Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Rußland will vermitteln

Moskau wirft Westen Eskalation in Syrien-Konflikt vor

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

An die 23 Tonnen Lebensmittel und 400 Behälter mit Kochgas wurden am Mittwoch im Damaszener Stadtteil Midan an die Bevölkerung verteilt. Die hatte in den letzten Tagen heftig unter militärischen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Aufständischen und der Armee und Sicherheitskräften gelitten. Tausende waren zu Verwandten aufs Land oder in die weitgehend leerstehenden Hotels in der Innenstadt geflohen. Die weniger Wohlhabenden fanden Zuflucht in Schulen der Nachbarviertel, versorgt von zivilen Komitees und Freiwilligen des Roten Halbmonds. Am Montag waren die meisten Familien nach Midan zurückgekehrt. Zuvor war der Gouverneur von Damaskus durch die Straßen gegangen und hatte versprochen, die beschädigten Gebäude wiederherstellen und die Einwohner rasch mit allem Nötigen versorgen zu lassen.

Die Gewalt geht indes weiter. Während sich der Alltag und das Wirtschaftsleben im Zentrum der syrischen Hauptstadt allmählich normalisieren, berichten offizielle Stellen von Razzien und militärischen Operationen in vielen Vororten und Satellitenstädten, die Damaskus wie ein Ring umschließen. Am Donnerstag war erneut der Stadtteil Yarmuk abgeriegelt, während aus den angrenzenden Vierteln von Tadmoon, Asalia und Khaddam von Kämpfen berichtet wurde. Schon in den frühen Morgenstunden waren schwere Detonationen zu hören, auch Qudseiya, das etwa zehn Kilometer von Damaskus entfernt liegt, war wieder Schauplatz von Kämpfen. Nach offiziellen Angaben sind »den Terroristen schwere Verluste zugefügt worden«, unter den Toten seien erneut Männer aus anderen arabischen Staaten identifiziert worden.

Einwohner aus Yarmuk kritisierten gegenüber jW telefonisch den Einsatz von schweren Waffen gegen die Gruppen, »die nur leichte Waffen« trügen. Viele Familien hätten sich vor den Kämpfen in die ruhigen Palästinenserviertel in Sicherheit gebracht, wo sie vorerst in einer Schule des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) versorgt würden. Yarmuk gilt gemeinhin als Flüchtlingslager. Allerdings ist das 1948 entstandene Camp inzwischen Teil der immer größer werdenden Metropole Damaskus. Nach Angaben eines politischen Führers der Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) sind von der rund eine Million Menschen, die dort leben, nur etwa 180000 Palästinenser. Flüchtlinge vom Golan haben in dem Lager ebenso eine neue Heimat gefunden wie Familien aus Homs und zugezogene Alawiten. Die Palästinenser hielten sich aus dem Konflikt heraus, so der DFLP-Verantwortliche, räumte aber im Gespräch mit jW ein, daß diese Haltung immer schwieriger werde. Yarmuk sei vernetzt durch die Lokalen Koordinationskomitees, die insbesondere von jungen Leuten viel Zulauf hätten. »Wir arbeiten täglich daran, daß unsere Leute sich nicht in den Konflikt hineinziehen lassen.«

Rußland hat erneut seine Bereitschaft erklärt, Gespräche zwischen der syrischen Regierung und Parteien und Gruppen der Opposition zu vermitteln. Man werde den »Druck für einen Dialog zwischen den Syrern erhöhen«, sagte der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, am Mittwoch. »Die Opposition kann in Moskau Kontakte untereinander knüpfen, ihre Position bekräftigen und Verhandlungen mit der Regierung aufnehmen«, so Tschurkin. Das Verhalten des Westens »führt zu einer schlimmeren Eskalation der Konfrontation«. Die USA hätten offen von ihrer Absicht gesprochen, »den Sicherheitsrat zu umgehen«. Washington und desen Partnerstaaten würden »die Last der Verantwortung tragen für die katastrophalen Folgen ihres Verhaltens«. Der russische Außenminister Sergej Lawrow kritisierte erneut, daß Washington den Anschlag vom 19. Juli in Damaskus, bei dem hochrangige Militärs getötet worden waren, nicht verurteilt habe. Das käme einer Rechtfertigung gleich, so Lawrow.

Das syrische Außenministerium teilte derweil mit, daß der Botschafter Abdullatif Al-Dabbagh, der sich am Mittwoch aus den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Katar abgesetzt hatte, bereits seit dem 4. Juni 2012 von seinen Pflichten entbunden war. Seine Frau, Lamia Al-Hariri, sei nicht Botschafterin in Zypern gewesen, sondern war beauftragt, die Vertretung in Nikosia zu leiten, bis ein neuer Leiter benannt sei. Medien hatten berichtet, daß zwei weitere Botschafter sich von der syrischen Führung losgesagt hätten. Al-Dabbagh und Al-Hariri haben unterdessen Aufnahme in Katar gefunden.

* Aus: junge Welt, Freitag, 27. Juli 2012


Armee und Rebellen kämpfen weiter um Aleppo

Auseinandersetzungen auch in Damaskus / Zwei weitere syrische Diplomaten übergelaufen **

Im Kampf um die nordsyrische Millionenstadt Aleppo bereiten sich Rebellen und Regierungstruppen auf entscheidende Gefechte vor. Die ersten massiven Angriffe der Armee konnten die Aufständischen nach eigenen Angaben zurückschlagen.

Syrische Rebellen und das Militär des Landes haben auch am Donnerstag weiter um die nordwestliche Wirtschaftsmetropole Aleppo gekämpft. Nach Angaben der in London ansässigen »Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte« waren vor allem die Stadtviertel Mohafasa, Maschhad und Salaheddin betroffen.

In der Hauptstadt Damaskus gab es nach Berichten von Augenzeugen Kämpfe im palästinensischen Flüchtlingslager Jarmuk im Süden der Stadt. Dabei seien Panzerabwehrraketen und Maschinengewehre zum Einsatz gekommen, sagte ein Bewohner des Lagers gegenüber AFP. Der Londoner Beobachtungsstelle zufolge wurden im Stadtviertel Kabun, das von der syrischen Armee kontrolliert wird, 14 Leichen entdeckt.

Bei den seit März 2011 andauernden Auseinandersetzungen wurden nach unbestätigten Oppositionsangaben bisher mehr als 19 000 Menschen getötet. Allein am Mittwoch gab es demnach landesweit 143 Tote, darunter 75 Zivilisten. In Aleppo, wohin sowohl die Rebellen als auch die Armee zuletzt Verstärkung entsandten, sollen 15 Zivilisten gestorben sein.

Die USA haben bestätigt, dass sich zwei weitere ranghohe syrische Diplomaten abgesetzt haben. Es handle sich um die Botschafter Syriens in Zypern und den Vereinigten Arabischen Emiraten, teilte der Sprecher des Weißen Hauses, Jay Carney, am Mittwoch mit. Bei Assads Vertrauten wachse die Einsicht, dass seine Tage an der Macht gezählt seien.

Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat mit einem Militäreinsatz gegen Rebellen der in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im benachbarten Syrien gedroht. Assad habe den an die Türkei grenzenden Norden des Landes PKK-Kämpfern anvertraut, behauptete Erdogan am Mittwoch im türkischen Fernsehsender Kanal 24. Dass die Türkei das Recht habe, gegen die Rebellen vorzugehen, sei eine »Selbstverständlichkeit« und Teil der Verteidigungsstrategie des Landes.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 27. Juli 2012


Zurück zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage