewesen, als ein paar europäische politische Führer eine Flugverbotszone vorschlugen und Teile der Anti-Gaddafi-Opposition ihr Angebot begierig aufgriffen und Teile der Arabischen Liga und Europas und der Obama-Regierung und die meisten der NATO-Staaten zustimmten. Hinter dem Feigenblatt der Billigung der Arabischen Liga (die Afrikanische Union wurde an den Rand gedrängt, da sie sich weigerte, den Angriff zu unterstützen ) wurden die US/NATO-Kampfflugzeuge schnell zur Luftwaffe der bewaffneten libyschen Opposition, die „Flugverbotszone“ wurde umgewandelt in einen offenen Luftkrieg mit Bombardierungen und „der Schutz von Zivilisten“ wurde umgehend zum Regimewechsel umdefiniert.

Aber sie lagen falsch damit, dies als „Sieg der Menschenrechte“ zu sehen, schon damals und noch viel mehrheute. Ein Jahr später, in der Folge des Sturzes und der Tötung von Gaddafi und dem Tod von tausende Libyern, schlägt sich das nun geteilte Land herum mit unkontrollierbaren Milizen und deren tausenden Gefangenen, Folter, eskalierender Gewalt, fortgesetzten Angriffen auf sub-saharische Afrikaner und andere Ausländer, einer praktisch machtlosen Regierung mit mehr Legitimität beim Westen als im eigenen Land und einer zerschlagenen nationalen, sozialen und physischen Infrastruktur.

Die Auswirkungen eines Militärschlags gegen Syrien könnten sogar noch schlimmer sein. Der syrische Konflikt enthält weit mehr komplexe Herausforderungen als irgendein früheres Scheitern der gewaltlosen Mobilisierungen des Arabischen Frühlings in Bahrein, Jemen oder auch Libyen. Innerhalb Syriens haben die Beschaffenheit der diversifizierten Wirtschaft, seine starke Mittelschicht, die einst relativ kleine Kluft zwischen Wohlstand und Armut im Land zur Folge, dass das Regime über eine gewisse Legitimität verfügt - trotz der Jahre der Repression gegen politische Kritiker. Bashar al-Assad scheint doch noch über signifikant mehr Unterstützung zu verfügen als zum Beispiel Gaddafi in Libyen. Der eigene Minderheiten-Status des Assad-Regimes stärkt seinen Anspruch, die anderen syrischen Minderheiten ebenfalls zu schützen. Und die engen Verbindungen zwischen der herrschenden Familie und dem Militär bedeuten, dass trotz beträchtlicher Fälle von Überläufer unter den höheren Militärs die Regierung und die oberste militärische Kommandoebene intakt zu sein scheinen. Falls die Ab-setzbewegungen, wie der spektakuläre Flug eines syrischen Luftwaffenoffiziers in seinem russischen MiG-Kampfflugzeug allerdings zunehmen, wird die militärische Kapazität des Regimes ernsthaft beeinträchtigt. Aber bisher bleibt die Einheit von Militär und Regierung handlungsfähig.

Für einfache Syrer, die ums Überleben kämpfen zwischen den eskalierenden Kampfhandlungen, die in mehr und mehr Städten praktisch keinerlei Zugang zu Elektrizität, Wasser oder medizinischer Versorgung haben, besteht die einzige Hoffnung in einem Ende der Kämpfe. Das beste – wahrscheinlich sogar das einzig nützliche – was äußere Mächte tun können, wäre, sich sofort auf eine neue ernsthafte diplomatische Aktivität hinzubewegen, an der beide, Unterstützer des Regimes und die bewaffnete Opposition, teilnehmen mit dem vordringlichen Ziel einer sofortigen Feuerpause. Kofi Annans Ruf nach genau so einer diplomatischen Option könnte der Anfang sein, falls Washington dazu gedrängt werden könnte seinen Widerstand aufzugeben.

Ein derartiger diplomatischer Kanal – der auf der einen Seite Iran und Russland und auf der anderen die USA, EU, die Türkei und die pro-westlichen arabischen Monarchien zusammenbringen würde, unter der Schirmherrschaft der UN – würde sicher nicht alle Probleme lösen, die zu der syrischen Krise geführt haben. Die Vereinten Nationen, insbesondere der Veto-besetzte Sicherheitsrat, bleiben zutiefst undemokratisch, mit einer US-Vorherrschaft als langwährender Herausforderung. Dieser Weg der Diplomatie würde vermutlich nicht alle divergierenden Interessen der syrischen Bevölkerung reflektieren – aber er würde die gegenwärtige Eskalation in Richtung offener Bürgerkrieg stoppen und vielleicht auch genügend politischen Spielraum öffnen, um die einheimischen gewaltlosen demokratischen Bewegungen in Syrien wieder zu stärken. Er wird aber nur erfolgreich sein, wenn es gelingt ihn aus den gegenwärtig populären UN-Parametern der „Verantwortung zum Schützen“ herauszuhalten, da dies unweigerlich zu militärischen Einsätzen von außen führen würde.

