Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Südafrikas moderne Tagelöhner

An Kap der Guten Hoffnung wartet ein Heer von Arbeitslosen tagtäglich am Straßenrand auf einen Job – ohne jeden Schutz, aber mit der Hoffnung auf Essen für den Abend und dem ewigen Traum von einem besseren Leben

Von Christian Selz, Kapstadt *

Seit zweieinhalb Stunden steht Ayanda Ngxande in der Akkerboom Avenue im Kap­städter Vorort Belhar. Die Gegend gleich hinter dem internationalen Flughafen ist nicht reich. Kleine eingeschossige Einfamilienhäuser verstecken sich hinter mannshohen Betonmauern. Den ausgedörrten Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen zieren ein paar zerfranste Palmen. Für den kurzgewachsenen Mann in seinem verwaschenen T-Shirt und der mit Farbspritzern übersäten Trainingshose ist all das dennoch nie erlebter Wohlstand. Ngxande ist ein moderner Tagelöhner, einer von Zehntausenden, die Montag bis Sonntag an einer der unzähligen Straßenecken des Landes stehen und auf Arbeit warten. Ein Heer, das täglich seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt, ohne jeglichen Schutz. Sie mähen Rasen, streichen Wände, ziehen Mauern – und hoffen, auch am Tag danach wieder etwas Geld verdienen zu dürfen.

Kein Auto hält

Es ist Samstag vormittag und Ngxande steht in einer Gruppe von Männern vor dem Eingang des Stadtteil-Friedhofs. Sie warten auf einen Pick-up. Denn Pick-ups bringen Arbeit, zumindest für ein paar Stunden, vielleicht für einen Tag. Hält einer, beginnt der Kampf um die wenigen Plätze, es wird gedrückt, geschoben, die begehrten Plätze reichen meist nicht für alle Wartenden.

Heute hat Ngxande Glück, es ist wenig los, nur acht Männer warten mit ihm. An anderen Tagen kommen bis zu 40, erzählt er. Doch bisher hat kein Auto gehalten.

Ngxande ist erst 26 Jahre alt, doch das Leben hat ihn wie einen Vierzigjährigen gezeichnet. Tiefe Furchen graben sich in sein Gesicht, der Blick ist verkniffen, mißtrauisch. Der junge Arbeiter stammt ursprünglich aus Mthatha. Die einstige Hauptstadt des während der Apartheid eingerichteten Homelands Transkei ist noch heute Zentrum einer der ärmsten Regionen Südafrikas. In der vierten Klasse entschied die Mittellosigkeit seiner Familie auch über Ngxandes Schicksal. Er mußte die Schule abbrechen. Seine Eltern konnten die Gebühren nicht mehr bezahlen. »Wir hatten zu kämpfen, um nicht zu verhungern«, erzählt Ngxande halb entschuldigend, halb wie eine Selbstverständlichkeit. Vor sechs Jahren kam er nach Kapstadt, die glänzende Metropole am Kap der Guten Hoffnung. »Ich dachte, ich könnte eine feste Stelle finden, aber das ist nicht passiert«, erzählt er.

Seit fünf Jahren steht er nun vor dem Friedhof an der Straße. Die Touristen, die zwischen Stränden und Weinbergen den Urlaub ihres Lebens verbringen, donnern in Jumbo-Jets über seinen Kopf. Doch Ngxande schaut gar nicht auf. Er ist den Lärm gewohnt. Sein nervöser Blicke fokussiert immer wieder die Straße. Bremst ein Wagen ab? Macht ein Fahrer ein Handzeichen? Gibt es Arbeit für heute?

Inzwischen ist es 10.30 Uhr, seit um acht Uhr früh stehen die meisten der Männer hier. Plötzlich hält einer der ersehnten Pick-ups am Straßenrand. Für einen Moment scheint es, als könnten sich die Hoffnungen der Männer doch noch erfüllen. Sie springen euphorisch auf. Doch der Fahrer hat sich nur im Vorstadtdschungel verirrt und muß in seine Karte schauen. Mit gesenkten Köpfen schleichen die Arbeiter zurück zum Bordstein. Einige haben sich bereits etwas weiter von der Straße weg in den Schatten gesetzt. Die Sonne brennt, die Aussichten schwinden. »Es geht ans Herz, denn manchmal muß ich ohne Essen nach Hause gehen, es ist wirklich hart«, sagt Ngxande.

Nur einer hat Arbeit

Zuhause, das ist für ihn eine aus Spanplatten zusammengenagelte Hütte in der Township Vredehof Farm. Seine Mutter hatte sie einst erbaut, sie kam zuerst nach Kapstadt. Inzwischen hat sie als einzige in der Familie eine regelmäßige Arbeit, dreimal pro Woche putzt sie die Wohnungen fremder Leute. Umgerechnet 120 Euro kommen so in die Haushaltskasse. Leben müssen davon neben der drahtigen Frau mit dem Leopardenmuster-Kopftuch auch ihr Sohn Ayanda Ngxande, ihre sechs weiteren Kinder und drei Enkelkinder. Zusammen mit dem Geld, das er nach Hause bringt, reicht es gerade so zum Überleben. Etwas Maismehl, Zucker, Seife und Parafin für die Lampen, mehr ist nicht drin. Der Vater hat sein Glück 1400 Kilometer entfernt in Johannesburg versucht, doch auch er ist arbeitslos, sie sehen ihn fast nie.

Die jüngste Enkeltochter spielt gerade auf dem Küchentisch, die Hütte ist sauber, aber leer. Ein Taschenradio dudelt im Hintergrund, auf den wenigen alten Schränken stehen ein paar Plastikcontainer. Alles wird aufgehoben, aber viel ist trotzdem nicht da. Nachts teilen sich hier elf Menschen zwei Betten, eins für die Mutter, das zweite für ihre drei Töchter, alle anderen schlafen auf der vergilbten Auslegeware. Vor drei Jahren, erzählt Ngxandes Mutter, habe sie sich beim staatlichen Wohnungsbauprogramm um eines der landesweit millionenfach gebauten Sozial-Häuschen beworben. Andere, die es später beantragten, hätten in der Zwischenzeit ein Heim bekommen, sie noch nicht einmal eine Antwort. Warum? Sie weiß es nicht. Ihre Kinder spekulieren über Korruption. Die Regierung, sagen sie, komme nie in ihr Township, höchstens einmal, wenn ein Feuer einige der extrem eng stehenden Hütten niederbrennt.

Die Menschen in dem Township haben den ehemaligen Hof an der Grenze zum Flughafen inoffiziell in Freedom Farm – Freiheitsfarm – umbenannt. Sarkastischer hätten sie die informelle Siedlung kaum taufen können: Die unbefestigten Wege sind eng, steinig und staubig. Strom gibt es gar nicht, Wasser nur aus wenigen öffentlichen Hähnen, an denen die Frauen morgens mit Schubkarren und Kanistern anstehen. Sportanlagen oder Spielplätze fehlen genauso wie Toiletten. Erleichtern müssen sich die Bewohner in den Büschen kurz vor der Landebahn. Das sei nachts zwar gefährlich, erzählen Ngxandes Schwestern. Regelmäßig kommt es zu Vergewaltigungen und Raubüberfällen. Doch was bleibe ihnen anderes übrig. Und so hoffen sie täglich, daß ihr Bruder spät nach Hause kommt. Denn nur dann hat er Arbeit gefunden und sie können essen, bevor sie schlafen gehen.

David Chiutsankhondo träumt zumindest von ein bißchen mehr. Auch er ist Tagelöhner. Der 31jährige Malawier kam 2008 auf der Suche nach dem besseren Leben nach Südafrika. Gefunden hat er es nicht. Nun will er wieder zurück zu seiner Frau und seinem Sohn, die er seit über drei Jahren nicht gesehen hat. »Ich versuche, hart zu arbeiten, um Geld zu sparen, mit dem ich in Malawi ein kleines Geschäft eröffnen kann«, beschreibt der fröhliche junge Mann seine Ziele. Wie er die Zeit fernab von der Familie aushält? Chiutsankhondo nimmt eine Hand ans Ohr. »Wir benutzen das Telefon«, sagt er schelmisch in etwas gebrochenem Englisch. Seine Familie zu besuchen, wie Weihnachten 2008, das traut er sich nicht mehr. Damals hatte der Abiturient, der sich ein Studium nie leisten konnte, eine feste Stelle als Gärtner einer Kapstädter Kirchengemeinde. Doch im Heimaturlaub kassierte die malawische Polizei seinen Paß, die Regierung plante angeblich ein neues Format für die Dokumente. Die Neuausstellung dauerte Monate und als Chiutsankhondo endlich zurück nach Kapstadt kam, war sein Arbeitsplatz neu vergeben.

Also ging auch er an die Straßenecke, um zusammen mit anderen Flüchtlingen und Südafrikanern, Hoffnungsvollen und Hungernden im südlichen Surfervorort Muizenberg nach Arbeit zu suchen. Die Tagelöhner dort konkurrieren auch um den Lohn. 100 bis 150 Rand, umgerechnet zehn bis 15 Euro, bekommt Chiutsankhondo pro Tag. »Manch einer mag für 80 oder sogar 50 Rand arbeiten, wenn er lange keine Arbeit hatte, nur um an Essen zu kommen«, erzählt er.

Ganz so verzweifelt ist seine Lage nicht. Seit März 2010 läßt Chiutsankhondo seine Dienste von der südafrikanischen Non-Profit-Organisation Fundi vermitteln. Der Verein registriert die Tagelöhner und dient als Vermittler zu den Arbeitgebern. Das sind meist Privatleute, die Arbeiter für Gartenarbeiten brauchen, ein paar Zimmer streichen oder den Hof pflastern wollen. Die bewerten dann die Arbeiter für ihre Leistungen und stellen ihnen so ein Arbeitszeugnis für zukünftige Tagesjobs aus. 2500 Tagelöhner betreut der Verein in den Metropolen Südafrikas. Das ist aber nur ein Teil der 100000 Menschen, die nach Schätzung von Fundi-Geschäftsführer Peter Kratz landesweit jeden Tag an den Straßenrändern stehen, um ihre Arbeitskraft anzubieten.

Tagelöhner werden ignoriert

Amtliche Statistiken gibt es nicht. Tagelöhner sind in der Regel nirgendwo registriert, selbst Arbeitsmarktforschungsinstitute können keine Zahlen liefern. Doch der Trend liegt auf der Hand. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt nahezu konstant bei 25 Prozent. Aber die Zahl der von der Statistik als »wirtschaftlich nicht aktiv« erfaßten Menschen ist seit 2006 um 20 Prozent auf schockierende 15,1 Millionen der 33,1 Millionen Südafrikaner im arbeitsfähigen Alter angestiegen. »Die Qualität von Arbeitsplätzen ist gesunken: Gelegenheitsarbeit ersetzt feste Beschäftigung, und die meisten der neuen Jobs sind niedrig bezahlt und unsicher«, faßte Oupa Bodibe vom gewerkschaftsnahen Nationalen Arbeits- und Wirtschaftsentwicklungsinstitut die Entwicklung bereits 2006 in einer Studie zusammen. Bisherige Regierungen haben nichts geändert. Und auch in der neuen Arbeitsmarktreform des regierenden African National Congress (ANC) werden die Tagelöhner ignoriert.

Weil sie nirgendwo gemeldet sind, sind sie auch für den Gesetzgeber nicht greifbar und deshalb unsichtbar. Doch wer aufmerksam durch Südafrikas Metropolen fährt, braucht keine Statistiken, um das massive Anwachsen des Heeres der Tagelöhner in den vergangenen Jahren zu registrieren. Sogar Fundi, das bis vor zwei Jahren noch passend Men on the Side of the Road (Männer am Straßenrand) hieß und die Tagelöhner genau dort angesprochen hat, sucht inzwischen keine neuen Arbeiter mehr. »Wir bekommen so viele Anfragen, die Herausforderung ist aber, Kunden zu finden«, sagt Kratz. Für die Männer am Straßenrand sei es noch schwieriger. »Es gibt kein Vertrauen, kein Vertrauen in die Fähigkeiten, kein Vertrauen in die Arbeitsbereitschaft. Die Leute begreifen nicht, daß eine Person, die an der Straße steht, glaubwürdig ist.« Sein Verein will diese Vertrauenslücke schließen, indem er die Arbeiter aus der Anonymität herausholt.

Doch er kennt auch die zweite Hürde vor der Anstellung: »Es gibt großen Widerstand, Leute anzustellen, wenn es administrativ schwierig wird.« Was Kratz so verklausuliert sagt, dreht sich um nichts anderes als Arbeiterrechte: Kündigungsschutz, Rentenversicherung, Krankengeld gibt es nicht für die Tagelöhner, wenn sie beim Verein registriert sind. Gewerkschafter bezeichnen Fundi deshalb auch als Leiharbeitsfirma, nur ohne eigenes Gewinninteresse. Kratz verteidigt seinen Verein: »Diese Leute stehen am Straßenrand, niemand vertraut ihnen, wenn sie dieses Vertrauensverhältnis mit einem Arbeitgeber aufbauen können, können sie auch einen Fuß in die Tür bekommen und einen permanenten Job finden.«

Hobbies sind zu teuer

Bei David Chiutsankhondo hat das zumindest teilweise geklappt. Montags und freitags ist er regelmäßig als Gärtner eines Privathaushalts angestellt. Jeden zweiten Mittwoch kümmert er sich um Hof und Garten einer anderen Familie. Auch die Bezahlung ist so besser, er verdient umgerechnet 14 und 16 Euro in acht Stunden. Doch die restlichen Tage steht er noch immer an der Straße. Auf 200 bis 250 Euro monatlich kommt er so, doch das Geld reicht nicht. 80 Euro schickt er in die Heimat, 45 gehen für die Miete seiner kleinen Hütte in einem der südlichen Townships drauf. Vom kargen Rest spart der überlegt wirkende Mann schließlich noch einmal 20 bis 40 Euro pro Monat für seinen Lebenstraum des eigenen Geschäfts in Malawi. Hobbies? »Kann ich mir nicht leisten«, sagt Chiutsankhondo. Auch für eine Krankenversicherung ist kein Geld übrig. Und wenn doch einmal was passiert? »Ich helfe mir selbst«, sagt er knapp. Aber er sei glücklich mit sich und seinem Leben, »natürlich, denn ich bin nicht krank«.

Manchmal müßten die Männer von acht bis 19 Uhr ununterbrochen arbeiten, ohne Essen zu bekommen, erzählt Ayanda Ngxande. »Einige«, sagt er über die Arbeitgeber, »laufen mit unserem Geld davon. Die holen uns, um irgendwo zu arbeiten und hinterher werfen sie uns einfach wieder hier raus ohne zu bezahlen.« Auch Kratz kann schier unglaubliche Geschichten erzählen, von tagelanger Arbeit ohne Mittagspause bis zu verweigerten Toilettengängen. Einmal fühlte sich ein Arbeiter von einem großen Hund bedroht. Doch die Halterin entgegnete ihm am Telefon nur, daß das Tier als Aufseher für den Angestellten fungiere. Fundi sperrt solche Kunden aus seinem System, die Männer am Straßenrand lassen die Beleidigungen dagegen meist wortlos über sich ergehen. »Wir lassen es einfach passieren, weil wir wissen, daß sie uns nicht schlagen dürfen«, sagt einer von Ngxandes Kollegen. »Es schmerzt, aber wir können nichts erwidern, weil wir nach Arbeit suchen.«

Heute gibt es keine Beleidigungen, aber auch keine Arbeit. Gegen elf Uhr ziehen die Männer peu à peu ab. Schon morgen werden sie wieder hier stehen. Getrieben von der Sorge um das abendliche Essen und dem Traum eines besseren Lebens. »Wir sehen viele hübsche Häuser«, erzählt Ngxande über seine Arbeitsplätze, »und dann fühle ich mich gut, das Streßlevel sinkt, weil ich in einer schönen Umgebung bin und weiß, daß ich für den Tag einen Job habe.« Er glaubt, daß er vielleicht eines Tages auch so ein Haus haben könnte. Stille, ungläubige Blicke. Doch Ngxande legt nach. Er ballt beide Fäuste vor seiner Brust, seine Stimme klingt nun fest, fast verzweifelt laut: »Ich glaube aus der Tiefe meines Herzens, daß ich wirklich wie diese Leute leben kann, ich glaube, daß ich das hoffentlich erreichen kann, wenn ich hart arbeite.«

* Aus: junge welt, Samstag, 13. April 2013


Zurück zur Südafrika-Seite

Zurück zur Homepage