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ai schont Assad-Gegner

Amnesty macht im neuen Jahresbericht allein syrische Regierung für Gewalt verantwortlich. Damaskus beklagt fast 4000 Angriffe von Aufständischen trotz Waffenruhe

Von Karin Leukefeld *

Amnesty International (ai) hat in dieser Woche den Jahresbericht 2012 vorgestellt. Die Verantwortung für Gewalt in Syrien sieht die Menschenrechtsorganisation ausschließlich bei der Regierung in Damaskus. Diese habe während der seit 14 Monate andauernden Unruhen vermutlich »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« verübt, heißt es in dem am Dienstag veröffentlichten Bericht. Regierungskräfte hätten »tödliche Gewalt« eingesetzt und »Gefangene gefoltert«, sie seien mit »exzessiver Gewalt gegen friedliche Demonstranten« vorgegangen. Regierungskräfte hätten Panzer in Wohngebieten stationiert, friedliche Demonstranten getötet, Tausende verhaftet, gefoltert und in Isolationshaft eingesperrt, ist in dem Report zu lesen, der in London von ai-Generalsekretär Salil Shetty vorgestellt wurde. Keine Regierungsstelle habe eine »unabhängige Untersuchung über extralegale Morde, Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen« vorgenommen. Amnesty wirft darüber hinaus dem UN-Sicherheitsrat vor, in Syrien versagt zu haben. Während man den libyschen Staatschef Muammar Al-Ghaddafi vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt habe, sei das mit dem syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad nicht geschehen.

Die Organisation moniert zudem die Reformen, die von Assad im Laufe des vergangenen Jahres eingeleitet worden waren. Dazu gehören unter anderem die Aufhebung des Ausnahmezustandes, ein neues Wahl- und Parteiengesetz und ein neues Mediengesetz. Auch das Oberste Staatssicherheitsgericht hatte Assad aufgelöst. Amnesty wiederum kritisiert, die Regierung habe trotz alledem »keine effektiven Garantien für Meinungs- und Versammlungsfreiheit« gegeben. An keinem Punkt des Berichtes wird die Gewalt erwähnt, die von bewaffneten Regierungsgegnern ausgeht. Auch die schweren Anschläge kommen nicht vor, bei denen in Damaskus, Aleppo, Idlib und Deir Ezzor seit Dezember 2011 Dutzende Menschen getötet und Hunderte verletzt wurden. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon machte kürzlich Al-Qaida-Gruppen für den Terror verantwortlich. Amnesty International unterhält kein Büro in Syrien. Trotz mehrmaliger Versuche erhielten Mitarbeiter keine Einreisegenehmigung.

Ausgewogener als Amnesty International äußerte sich am Donnerstag ein Ausschuß der Vereinten Nationen, der neben der Gewalt von syrischen Sicherheitskräften auch die Gewalt benennt, die von bewaffneten Gruppen verübt wird. Kaum wahrgenommen werden weiterhin tägliche Drohungen, Entführungen und Morde an Personen, die für das Militär oder für Ministerien arbeiten oder gearbeitet haben oder die sich weigern, den »bewaffneten Kampf gegen Assad« zu unterstützen.

Syrische Medien nennen täglich Namen und Herkunft getöteter Soldaten, Offiziere und Sicherheitskräfte und von Zivilpersonen. Informationsminister Adnan Mansour sagte kürzlich, die Zahl der Angriffe bewaffneter Gruppen sei seit Beginn der von Kofi Annan vermittelten Waffenruhe (12. April 2012) auf 3800 gestiegen. Bei einem Treffen mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Damaskus sagte Gesundheitsminister Wael Al-Kalaki am Mittwoch, daß der Gesundheitssektor in Syrien seit Beginn der Unruhen 22 Mitarbeiter verloren habe, 42 seien verletzt worden. 24 Krankenhäuser, 84 Gesundheitszentren und 199 Ambulanzfahrzeuge seien beschädigt oder zerstört worden. Bewaffnete Gruppen hätten zudem den aus Deraa stammenden Arzt Adnan Smeit getötet, acht Ärzte und Krankenpfleger seien seit dem 10. April 2012 entführt worden. Al-Kalaki verwies auch auf die Folgen der Sanktionen, die auch den Gesundheitssektor träfen.

Von Oppositionsseite heißt es, daß der syrische Geheimdienst seit Wochen gezielt Mitarbeiter des Gesundheitssektors verhaftet habe. Man werfe ihnen vor, Demonstranten und Aufständische medizinisch behandelt zu haben. Rechtsanwalt Mahmud Muri, Vorsitzender der Arabischen Organisation für Menschenrechte (AOHR), erklärte gegenüber junge Welt, seine Organisation veröffentliche mit Unterstützung von Aktivisten in fast allen syrischen Städten täglich ein Bulletin. Todesfälle würden nur veröffentlicht, wenn der Name des Opfers bekannt und überprüft worden sei. Nach Kenntnis von AOHR-Syrien seien seit Beginn der Unruhen auf allen Seiten 12500 Personen getötet und etwa 25000 Personen verletzt worden. Die Zahl der Gefangenen gibt AOHR mit »ca. 20000« an, rund 5000 Personen gelten als »verschwunden«. 35 AOHR-Mitarbeiter hätten kürzlich eine Fortbildung bei der Niederlassung der Organisation in Gaza erhalten und danach problemlos wieder nach Syrien einreisen können. Die Organisation, die seit 2004 in Syrien arbeitet, ist offiziell nicht zugelassen, wird derzeit aber offenbar geduldet. Sie besteht aus verschiedenen Menschenrechtsgruppen, darunter auch drei kurdischen. Die Arabische Organisation für Menschenrechte unterhält Büros in verschiedenen Ländern der Region, in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Europa. Sitz der 1983 gegründeten Organisation ist Kairo.

Waffenhilfe statt Waffenstillstand

Resolution 2043 des UN-Sicherheitsrates fordert einen Waffenstillstand in Syrien und sieht den Rückzug bewaffneter Kräfte für den Beginn eines Dialogs zwischen Regierung und Opposition vor. Von Präsident Baschar Al-Assad ist in der Entschließung keine Rede. Gleichwohl unterstützt US-Präsident Barak Obama die Forderung von Teilen der Opposition und von bewaffneten Gruppen in Syrien, den Staatschef zu stürzen. Dessen Absetzung sei »nicht mehr eine Frage des ob, nur noch eine Frage des wann«, meinte Obama im März dieses Jahres. Beim G-8-Treffen am vergangenen Wochenende wiederholte der US-Präsident, daß »Baschar Al-Assad abtreten muß«. Das israelische Geheimdienstportal Debka berichtet nun, daß Washington Aufständische und bewaffnete Gruppen in Syrien durch eine vereinbarte Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten unterstützt. Die Gruppen würden mit »modernen Anti­panzerraketen« ausgerüstet, meldet Debka unter Berufung auf namentlich nicht genannte »militärische Quellen«. Durch einen massiven Anstieg von Angriffen in den vergangenen Wochen habe die syrische Armee viele T-72 Panzer verloren, schwere Kampfpanzer russischer Herkunft. Die eingesetzten Antipanzerraketen gehörten zur Ausrüstung der US-Armee und würden von Geheimdienst­agenten aus Saudi-Arabien und Katar zu den bewaffneten Gruppen in Syrien geschmuggelt.

Daß die US-Administration entschlossen ist, bewaffnete Gruppen zu unterstützen, hatte bereits Außenministerin Hillary Clinton betont, als sie bestätigte, daß ihr Land »die Opposition in Syrien mit neuester Kommunikationstechnologie« ausstattet. Gleichzeitig wurde der Handel mit Kommunikationstechnologie für Internet und Telefon nach Syrien durch US- und EU-Sanktionen gestoppt. Angeblich um die Überwachung der »sozialen Medien« durch syrische Geheimdienste zu unterbinden.

Die Unterstützung bewaffneter islamistischer Gruppen, insbesondere unter der sunnitisch-muslimischen und der salafistischen Fahne, geht auf einen Plan des früheren US-Präsidenten George W. Bush zurück. Darüber schrieb bereits 2007 der bekannte US-Journalist Seymour Hersh in der Zeitschrift New Yorker. Die USA, Saudi-Arabien und Israel hätten die Bildung und Finanzierung einer Armee sunnitischer Terroristen vereinbart. Diese solle insbesondere in Syrien und im Iran zum Einsatz kommen, zur Destabilisierung und Zerstörung »feindlicher Regime«. Man vereinbarte die Organisierung, Bewaffnung, Ausbildung und Stationierung dieser Truppe in den Nachbarländern Libanon, Jordanien und Irak. Außerdem wurde laut Hersh vereinbart, die Muslimbruderschaft zu unterstützen, sowohl in Syrien als auch außerhalb – auch in Ägypten. Um die Rolle der USA und Israels in dem Unternehmen zu verschleiern, wurde die Umsetzung des Plans saudischen Beauftragten überlassen. Auf der militärischen und finanziellen Ebene war Prinz Bandar Bin Sultan vom saudischen Königshaus zuständig. Für die politische Umsetzung im Nordlibanon sorgte der ehemalige libanesische Ministerpräsident Saad Hariri, der von seinem 2005 getöteten Vater neben dem Vermögen auch die saudische Staatsangehörigkeit erbte. Das seit langem von den USA, Israel und Saudi- Arabien angestrebte Ziel ist die Zerstörung der syrisch-iranischen Allianz, die seit 1979 besteht. Die anhaltende Destabilisierung in Syrien zeichnet sich entlang der syrischen Küstenregion ab und basiert auf einem US-Plan aus den 1950er Jahren, der von der früheren US-Außenministerin Condoleezza ­Rice nach der US-Invasion im Irak 2003 neu ins Spiel gebracht wurde. Auf der Landkarte dieses »Neuen Mittleren Ostens« wird die heutige Küstenregion abgebrochen und einem »Großlibanon« einverleibt. Die Sollbruchstelle verläuft entlang einer Linie von Qusair, Homs, Hama und Idlib. Die Vorbereitungen dafür treffen die bewaffneten Gruppen derzeit in der Provinz Idlib, nahe der türkischen Grenze. Dort soll ein »befreites Gebiet« entstehen, ein Aufmarschgebiet für islamistische Kämpfer wie im libyschen Bengasi 2011.

* Aus: junge Welt, Freitag, 25. Mai 2012


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