Das beste, was der Annan-Plan erreichen könnte, wäre genug Druck zu entwickeln auf beide Seiten (unter der Annahme, die USA/Westen/arabische Monarchien und die russisch/iranische Seite könnten sich auf ein Ziel verständigen), um die gegenwärtige militärische Eskalation umzukehren und vielleicht eine dauerhafte Feuerpause durchzusetzen - lang genug, um wirkliche Verhandlungen innerhalb Syriens zwischen einer wieder erstarkten inneren Opposition und dem Regime über irgend eine Art von politischen Übergang zu erzwingen. Das Finden einer Übereinkunft zwischen den diplomatischen Sponsoren, mal ganz abgesehen von den beiden Seiten innerhalb Syriens, wird aber nicht leicht sein.

Aber nur mit einem Ende des Krieges werden die unbewaffneten Oppositionskräfte eine Chance haben, wieder öffentliche Unterstützung für die gewaltlose Protestbewegung für realen Wandel zu erlangen, eine Rückgewinnung von sozialen Bewegungen für Syriens ureigene Freiheit und Demokratie und ein Geltendmachung von Syriens Rolle im Arabischen Frühling.

* Phyllis Bennis ist "Fellow" (Forschungsstipendiatin) am Institut für Politikwissenschaft (Institute for Policy Studies) in Washington DC - dort ist sie Direktorin des "New Internationalism Project" - und am Transnationalen Institut (Transnational Institute) in Amsterdam. Sie ist Expertin für die US-Außenpolitik insbesondere mit Bezug auf den Nahen und Mittleren Osten. Zehn Jahre lang arbeitete sie als Journalstin für die UNO, für die sie heute noch als Beraterin tätig ist. Eines ihrer letzten Bücher befasst sich mit dem US-geführten "Krieg gegen den Terrorismus": "Before & After: US Foreign Policy and the War on Terrorism".

Originalartikel: „Syria: No To Intervention, No To Illusions“, in: www.zcommunications.org


Übersetzung aus dem Englischen: Eckart Fooken

Der Aufstand

Es sind mindestens fünf klar unterscheidbare Kräfte am Werk im syrischen Aufstand
  1. Das Regime - mit der Macht weitgehend konzentriert in der ausgedehnten Assad-Familie und der weiteren alawitischen Gemeinschaft; die politische Führung ist eng verbunden mit der obersten militärischen Führung und der Geheimpolizei ( mukhabarat ). Sie bewahrt ein gewisses Maß an Unterstützung in der Bevölkerung, auch von Schlüsselbereichen der Wirtschaft und des Bankwesens in Syrien, insbesondere in Damaskus und Aleppo und erhält politische und einige militärische Unterstützung vom Iran, sowie kürzlich Erklärungen über politische Unterstützung seitens der ALBA-Staaten in Lateinamerika ( Bolivien, Ekuador, Kuba, Nikaragua, Venezuela ) im Zusammenhang von Drohungen durch die USA und anderer westlicher Staaten; sie unterhält wichtige militärische und wirtschaftliche Verbindungen mit Russland, besonders durch die Gewährung eines Seestützpunkts in Tartus. Absetzbewegungen in höheren militärischen Ebenen sind im Anstieg begriffen.
  2. Die ursprünglich gewaltlose Opposition - breit und verschiedenartig, sowohl säkular wie religiös begrün-det. Viele der Aktivisten kamen zu neuen informellen Koalitionen zusammen, vorbei an älteren gesetzteren Organisationen. Sie behalten ihren Widerstand bei gegen eine Bewaffnung der Opposition wie auch besonders gegen eine auswärtige militärische Intervention. Diese Aktivisten bildeten die Hauptmacht in den Anfängen des Aufstands, erreichten aber eine geringere Aufmerksamkeit, nachdem die Repression der gewaltlosen Aktionen durch das Regime die Proteste erfolgreich unterdrücken konnte, internationale Medien größtenteils ausgeschlossen werden konnten und die internen unabhängigen Medien sich hauptsächlich auf Angriffe auf die Zivilbevölkerung fokussierten. Es gibt eine verstärkte öffentliche Wahrnehmung in den letzten Monaten, inklusive der Dokumentation von Straßenprotesten, die trotz bürgerkriegsähnlicher Bedingungen im ganzen Land fortgesetzt stattfinden. Es scheint, dass eine stärkere öffentliche Mobilisierung, einschließlich – aber nicht beschränkt auf – Straßenprotesten, wieder im Ansteigen begriffen ist mit breiter demokratischer Partizipation, insbesondere in den und um die Städte Damaskus und Aleppo, einst bekannt als Hochburgen für Regimeunterstützung.. Im April stand eine junge Frau allein außerhalb des Parlamentsgebäudes in Damaskus mit einem Banner mit der Auf-schrift „Stoppt das Töten, wir wollen eine Heimstatt für alle Syrer aufbauen.“ Auch islamistische Kräfte sind bei dieser gewaltlosen Opposition engagiert, mit dem langjährigen gewaltlosen Führer Sheikh Jawad Said.

