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Syriens Probleme können nur im Dialog gelöst werden. Vor Verfassungsreferendum am Sonntag

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Am kommenden Sonntag (26. Feb.) sind die Syrer aufgerufen, bei einem Referendum über eine neue Verfassung abzustimmen. Vier Monate hatte eine Kommission von rund 30 Juristen, Politikern und Ökonomen mit Hilfe von Rechtsexperten das Dokument ausgearbeitet. Das aus Unabhängigen, Mitgliedern der Baath-Partei und Teilen der Opposition zusammengesetzte Gremium hat nach eigenen Angaben Verfassungen aus aller Welt geprüft und legte schließlich ein Dokument von 157 Artikeln vor. Verbreitet wird es über Funk und Fernsehen, fast rund um die Uhr finden Debatten statt, in denen kontroverse Positionen ausgetauscht werden. Tausende Exemplare des Verfassungsentwurfs wurden als Broschüre unter anderem an Universitäten verteilt.

Drei Studenten gehören zu den rund 200 Interessierten, die am späten Montag nachmittag ins Riad-Said-Konferenzzentrum nahe der Sulayman-Taquie-Moschee gekommen sind, um an einer öffentlichen Debatte über die Verfassung teilzunehmen. Angekündigt sind drei Mitglieder der Kommission, darunter ein Unabhängiger, ein Mitglied der Baath-Partei und Kadri Jamil von der oppositionellen »Volksfront für Veränderung und Befreiung«. Die jungen Männer, Studenten der Informationstechnologie in Damaskus, blättern in dem Heftchen mit dem Verfassungstext. Artikel 3 gefalle ihnen nicht, der solle neu formuliert werden, auch Artikel 153 entspreche nicht ihren Vorstellungen. Artikel 3 besagt, daß der syrische Präsident ein Muslim sein muß und die islamische Rechtsprechung (Scharia) eine bedeutende Quelle der syrischen Rechtsprechung ist. Der Staat respektiere »alle Religionen« und versichere, daß »alle religiösen Rituale frei ausgeübt« werden könen, sofern sie nicht »der öffentlichen Ordnung widersprechen«. Das Familienrecht der Religionsgemeinschaften werde »geschützt und respektiert«. Artikel 153 besagt, daß die vorliegende Verfassung frühestens nach 18 Monaten wieder geändert werden könne. Geltende Gesetze müssen innerhalb von drei Jahren entsprechend der Verfassung geändert werden (Artikel 154). Während der Debatte meldet sich ein anderer Student zu Wort und will wissen, warum es nicht einen Artikel über das Mindesteinkommen der Bevölkerung gebe. Ein weiterer kritisiert, daß ein von ihm vor Monaten schon ausgearbeiteter Verfassungsentwurf nicht in die Diskussion einbezogen worden sei. Umstritten ist auch Artikel 84, in dem u.a. festgelegt ist, daß ein Kandidat für das Präsidentenamt »nicht weniger als zehn Jahre ständig in Syrien gelebt haben muß« und nicht mit einer Ausländerin verheiratet sein darf.

Bei Interviews im Damaszener Stadtteil Mezzeh, wo es vor wenigen Tagen bei Protest- und Trauermärschen Tote und Verletzte gab, ist die Stimmung über die Verfassung unterschiedlich. Er habe an dem Morgen des Protestmarsches sein Geschäft nach einer Stunde wieder geschlossen und sei nach Hause gefahren, sagt der 50jährige Abdulkerim Al-Shurafa, der mit seinem Cousin zusammen eine Drogerie betreibt. Seine politische Meinung werde er für sich behalten, sagt er in gutem Englisch. Auch wenn die Gewalt im Land anhalte, sei die neue Verfassung »eine gute Idee«, erklärt der Mann. Alle Syrer seien besorgt über die Situation im Land, es müsse einen Dialog geben, »an dem alle teilnehmen sollen«.

Rula und Basira sind Freundinnen und arbeiten in der Administration eines staatlichen Krankenhauses. Sie haben sich in den lokalen Medien über die Verfassung informiert. Beide kritisieren Artikel 3 der Verfassung, werden aber dennoch zustimmen. »Änderungen können später vorgenommen werden.«

Nur wenige Schritte weiter diskutieren in einem kleinen Laden zwei Brüder gerade mit einem Freund über die Proteste am vergangenen Wochenende. Beide seien sie dabei gewesen, sagen die Männer, die ihre Namen nicht nennen möchten. Sie verstehen, daß die Menschen im Land Veränderungen wollten, »zu lange haben bestimmte Leute hier das Sagen gehabt«, meint einer der beiden. Die Verfassung sei nur geschrieben, um »dem Regime das Überleben zu sichern«, ist er überzeugt. Keiner von ihnen werde an dem Referendum teilnehmen, auch nicht, um mit »Nein« zu stimmen, sagt der andere und fügt voller Mißtrauen hinzu: »Wenn sie sehen, daß ich mit ›Nein‹ gestimmt habe, kriege ich Probleme.«

