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Mehr soziale Gerechtigkeit muss sein

ANC-Legende Denis Goldberg über Herausforderungen in Südafrika *


Südafrikas Regierungspartei, der Afrikanische Nationalkongress ANC, ist hundert Jahre alt. Einer der Veteranen des jahrzehntelangen Befreiungskampfes des ANC, Denis Goldberg – er wurde mit Nelson Mandela zu lebenslanger Haft verurteilt und verbrachte 22 Jahre im Gefängnis – weilte aus diesem Anlass zu einer Konferenz in Berlin. Mit ihm sprach für das "neue deutschland" (nd) Hans-Georg Schleicher.


nd: 2012 steht Südafrika im Zeichen des 100. Jahrestags des ANC. Welche Gefühle bewegen einen Veteranen bei solchem Anlass?

Goldberg: Stolz und das Gefühl, dass die Prinzipien, für die meine Generation einst gekämpft hat, sich in der Jubiläumsrede von Präsident Jacob Zuma widerspiegelten. Zuma hob besonders die unterschiedlichen Gruppen hervor, die Teil der Kongressbewegung unter Führung des ANC waren. Er erwähnte die Kommunistische Partei, auch andere Gruppen, die am Befreiungskampf teilnahmen, wenn auch nicht alle. Er würdigte die Menschen, die inhaftiert wurden, die ihr Leben für die Freiheit unseres Volkes gaben. Aktuelle Aufgabe sei es, das Land aufzubauen, eine neue Gesellschaft zu schaffen. Ich entnahm seiner Rede, dass wir zu weiteren Opfern bereit sein müssen, um die Transformation unseres Landes zu verwirklichen.

Der ANC ist seit anderthalb Jahrzehnten Regierungspartei. Wie haben sich Charakter und Profil der Partei verändert?

Viele Menschen sehen heute im Beitritt zum ANC vor allem eine Chance, reich zu werden. Natürlich gibt es weiterhin viele ehrliche und integre Mitglieder, die sich für die Bewegung und für das Volk engagieren. Präsident Zuma fand bei seinem Amtsantritt Korruption vor, die er nachdrücklich zu bekämpfen versprach. Er war dabei durchaus erfolgreich, wie die Verurteilung des früheren Polizeichefs, zugleich Chef von Interpol, zeigte. Für mich ist das ein Signal für die Bereitschaft, auch hochrangige Vertreter zur Verantwortung zu ziehen.

Es gibt Konflikte und politische Auseinandersetzungen, die die Regierung schwächen. Zuma wird vorgeworfen, nicht genug Führungsstärke zu zeigen. In der Regierung haben einzelne Minister oder Gruppen eigene Vorstellungen. Die Regierung als ganze aber muss sich verantwortlich fühlen.

Es ärgert mich, wenn der ANC oder der Präsident dafür kritisiert werden, dass lokale Institutionen und Offizielle ihre Aufgaben nicht erfüllen. Aktivisten müssen an Ort und Stelle Kontrolle ausüben und dort Verantwortung fordern.

Die »Nationaldemokratische Revolution« wird wieder heiß diskutiert. Welche Rolle spielt das in der Politik des ANC?

Die Idee geht zurück auf die Freiheitscharta 1955 - bürgerliche demokratische Prinzipien sollten für alle Menschen in Südafrika gelten, nicht nur für die Weißen. In diesem Sinne ging es um eine nationale, demokratische und soziale Revolution. Heute steht die Frage nach dem Konzept dieser Revolution - ist sie gegen den Kapitalismus gerichtet, ist es eine sozialistische Revolution im marxistischen Sinne oder geht es um eine sozialdemokratische Lösung mit gemischter Wirtschaft von Staats- und Privatsektor zur schnellen Verbesserung des Lebensstandards wie in Brasilien und Indien?

Der ANC hatte sich im Befreiungskampf soziale Gerechtigkeit auf seine Fahne geschrieben. Was wurde bisher erreicht, was ist erreichbar?

Es kommt nicht so sehr darauf an, die gezielte Förderung schwarzer Unternehmen voranzutreiben, obwohl ich die Gründe dafür durchaus verstehe. Wir müssen unser Wirtschaftspotenzial schnell stärken. Wenn die Hälfte unserer Menschen arbeitslos ist, müssen wir die Wirtschaftsleistung verdoppeln. Um ein solches Ziel in 20 Jahren zu erreichen, bedarf es eines Wachstums von mindestens sechs bis sieben Prozent jährlich. Brasilien kommt diesen Dimensionen nahe, China übertrifft sie regelmäßig. Warum sollten wir das nicht schaffen?

Kürzlich machte der ANC Schlagzeilen durch innere Auseinandersetzungen. Steht der ANC vor einer Spaltung?

Das glaube ich für die nächste Zeit nicht. Ich sehe zwei Probleme, die die Medien reflektieren. Das ist die Personalisierung politischer Fragen. Auseinandersetzungen werden nicht zu Inhalten, sondern zu Personen geführt. Wir müssen wieder zu Inhalten und Prinzipien zurückkehren. Zweitens werden ethnische Fragen vernachlässigt, das Verhältnis der großen Bevölkerungsgruppen zueinander, Schwarze, Weiße, Inder und Coloureds. Da hat selbst ein Minister behauptet, es gäbe zu viele Coloureds in der Westkap-Provinz. Was für eine gefährliche Behauptung. Das ist nun einmal Ergebnis unserer Geschichte. Das beunruhigt mich, ich selbst glaube aber an eine nichtrassistische Gesellschaft.

Der bisherige Führer der ANC- Jugendliga, Julius Malema, stellt populistische Forderungen, attackiert Gegner und Verbündete des ANC, auch einzelne ANC-Führer. Welche Rolle spielen diese »jungen Wilden«?

Julius Malema ist ein cleverer junger Mann. Wenn er sein Temperament kontrolliert, kann er logisch und rational argumentieren. Er thematisiert wichtige Fragen wie Armut, Arbeitslosigkeit. Er will jedoch die gezielte Förderung einer neuen Wirtschaftselite, ihre Aufnahme in die bestehende kapitalistische Klasse. Er selbst vertritt eine Gruppe sehr junger Leute, die befürchten, zu wenig vom Kuchen abzubekommen. Das steht Bemühungen um eine sozial gerechtere Gesellschaft direkt entgegen. Das ist meine Sorge bezüglich Malemas: Ihm geht es nicht um die Verbesserung der sozialen Lage der Menschen, sondern um die Förderung einer kleinen Gruppe.

Kapitalismus dominiert in Südafrika wie in großen Teilen der Welt. Patriotismus und Aktionseinheit - alte ANC-Losungen - lassen sich schwer verwirklichen angesichts des Strebens nach Akkumulation von Kapital, wie es für die kapitalistische Gesellschaft typisch ist. Wir brauchen staatliche Eingriffe im Sinne einer sozial gerechteren Gesellschaft, zumindest auf sozialdemokratischer Basis.

* Aus: neues deutschland, 30. Januar 2012


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