    Zur gewaltfreien Opposition gehört auch das Nationale Koordinationskomitee ( NCC ), das aus 13 politischen Parteien inklusive einiger linken Kräfte sowie unabhängiger, zumeist säkularer Aktivisten besteht. Sie sind gegen jede militärische Intervention, einschließlich von sogenannten Flugverbotszonen ( die den Angriff auf Libyen einleiteten ). Ihr Führer erklärte, „ wir lehnen ausländische Interventionen ab – wir halten sie für genauso gefährlich wie eine Tyrannei. Wir lehnen beides ab.“ Sie befürworten gleichwohl Wirtschaftssanktionen und diplomatischen Druck auf Assad. Das NCC fordert nicht den Sturz von Assad aber stattdessen einen nationalen Dialog, unterstützt aber nicht Assads Vorschlag einer Dialog Initiative, sondern einen Prozess unter der Bedingung eines Rückzugs des Militärs von den Straßen, ein Ende der Angriffe auf friedliche Proteste und die Freilassung aller politischen Gefangenen. Einige innerhalb des NCC haben die Forderung nach einem Ersetzen des SNC ( Syrischer National Rat, s.u. ) als offiziellem oder anerkanntem Repräsentanten der syrischen Opposition erhoben.
  3. Die interne bewaffnete syrische Opposition - ursprünglich bestehend aus militärischen Überläufern, die die „Freie Syrische Armee“ ( FSA ) gründeten, mittlerweile umgewandelt in verschiedenste Milizen, bestehend aus Überläufern und bewaffneten Zivilisten, die unter der Bezeichnung FSA operieren, allerdings ohne zentrale Koordination. In den letzte Wochen ist die Zahl der als getötet gemeldeten Soldaten eskaliert, wie auch die über Berichte von direkten Kämpfen zwischen regimetreuen Soldaten und bewaffneten Oppositionsgruppen. Sie scheinen schwerere Waffen aus Saudi-Arabien und Katar zu erhalten, sowie logistische Unterstützung durch die Türkei zum Transport der Waffen und die Lieferung von „nicht-tödlicher“ militärischer Ausrüstung inklusive Nachtsichtgeräten und GPS-Ausrüstung, etc. durch die USA.
  4. Die internen und externen Unterstützer der bewaffneten Opposition - Sie gruppieren sich hauptsächlich im Syrischen National Rat ( SNC ) und fordern explizit den Sturz des Regimes. Beteiligte sind die Moslembruderschaft, lokale Koordinationskomitees ( Gruppen von Graswurzel-Aktivisten innerhalb Syriens ), kurdische und andere Exilanten Fraktionen. Die Moslembruderschaft ist wahrscheinlich die am besten organisierte Vereinigung dieser Gruppen. Sie haben eine politische Basis außerhalb Syriens, in Italien und der Türkei. Ursprünglich hatten sie den Anspruch, die gewaltlose Natur des Aufstands verteidigen zu wollen, verlangten aber später die koordinierende Rolle über alle bewaffneten Fraktionen innerhalb des Landes und die Kontrolle aller eingehenden Waffen, was die FSA ablehnt, da sie auf direkten Waffenlieferungen besteht.. Wenigsten einige in der Führung des SNC fordern auswärtige militärische Unterstützung. Kürzlich bat der SNC einzelne Länder um die Bereitstellung von „Militärberatern, Training und Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung“. Der SNC besteht aus sehr verschiedenen politischen Gruppierungen, säkularen und islamistischen und hat ständig Probleme bei dem Erreichen einer einheitlichen Position für die Zusammenarbeit mit internationalen Mächten. Trotz der internen Meinungsverschiedenheiten, einer unsicheren Führung und fragwürdigem Ausmaß von innersyrischer Unterstützung wird der SNC akzeptiert von den westlichen Staaten ( USA, Teile der EU ) ,den Golfstaaten ( Saudis und Katar ) und bis zu einem gewissen Grad von der Türkei. Die US-Außenministerin Hilary Clinton sagte: „Sie werden einen festen Platz am Verhandlungstisch haben als Repräsentanten des syrischen Volkes.“ Der SNC erscheint in den letzten Monaten leicht geschwächt.

    Größtenteils durch den SNC versorgt die US-Regierung die syrische Opposition mit „nicht-tödlichem“ militärischen Nachschub, inklusive Kommunikationsausrüstung, GPS- Ausstattung und mehr. Washington unterstützt ferner offensichtlich auch eine militärische Ausbildung und bestärkt Bemühungen zur Vereinigung der verschiedenen Oppositionskräfte zu einem kohärenteren Ganzen.
  5. Nicht-syrische bewaffnete Kräfte - unbekannte Kräfte, bestehend zumeist aus Freiwilligen oder Anderen aus internationalen islamistischen Kampfgruppen scheinen zum Kämpfen in Syrien einzutreffen. Ihre genauen Ziele sind noch unklar; sie könnten in Opposition zur alawitischen Regierung stehen, weil diese für einige Extremisten eine häretische Sekte außerhalb des Islams darstellen, und /oder Anstrengungen unternehmen, um Chaos zu verbreiten durch militärische Angriffe, die ein Machtvakuum erzeugen könnten, dass sie zu füllen hoffen.



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