Der Verfassungsentwurf (engl.) auf www.sana.sy

* Aus: junge Welt, 23. Februar 2012


Organisation für islamische Zusammenarbeit warnt vor Eingreifen in Syrien **

Die Organisation für islamische Zusammenarbeit (OIC) hat die Weltgemeinschaft vor einem militärischen Eingreifen in Syrien gewarnt.

„Wir sind gegen eine ausländische militärische Einmischung in die Abläufe in Syrien“, sagte OIC-Generalsekretär Ekmeleddin İhsanoğlu nach Angaben der aserbaidschanischen Agentur Trend. Ein militärisches Eingreifen könnte einen großen Krieg in der Region provozieren.

In Syrien dauern seit rund elf Monaten gewaltsame Proteste gegen Präsident Assad an, der zwar Reformen angekündigt hat, jedoch Gewalt gegen die Gegner einsetzt. Laut UN-Angaben sind bei den Gefechten bereits 5400 Menschen getötet worden. Nach Darstellung der syrischen Behörden kämpft die Armee gegen gut bewaffnete Extremisten.

Am 4. Februar hatten Russland und China einen von Marokko und anderen Staaten vorgelegten Resolutionsentwurf zu Syrien mit einem Veto blockiert. Dies war bereits die zweite Syrien-Resolution, die im Weltsicherheitsrat am Widerstand Russlands und Chinas scheiterte. Im Oktober hatten beide Staaten schon einmal einen Resolutionsentwurf, der einen internationalen Waffengang gegen das Assad-Regime nicht ausschloss, abgelehnt, um das „libysche Szenario" in Syrien zu verhindern.

** Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 23. Februar 2012


UN-Nothilfekoordinatorin soll Mission in Syrien nicht politisieren - Russlands Außenamt ***

Russlands Außenministerium hat den Beschluss von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon unterstützt, die UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos nach Syrien zu schicken. Moskau ruft Valerie Amos auf, sich bei der Hilfe für die Zivilbevölkerung nur von humanitären Erwägungen leiten zu lassen, teilte die Presseabteilung des Ministeriums am Donnerstag (23. Feb.) mit.

„Eine Politisierung dieser empfindlichen (humanitären) Sphäre ist unzulässig. Die Lieferung der Hilfsgüter an die syrische Bevölkerung muss ohne militärische Begleitung erfolgen“, betonte das russische Außenamt.

„Wir appellieren an die Sonderbotschafterin des UN-Generalsekretärs, bei der Einschätzung der humanitären Situation in Syrien und der Bedürfnisse der Landesbevölkerung unvoreingenommen, unpolitisiert und objektiv zu handeln, genauso wie sie bei den akuten Situationen in Libyen und dem Sudan gehandelt hat. Wir rechnen darauf, dass Valerie Amos sich bei der Erfüllung ihres Auftrags auf die Mobilisierung von Spendemitteln aller Staaten, die daran teilzunehmen bereit sind, und nicht einzelner Ländergruppen stützen wird“, heißt es.

Moskau brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass „alle syrischen Seiten mit der Mission von Valerie Amos konstruktiv zusammenarbeiten werden“.

Der Weltsicherheitsrat hatte die Nothilfekoordinatorin auf Russlands Initiative nach Syrien geschickt, um in Übereinstimmung mit allen Seiten eine sichere Lieferung von Hilfsgütern zu gewährleisten. „Russland ist zu einer ehrlichen kollektiven Arbeit in dieser Richtung in der Uno bereit“, teilte der Amtssprecher des Außenministeriums Russlands, Alexander Lukaschewitsch, am Dienstag mit.

Syrien wird seit fast einem Jahr von gewaltsamen Protesten gegen Präsident Baschar al-Assad erschüttert. Assad hatte zwar Reformen angekündigt, setzt jedoch Gewalt gegen die Demonstranten ein. Täglich berichten die Medien über immer neue Opfer sowohl unter den Zivilisten als auch unter den Soldaten und Polizisten. Laut UN-Angaben sind bei den Gefechten insgesamt bereits mehr als 5400 Menschen getötet worden.

Moskau besteht auf Verhandlungen mit der syrischen Landesführung und auf der Aufnahme eines Dialogs zwischen allen politischen Kräften Syriens.

*** Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 23. Februar 2012


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