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Geschürter Konflikt

Jahresrückblick 2011. Heute: Syrien. Proteste für Reformen werden von außen instrumentalisiert. USA und EU wollen Vorgehen wie in Libyen

Von Karin Leukefeld *

Daraa ist die Hauptstadt der gleichnamigen kleinen Provinz im Südwesten Syriens, die an Jordanien grenzt. Es war Anfang März, als dort Jungen in ihrer Schule eine regierungsfeindliche Parole an die Wand schrieben. Normalerweise hätte der Direktor die Eltern über die Sachbeschädigung informiert und sie aufgefordert, die Wand neu zu streichen und auf ihre Kinder mäßigend einzuwirken. Doch der Mann rief nicht die Eltern, sondern die Polizei. Die Minderjährigen kamen ins Gefängnis und wurden mißhandelt. Als die Eltern beim Polizeipräsidenten die Freilassung ihrer Kinder forderten, begegnete dieser ihnen mit Hohn. Ähnlich erging es ihnen, als sie sich deshalb an den Gouverneur wandten. Anders als früher hielten die Eltern nicht still und bezahlten, um die Jungen freizubekommen, sie versammelten sich in einer zentralen Moschee und brachen zu einer Demonstration auf. Rasch wurde aus dem Zug ein Massenprotest, man forderte die Freilassung der Kinder, ein Ende der Korruption, Respekt und politische Reformen. Die mobilisierte Polizei reagierte ungeübt, bewaffnete Kräfte des Geheimdienstes schossen in die Menge, es gab Tote. Bei deren Beerdigung tags darauf war die Trauergemeinde größer als die Demonstration zuvor, in anderen Städten des Landes solidarisierten sich die Menschen. Das Regime ordnete die Freilassung der Kinder an und schickte mit Vizepräsident Faruk Al-Scharaa, der selber aus Daraa stammt, eine hochrangige Vermittlerdelegation in die Stadt. Polizeipräsident und Gouverneur wurden abgesetzt, eine Untersuchungskommission sollte die Schuldigen ermitteln.

Politische Reformen

Die Proteste weiteten sich aus. Organisiert wurden sie in Moscheen und von der »alten Garde« der syrischen Opposition, viele von ihnen Kommunisten, die lange im Gefängnis waren. Vor allem die Jugend aus wirtschaftlich vernachlässigten Randgebieten war kaum zu bremsen. Immer wieder stießen sie mit Polizisten und den mächtigen Geheimdiensten zusammen, Tausende wurden festgenommen, Hunderte starben. Die Leute von Daraa griffen zu den Waffen und wehrten sich. Blutrache war ein wichtiger Beweggrund, doch auch alte Konflikte mit der Zentralmacht brachen auf. Waffen, Geld und Kämpfer kamen schnell über die nahe gelegene Grenze aus Jordanien, wo Tausende Angehörige der Großfamilien aus Daraa leben. Radikale Prediger in Saudi-Arabien und Katar, die der in Syrien verbotenen Muslimbruderschaft oder den dogmatischen Salafisten angehören, feuerten die Kämpfer an. In den Hafenstädten Tartus und Banias, in Grenzgebieten zum Libanon, zur Türkei und dem Irak griffen sie staatliche Einrichtungen an und stellten die Machtfrage. Verhandlungen blieben ohne Ergebnis, Armee und Geheimdienste griffen ein.

Präsident Baschar Al-Assad betonte, daß sich die Einsätze nicht gegen die friedliche Protestbewegung, sondern gegen bewaffnete Gruppen richteten. Mehrfach ordnete er an, keine scharfe Munition zu verwenden, dennoch stieg die Zahl der Toten. Gleichzeitig reagierte das Regime mit Reformen: Der Ausnahmezustand, seit 1963 in Kraft, wurde aufgehoben, ein Demonstrationsrecht, ein Parteien-, ein neues Wahl-, ein Medien-, ein neues Verwaltungsgesetz wurde erlassen. Der Korruption beschuldigte Gouverneure und Polizeipräsidenten wurden entlassen, Kurden, die bisher als »staatenlos« galten, wurden eingebürgert und erhielten syrische Pässe. Assad rief zu einem nationalen Dialog auf. Die Reformen fanden nicht das erhoffte Echo. Der Syrische Nationalrat (SNR), von Teilen der Exilopposition in Istanbul gegründet, lehnte alles als »unglaubwürdig« ab. Unabhängige Kräfte und die innersyrische Opposition waren unter Bedingungen zum Dialog bereit und forderten ein Ende der Gewalt und die Freilassung aller Inhaftierten. Seit Oktober kamen rund 4000 Gefangene frei, wie viele Menschen weiter in Haft sind, ist unbekannt. Die Gewalt hielt an.

In weiten Teilen des Landes blieben die Bewohner ruhig, auch wenn sie Veränderung wollen. In den Unruhegebieten traten derweil alte Konflikte mit der Baath-Partei oder den Geheimdiensten in den Vordergrund: Ärger über Landfragen und Korruption, über Vetternwirtschaft und selbstgefälliges Verhalten der Mächtigen. Der ungelöste Konflikt zwischen der Partei und der Muslimbruderschaft, deren Aufstand gegen das Regime 1982 syrische Spezialkräfte mit einem Massaker an den Einwohnern der Stadt Hama beantworteten, wirkt unterschwellig bei vielen als Motor.

Internationale Dimension

Arabische Regimes und andere Interessierte, die schon lange auf den Sturz von Assad hingearbeitet hatten, ergriffen die Chance und handelten schnell: Geld, Waffen und Kommunikationstechnologie wurden geliefert, in den USA geschulte Kampagnenaktivisten versorgten die Medien mit täglichen »Nachrichten«, Videos und Telefonaten unklarer Herkunft. Die Muslimbruderschaft bildete mit der in Schweden erstellten Internetseite »Syrische Revolution 2011« eine Art Kommandozentrale. Sie rief zu Protesten nach den Freitagsgebeten auf, gab jedem Freitag ein Motto, das angeblich die Forderungen der »Syrischen Revolution« vermittelte: Das Volk verlange den Sturz des Regimes, eine Flugverbotszone, eine Pufferzone, einen humanitären Korridor und schließlich das Eingreifen von UN und NATO wie in Libyen. Auf die politische und mediale Anti-Assad-Kampagne von EU, USA und mit ihnen verbündeten arabischen Staaten (Katar, Saudi-Arabien, Jordanien) reagierte die syrische Führung mit Einreisebeschränkungen für Me­dienvertreter aus diesen Staaten.

Wegen zunehmender Gewalt haben die politischen Proteste abgenommen. Organisatoren der ersten Stunde haben sich in die politische Debatte zurückgezogen oder sind in Haft. Den Ton gibt heute die paramilitärische Freie Syrische Armee (FSA) an, die von der Türkei und anderen unterstützt wird. Ihre Botschaft lautet »Sturz des Regimes«, ein politisches Programm ist nicht bekannt. Nach Berichten von ausländischen Reportern, die mit der FSA eng verbunden sind (embedded journalists), soll die Gruppe in Homs den Stadtteil Baba Amr unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die UNO spricht von mindestens 5000 zivilen Toten, die syrischen Behörden geben an, daß 2000 Soldaten und Sicherheitskräfte getötet wurden. Zahlen für getötete Zivilisten nennen die Behörden nicht.

Die internationale Dimension des syrischen Konflikts zeigte sich in dem Streit darum, ob die Arabische Liga oder der UN-Sicherheitsrat in Syrien eingreifen sollten. Der Westen mit den USA und der EU wollen eine UN-Sicherheitsratsresolution durchsetzen, die ein Vorgehen wie gegen den Irak oder zuletzt in Libyen ermöglichen könnte. Rußland und China wollen den Dialog zwischen Regime und Opposition fördern und mit einer Beobachterdelegation der Arabischen Liga die Voraussetzungen dafür schaffen. Die im UN-Sicherheitsrat vertretenen blockfreien Schwellenländer Brasilien, Indien und Südafrika unterstützen dieses Vorgehen. Mit der Entsendung einer solchen Gruppe Ende Dezember haben Rußland, China und die Blockfreien zunächst einen Punktesieg errungen. Erste Beobachter haben ihre Arbeit in Homs aufgenommen.

Syrische Oppositionelle gehen davon aus, daß eine militärische Intervention bereits stattfindet, um das Land zu destabilisieren. Die Freie Syrische Armee führt einen »Krieg niedriger Intensität«, Todesschwadronen ermorden Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure, Offiziere und verüben Anschläge auf zivile und militärische Infrastruktur. Ihre hoch entwickelten Waffen werden – wie mehrere Reporter berichteten – aus dem Ausland eingeschmuggelt. Die wirtschaftliche Lage in dem Entwicklungsland hat sich dramatisch verschlechtert. Westliche und arabische Sanktionen haben Tourismus, Finanzgeschäfte und Investitionen gestoppt, Arbeitslosigkeit und Geschäftspleiten sind die Folge. Sanktionen und Isolation sollen die Syrer mürbe machen und gegen das Regime aufbringen.

* Aus: junge Welt, 31. Dezember 2011


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