Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Aleppo vor der "Mutter aller Schlachten"

In der nordsyrischen Wirtschaftsmetropole leben drei Millionen Menschen unterschiedlicher Herkunft

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Die syrischen Rebellen stehen laut Agenturmeldungen bereit, sich in die »Mutter aller Schlachten« zu stürzen: Es geht um die Wirtschaftsmetropole Aleppo, eine traditionsreiche Stadt.

»Wasser und Strom sind knapp geworden, Brot ist schwer zu finden, auch kein Benzin.« Der Mann am anderen Ende der Leitung sitzt in Aleppo in seinem Haus. Die Versorgung in der Stadt sei durch die Kämpfe eingeschränkt, Lastwagen mit Lebensmitteln und Benzin führen nicht mehr regelmäßig, doch von Krieg in Aleppo oder um die Stadt könne noch keine Rede sein, sagt der Mann am Freitagvormittag. »Unsere Stadt ist dreigeteilt. In den Außenbezirken gibt es Gebiete, wo arme Leute leben. Wir haben die Viertel des Mittelstands, da wohne ich. Und es gibt Gegenden, wo die Reichen leben.« In seinem Viertel sei es ruhig. Die bewaffneten Gruppen sickerten durch die Armenviertel in die Stadt ein, dort habe es auch Kämpfe gegeben. »Wir hören aus den Medien, dass eine große Militäroperation bevorstehe, mehr wissen wir hier auch nicht.«

Der Mann möchte nicht, dass sein Name genannt wird. »Lassen Sie mich nur eins sagen: Ich bin Patriot.« Reformen wollten doch alle Syrer, »aber nicht mit Waffen und Krieg«.

Nach dem Beginn der bewaffneten Unruhen in Syrien vor einem Jahr war es in Aleppo weitgehend ruhig geblieben. Wohl gab es wie überall im Land Sympathiekundgebungen, vor allem auf dem Campus der Universität. Sicherheitskräfte sollen dort Augenzeugenberichten zufolge hart durchgegriffen haben. Die Mehrheit der Aleppiner hält sich aber bis heute aus der Konfrontation heraus.

Unter den drei Millionen Menschen in der Wirtschaftsmetropole sind Araber, Kurden, Turkmenen, Tscherkessen und Armenier, deren Vorfahren 1916 vor der Verfolgung osmanischer Truppen flohen und in Syrien, Libanon und Irak Zuflucht fanden. Die Vorbehalte gegenüber der Türkei und der von ihr unterstützten Muslimbruderschaft sind groß. Das gilt vor allem für die Kurden und die bis zu 20 Prozent Christen in Aleppo, von denen viele zur Wirtschaftselite des zählen.

Aleppo ist von jeher eine Stadt der Händler, denn sie liegt an der historischen Seidenstraße und ist seit Jahrtausenden ein wichtiger Knotenpunkt zwischen Nord und Süd, zwischen dem Mittelmeer und Asien. Die Umgebung ist reich an Oliven, Obst und Gemüse. Tausende Familienbetriebe verarbeiten die Oliven für den Lebensmittelmarkt, stellen Öl und Seifen her. Aleppo hat eine lebhafte Textil- und Schuhindustrie, dichte Kiefernwälder liefern den Rohstoff für Möbel, die Verarbeitung von Marmor und Naturstein ist international bekannt.

Die Aleppiner profitierten von der wirtschaftlichen Öffnung des Landes, die Bashar al-Assad betrieb. 2005 begann das Land, die staatliche Planwirtschaft vergangener Jahre in eine soziale Marktwirtschaft zu überführen, was Investoren anzog. Der Ausbau des Tourismus, die Öffnung der Grenze zur Türkei, die Aufhebung der Visapflicht, die Gründung von Freihandelszonen und der Ausbau der türkisch-syrischen Infrastruktur veränderten das Klima in der Region. Mit dem Umschwenken der Türkei und der Schließung der Grenzübergänge für den Warenverkehr ist dieser Umschwung bis auf Weiteres gestoppt.

Aus der jüngeren Geschichte hat Aleppo ein schweres Erbe zu tragen. Als die Muslimbrüder 1978 einen bewaffneten Aufstand gegen Hafez al-Assad und die Baath-Partei in Hama begannen, der bald auf Homs, Damaskus und Idlib übergriff, blieb die Stadt nicht von Gewalt verschont. Mehr als 300 Vertreter der herrschenden Baath-Partei wurden in Aleppo zwischen 1979 und 1981 ermordet. Auch islamische Prediger, die sich gegen den Aufstand ihrer Glaubensbrüder wandten, fanden den gewaltsamen Tod. Nachdem 1979 Dutzende Soldaten an der Militärakademie in Aleppo bei einem Angriff der Muslimbrüder massakriert worden waren, ließ Assad seine Truppen hart durchgreifen. Fortan wuchs der Blutzoll der Muslimbrüder und ihrer Anhänger. Der Aufstand fand 1982 ein tödliches Ende in Hama.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 28. Juli 2012


Aleppo - Syriens Königgrätz?

Die Schlacht um die Stadt könnte entscheidend im Bürgerkrieg sein

Von Ingolf Bossenz **


2006 wurde ihr als erster Stadt der Titel »Hauptstadt der Islamischen Kultur« verliehen. Jetzt drohen der Metropole im Nordwesten Syriens Tod und Zerstörung.

»Gürtel des Todes«, »Mutter aller Schlachten«, Massaker, Blutbad - in den Nachrichtenagenturen wurde am Freitag tief in die Kiste mit den martialischen Expressionen gegriffen, um die eskalierende Situation in Syrien zu beschreiben.

Auch wenn sich die Quellenlage wiederum auf eher mit Vorsicht zu genießende Informationskanäle wie die »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« beschränkte, schälte sich die nordwestliche Wirtschaftsmetropole als derzeit am schwersten umkämpfter Ort im syrischen Bürgerkrieg heraus. Gefechte, die sich Aufständische und Regierungssoldaten am Freitag dort lieferten, wurden als Vorboten einer Großoffensive der syrischen Armee gewertet. Militär der Regierung von Präsident Baschar al-Assad soll mehrere Stadtviertel beschossen haben.

Insgesamt, so wird kolportiert, sollen sich in und um Aleppo Tausende Aufständische zur Verfügung halten. »Wir sind bereit für die Mutter aller Schlachten«, sagte der örtliche Rebellenkommandeur Abu Omar al-Halebi der Agentur dpa am Freitag am Telefon. Zu den 2500 Kämpfern in der Stadt seien noch einmal 3000 aus anderen Landesteilen zur Verstärkung angerückt. Auch die regierungsnahe Damaszener Zeitung »Al-Watan« schrieb vom Kampf um Aleppo als der »Mutter aller Schlachten«. Sogar von der »Entscheidungsschlacht« ist bereits die Rede.

Ungeachtet orientalisch-hyperbolischer Propaganda: Der Fall Aleppos an die Regierungsgegner wäre in der Tat ein nicht zu überschätzender Schlag gegen das Assad-Regime. Aleppo gilt als die Handelsmetropole Syriens und ist die zweitgrößte Stadt des Landes nach der Einwohnerzahl. Hinzu kommt die für die Aufständischen strategisch günstige Nähe zur türkischen Grenze. Weshalb die Bataille von beiden Seiten mit äußerster Erbitterung und Brutalität geführt werden wird. Historische Parallelen zur Schlacht bei Königgrätz 1866, durch die Preußen sich die Vorherrschaft in Deutschland sicherte, scheinen durchaus nicht bemüht.

Die russische Agentur RIA Novosti berichtete über Pläne der Oppositionellen, die Handelsmetropole Aleppo zu ihrem Hauptstützpunkt zu machen. Zudem soll die bewaffnete Opposition nach der Niederlage in Damaskus wieder Mut fassen. 2500 Kämpfer der »Freien Syrischen Armee«, so RIA Novosti, seien dort getötet worden.

Die Befürchtungen der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, die syrische Armee könnte in Aleppo schwere Waffen wie Panzer, Artillerie, Kampfhubschrauber und Kampfjets einsetzen, sind wohl nur allzu berechtigt. Immerhin beschuldigte die südafrikanische Juristin nicht nur die Regierung von Präsident Assad, sondern auch Teile der Opposition, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen verübt zu haben. Pillay erreichen demnach zunehmend Berichte, wonach Kämpfer der Opposition Gefangene foltern oder töten. »Mord und willkürliche Tötungen, ob durch Regierungs- oder Oppositionskräfte, könnten Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen«, so die Kommissarin. »Wer sie verübt, sollte nicht glauben, dass er der Justiz entkommt.«

Unterdessen sehen immer mehr Syrer ihr Heil nur noch in der Flucht vor Kampf, Zerstörung und Ruin. Laut UN-Angaben sind mittlerweile mehr als 150 000 Menschen aus Syrien in die Nachbarländer geflohen. Mindestens 1,5 Millionen sollen in dem Land selbst auf der Flucht sein. Auch Irak wird zunehmend als rettendes Terrain betrachtet. Das Land hatte erst vor einer Woche seine Grenze für syrische Flüchtlinge geöffnet. Makabre Ironie der Geschichte: In den vergangenen zehn Jahren flohen Iraker vor dem Krieg in ihrer Heimat in das damals friedliche Syrien.

Der Direktor des Museums für Islamische Kunst in Berlin, Stefan Weber, sieht indes noch anderes bedroht. »Wir haben natürlich nicht nur um die Menschen Angst, sondern auch um diese fantastischen Kulturschätze, die in diesem Krieg dann nicht geschont werden«, sagte er im Rundfunk.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 28. Juli 2012


Zurück zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage