Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bürgerkrieg wird angefacht

Jahresrückblick 2012. Heute: Syrien. USA, EU und arabische Nachbarn schüren Gewalt. Kein Interesse an friedlicher Lösung

Von Karin Leukefeld *

Die Lage in Syrien hat sich 2012 dramatisch verschlechtert. Die ursprünglichen Forderungen der Protestbewegung nach politischen Reformen, wirtschaftlicher Teilhabe und einer friedlichen, freien Entwicklung wurden von der militärischen Eskalation verdrängt.

Die Auslandsopposition und die Mehrheit der bewaffneten Gruppen, die sich der »Freien Syrischen Armee« zurechnen, sowie islamistische und Söldnergruppen setzten auch im Jahr 2012 weiter auf den »Sturz des Regimes« durch Krieg. Unterstützt wurden sie dabei von der Staatengruppe der »Freunde Syriens«. Deren Führung aus USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Türkei und Jordanien sowie Katar und Saudi-Arabien erkannte im April 2012 den »Syrischen Nationalrat« und im Dezember 2012 die Anfang November in Doha gegründete »Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte« offiziell als »legitime Vertretung des syrischen Volkes« an. Im UN-Sicherheitsrat spiegelte sich diese Politik im Verhalten der drei westlichen Vetomächte USA, Großbritannien und Frankreich sowie ihrer Verbündeten wider. Die Türkei, Libanon und Jordanien nahmen Zehntausende Flüchtlinge aus Syrien auf und tolerierten zugleich Ausbildungslager für die Aufständischen. Schmuggler für Waffen und Menschen hatten weiterhin Hochkonjunktur. Um die Türkei vor angeblichen Angriffen aus Syrien zu schützen, beschloß die NATO kurz vor Weihnachten die Entsendung von Patriot-Raketen in das syrisch-türkische Grenzgebiet. Deutschland beteiligt sich an dieser Mission mit 400 Soldaten.

Berlins »Strafmaßnahmen«

Berlin regte auch im zu Ende gehenden Jahr immer neue Runden von EU-Sanktionen als »Strafmaßnahme gegen das Regime« an. Die deutsche Botschaft in Damaskus schloß bereits Anfang Januar 2012. Syriens Botschafter in Berlin, Radwan Lutfi, wurde im Mai aus Deutschland ausgewiesen. Als Vorwand dafür diente ein bis heute unaufgeklärtes Massaker an mehr als 80 Personen in Houla, das der syrischen Armee angelastet wurde. Im August 2012 wurde in Berlin das Projekt »The Day After« der Öffentlichkeit vorgestellt, das seit Anfang 2012 politisch und finanziell von der Stiftung Wissenschaft und Politik und dem United States Institute of Peace betreut wurde. Die »Nichtregierungsorganisation« gleichen Namens, die als Autor des Projekts dargestellt wird, besteht aus rund 40 syrischen Oppositionellen, die überwiegend im Ausland leben.

Die innersyrische Opposition fand in westlichen Medien vergleichsweise wenig Gehör. Ihre Forderungen nach einem Waffenstillstand, einem Stopp der ausländischen Intervention und einer von den Syrern selbst gestalteten politischen Übergangslösung wird von den BRICS (Brasilien, Rußland, Indien, China, Südafrika) sowie den blockfreien Staaten unterstützt. Im UN-Sicherheitsrat kommt das durch die Haltung der Vetomächte Rußland und China zum Ausdruck.

Sabotierte Beobachter

Die von der Arabischen Liga entsandte Beobachtermission wurde Ende Januar von Saudi-Arabien und Katar sabotiert. Ein von der Mission erstellter Bericht wurde sowohl von der Arabischen Liga als auch vom UN-Sicherheitsrat ignoriert. UNO-Sondervermittler Kofi Annan erreichte Ende Juni die Genfer Vereinbarung, der von allen Außenministern der Vetomächte im Sicherheitsrat zugestimmt wurde. Sie sieht einen Waffenstillstand und die Bildung einer Übergangsregierung aus der jetzigen Regierung und der Opposition vor. Präsident Baschar Al-Assad stimmte zu und benannte mit Ali Haidar den Minister für Nationale Versöhnung als Ansprechpartner. Washington, Paris und London torpedierten die Vereinbarung jedoch, woraufhin Kofi Annan im August zurücktrat. Nachfolger wurde der ehemalige algerische Außenminister Lakhdar Brahimi. Sein drittes Treffen mit dem syrischen Präsidenten Assad am 24. Dezember, bei dem erneut Vorstellungen über eine politische Lösung ausgetauscht wurden, wurde von der Auslandsopposition umgehend kritisiert.

Eine bessere Ausrüstung und aggressivere Angriffe seitens der bewaffneten Aufständischen trugen die Kämpfe jedoch in das Umland von Damaskus und nach Aleppo. Im Juli kamen bei einem Anschlag Unbekannter vier hochrangige Militär- und Sicherheitsoffiziere in der Hauptstadt ums Leben, die »Freie Syrische Armee« übernahm die Verantwortung. Im September wurde in Damaskus das Hauptquartier der Streitkräfte angegriffen. Schwere Explosionen, zumeist verursacht von mit Sprengstoff beladenen und ferngezündeten Fahrzeugen, terrorisierten die Bevölkerung in Damaskus, Aleppo und anderen Städten. Die Verantwortung übernahmen islamistische Gruppen wie die Al-Nusra-Front und die Al-Tawhid-Brigade.

Terror gegen Minderheiten
Ende des Jahres hat das syrische Militär die Kontrolle über die strategisch wichtige Industriemetropole Homs weitgehend zurückerlangt, wo es im Februar zu heftigen Kämpfen mit Aufständischen gekommen war. Gezielt greifen die bewaffneten Aufständischen in verschiedenen Teilen des Landes inzwischen religiöse und ethnische Minderheiten an, die sich explizit aus dem Konflikt in Syrien heraushalten wollten. Auf dem entmilitarisierten Golan überfielen Rebellen im November drei Dörfer und provozierten damit einen Konflikt zwischen Syrien und den israelischen Streitkräften an der Grenze zum von Israel seit 1967 besetzten Teil der Golanhöhen.

Die Zahl der Toten in Syrien steigt weiter, die Zerstörung des Landes nimmt zu. Die Produktion sinkt, das Leben wird teuer. Knapp eine halbe Million Menschen sind in die Nachbarländer geflohen, mehr als zwei Millionen leben als Flüchtlinge im eigenen Land. Die Topmeldungen an Heiligabend besagten, daß »Syrische Truppen Killergasbomben in Homs« eingesetzt und die Luftwaffe wartende Menschen vor einer Bäckerei in Halfaya (Provinz Homs) bombardiert hätten. Offizielle syrische Stellungnahmen zu den Vorwürfen, die die syrische Nachrichtenagentur SANA veröffentlichte, wurden hingegen knapp oder gar nicht zitiert.

Das »Geschäft mit der Hilfe« boomt. Zur Bewältigung der humanitären Krise fordern die Vereinten Nationen 1,04 Milliarden US-Dollar für das erste Halbjahr 2013. Darin enthalten ist das Budget für 38 Organisationen, die den Flüchtlingen allein in Jordanien helfen. Man erwarte, so heißt es in der Begründung für den hohen Finanzbedarf, wöchentlich »bis zu 100000 syrische Flüchtlinge« in Jordanien. Die Zahl basiert auf einer Empfehlung der Regierung in Amman. Deren Soldaten bauen nicht nur Flüchtlingslager, sie bilden auch ausländische Aufständische in ihren Trainingslagern aus, die von dort nach Syrien eingeschleust werden. Das berichtete das US-Nachrichenmagazin McClatchy Mitte Dezember unter Berufung auf Kämpfer, die selber von jordanischen Offizieren ausgebildet worden waren. Beaufsichtigt wurde die Ausbildung von Geheimdienstoffizieren aus Großbritannien und den USA.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 27. Dezember 2012


Zurück zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage