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Teurer Regenbogen

An Südafrikas Schulen lebt die Apartheid weiter, gute Bildung gibt es nur für Reiche

Von Christian Selz *

Ihre wichtigsten Gedenktage begehen die Südafrikaner seit ein paar Jahren gleich den ganzen Monat über. Der Frauentag ist solch ein Anlaß. Er erinnert an den Protestmarsch Tausender Demonstrantinnen auf den Sitz der Apartheidregierung im August 1956 als mutiger Ausdruck des Kampfes gegen die erniedrigenden Paßgesetze. Der Juni ist der Jugend gewidmet, die am 16. Juni 1976 während des Schüleraufstands von Soweto gegen die Einführung von Afrikaans als Unterrichtsmedium demonstrierte und dabei nicht nur die Sprache der weißen Unterdrücker, sondern im Kern die Unterdrückung selbst bekämpfte. Es wurde ein blutiger Wintertag am Rande von Johannesburg, Hunderte Kinder und Jugendliche verloren im Kugelhagel der Polizei ihr Leben. Zu Tausenden gingen Südafrikas schwarze Jugendliche danach ins Exil oder in den Untergrund, machten das Land letztendlich unregierbar und erzwangen den Fall des Apartheidregimes.

Nelson Mandela machte »June 16« schließlich 1994 offiziell zum Feiertag ,und noch 18 Jahre später loben seine politischen Erben den ganzen Monat über die wichtige Rolle der Jugend – für die Entwicklung des Landes und für den Freiheitskampf. Daß der noch nicht vorbei ist, merken die Kinder und Jugendlichen jeden Tag in der Schule. Mißwirtschaft, Korruption, schlecht ausgebildete Lehrer und das schwere Erbe generationenlangen Bildungsentzugs führen zum fortwährenden Verrat am Nachwuchs des Landes. Mehr als die Hälfte der ersten Generation, die in Freiheit aufwuchs, wird wegen mangelnder Qualifikation im gesamten Leben nie eine Arbeit finden, schätzen Ökonomen. Die Suche nach den Ursachen beginnt in einer grauen Betonkaserne in einer Township am Rande der Millionenstadt Port Elizabeth.

Süßigkeiten auf Schulhof

Der erste Eindruck ist ernüchternd. Etliche Fenster der Sakhisizwe-Sekundarschule sind eingeworfen, an der kleinen Straße vor dem Tor türmt sich der Müll in Haufen, einige Zigaretten kokeln qualmend vor sich hin. Die Fahne mit dem Schullogo flattert zerfranst im Wind. Auf dem Pausenhof haben vier Händlerinnen ihre Stände aufgebaut. Sie warten darauf, daß die Sirene zur Mittagszeit aufheult, dann werden sie den Schülern knallbunte Süßigkeiten verkaufen – und »Vetkoeks«, gezuckerte, fett-triefende, frittierte Teigbällchen. Sie machen schnell satt und sind zum Preis von umgerechnet zehn Cent der Verkaufsschlager an der Schule, obwohl es inzwischen auch eine spendenfinanzierte Kantine gibt, die die ärmsten Schüler kostenlos versorgt. »Vorher haben hier Kinder in Schulinform die Mülleimer nach Eßbarem durchwühlt«, erzählt Schuldirektor Mzimkhulu Qunta.

Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Akten und Formulare, doch zum Gespräch holt er noch einen weiteren prall gefüllten Hefter aus dem Regal. Laminierte Zeitungsartikel finden sich darin, die meisten handeln von ihm selbst. Der gelernte Mathematiklehrer wurde im vergangenen Jahr bei einer Galaveranstaltung der lokalen Zeitung zum »Bürger des Jahres 2011« seiner Heimatstadt gewählt. »Ich glaube, daß mit harter Arbeit nichts zwischen mir und dem Erfolg steht«, sagt er, und »Lehren ist Dienen«. Wie so viele Schuldirektoren ist auch der 55jährige ein Mann Freund visionärer Worte. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegn läßt er ihnen auch Taten folgen.

Qunta hat an der kargen Township-Schule eine Musik-AG für Marimba-Spieler eingeführt, die bereits landesweit Preise einsammelt. Wenn seine Schüler in den fröhlich-hellen Tönen K’nans WM-Hit »Wavin’ Flag« nachspielen, wirken Wände und Zukunft für einen Moment nicht ganz so grau. Das Projekt ist bemerkenswert, weil sportliche und künstlerische Förderung an den armen Schulen Südafrikas so selten sind wie engagierte Schuldirektoren selbst. Doch der größte Stolz des Schulleiters steht einen Raum weiter: ein Computer-Kabinett. »Wenn Schüler ihren Abschluß machen und Computer-Analphabeten sind, hinken sie hinterher«, weiß Qunta. Im staatlichen Schulbudget drückt sich diese Erkenntnis allerdings nicht aus. Also ist der Mann, der seine Krawatte praktischerweise in die Hemdtasche steckt, damit sie beim Arbeiten nicht stört, losgezogen und hat um ausrangierte Computer gebeten. Zunächst bei den staatlichen Ministerien, doch die verramschten ihre Rechner lieber bei Auktionen; dann bei privaten Unternehmen, ebenfalls ohne Erfolg. Bei einer Sammelstelle für Altcomputer bekam er schließlich 60 kaputte PCs – mit viel Basteln und Formatieren entstand aus einem Haufen Schrott so das Inventar für einen Informatikraum.

Auch eine Bibliothek hat die Schule inzwischen. Und der Schulgarten bringt ein wenig Geld in die chronisch klamme Schulkasse, die Qunta von seinem Gehalt selbst immer wieder aufgefüllt hat. Selbst ein neuer Sportplatz entsteht inzwischen auf dem Gelände, schwere Maschinen ebnen bereits das Feld ein – nach zehn Jahren zäher Verhandlungen mit der Stadtverwaltung. »Ich weigere mich zu akzeptieren, daß unsere Schüler im Township nicht die gleichen Annehmlichkeiten wie die Schüler in den reichen Stadtteilen haben können«, sagt Qunta. Doch er kämpft gegen Windmühlen.

Immer wieder hat die Schule Probleme mit Einbrüchen, doch eine Alarmanlage oder gar ein Sicherheitsdienst ist zu teuer. Die Herde und Kühlschränke aus der Kantine haben die Diebe schon gestohlen, selbst die Neonröhren in der Bibliothek nahmen sie mit – nur die Bücher nicht. Dazu kommt der Personalmangel. 40 bis 50 Schüler drängen sich in den Klassenzimmern. »Ich kann sie nicht wegschicken«, sagt Qunta, aber er gibt auch zu, daß seine Lehrer gestreßt und überarbeitet sind. Gleichzeitig weigert sich die Bildungsbehörde aber, der Schule alle ihr zustehenden Stellen zu bewilligen und zu bezahlen. »Wenn man die Lehrer überlädt, tötet man die Bildung unserer Kinder«, klagt Qunta an. Er habe aber nun einmal kein Geld um mehr Lehrer anzustellen. »In der Stadt haben sie das, also holen sie mehr Lehrer, wir haben es nicht – also leiden wir.«

Seit dem Ende der Apartheid 1994 sind Schulen für alle Kinder theoretisch frei zugänglich. Doch da sie unterschiedlich hohe Gebühren verlangen, verlaufen die Trennlinien zwischen den Kindern heute entlang der Einkommen der Eltern. Die ehemals »weißen« Schulen gingen mit einem immensen Vorsprung in die Ära des Regenbogen-Südafrika. Mit ihren höheren Standards ziehen sie reichere Eltern an, die mit ihren Schulgebühren wiederum die privilegierte Stellung der Schule manifestieren. Südafrikas Regierung setzt dagegen auf ein Programm gestaffelter Bezuschussung, das die Schulen nach dem Durchschnittseinkommen ihres Einzugsgebiets in fünf Budgetkategorien unterteilt. Arme, gebührenfreie Schulen erhalten so pro Schüler mehr staatliche Mittel als gutsituierte Schulen, die hohe Schulgebühren verlangen können.

»Theoretisch ist das im Dienste der Armen, aber es reicht nicht aus, um die Ungleichheiten der Vergangenheit auszugleichen«, kritisiert Dmitri Holtzman, Vorsitzender des Equal Education Law Centre. Die Rechtshilfe-Organisation ist in den vergangenen Jahren zum Sprachrohr im Kampf für gerechte Bildung geworden. Derzeit klagen die Anwälte der NGO gegen die Bildungsministerin, damit sie verbindliche Schulstandards festsetzt. Selbst die feierliche Verkündung der verbesserten Schulabschlußergebnisse zu Beginn dieses Jahres will Holtzmann nicht bejubeln. Er setzt ihr statt dessen den Fakt entgegen, daß wegen der hohen Schulabgänger-Quote nur weniger als die Hälfte der über eine Million Kinder, die in dem Jahrgang vor zwölf Jahren eingeschult worden sind, die Prüfungen überhaupt mitgeschrieben haben. Holtzman ist Teil der Nach-Apartheid-Generation, die die Gesellschaft der gleichen Chancen wahrmachen will. Als der 25jährige geboren wurde, hätte ihn seine Hautfarbe noch von der Universität ausgeschlossen, heute kämpft er als Juraabsolvent für gerechte Bildung. »Es ist richtig, daß es eine Verbesserung gibt, aber wir sind weit entfernt von dem Punkt, an dem wir zufrieden sein können mit der Art, wie das System funktioniert.«

Denn teurere Schulen ziehen besserqualifizierte Lehrer an, weil sie Gehälter aufstocken können, mehr und bessere Lernmittel bieten und kleinere Klassenstärken haben. Die Victoria Park High School ist so eine Einrichtung, die sich vor keinem deutschen Gymnasium verstecken müßte und exemplarisch die immensen Unterschiede zwischen den südafrikanischen Schulen sichtbar macht. Die staatliche Sekundärschule liegt 20 Autominuten entfernt von Zwide auf der noch immer eher »weißen« Seite der quer durch Port Elizabeth laufenden Autobahn N2. Der Rasen hat Golfplatzniveau, die Büsche und Rabatten hinter dem elektronischen Eingangstor mit Gegensprechanlage sind üppig und gepflegt. Hier darf nur rein, wer dort hingehört – und es sich leisten kann. Umgerechnet rund 140 Euro Gebühren kostet der Besuch der Schule monatlich. Das entspricht nahezu dem gesamten durchschnittlichen Monatseinkommen eines schwarzen Südafrikaners, ist aber andererseits kaum mehr als Durchschnitt für eine der ehemaligen »Model C«-Schulen, an denen während der Apartheid nur weiße Schüler zugelassen waren.

Wachsende Mittelschicht

Auf dem Pausenhof wird der Traum von der Regenbogennation trotzdem wahr. Schüler aller Hautfarben stehen in Grüppchen zusammen, sie reden nicht mehr über die Vergangenheit, sondern über die Fernsehsoap von gestern Abend oder den anstehenden Mathe-Test. »Die Integration der verschiedenen Rassengruppen wird immer eine Herausforderung sein, aber das Problem ist kleiner als vor zehn, 15 Jahren«, sagt Schulleiter Michael Vermaak. Schwieriger sei es mit den verschiedenen Lebensumständen der Kinder, dem, was er »sozio-ökonomische Hintergründe« nennt. Immer mehr Kinder aus den Townships gehen auf die Qualitätsschulen der Reichenviertel. Sie sind Ausdruck einer wachsenden, schwarzen Mittelschicht, die große Teile ihres Einkommens in die Bildung des eigenen Nachwuchses investiert. Die Kinder sollen gleiche Chancen haben in einer Gesellschaft mit der weltweit höchsten Ungleichverteilung von Reichtum. Dennoch bleiben Barrieren, kulturelle wie materielle. »Unsere Lehrer sind größtenteils noch immer weiß, die sind komplett unterschiedlich aufgewachsen und leben völlig anders als die Townshipkinder, die zu uns kommen«, sagt Vermaak. »Wir gehen zuhause von Elektrizität, Internet und Computern aus, aber das ist nicht immer der Fall.«

Das ist Vermaaks weiche Seite, doch entschuldigen will er damit nichts, weil es die Kinder auch nicht voranbringen würde. Im strengen Ton schimpft er statt dessen auf die Lehrergewerkschaft, die zwar jeden Grund zum Protestieren hätte, aber die Kinder mit ihren Streiks nicht als Geiseln nehmen dürfe. Über die Bildungsbehörde redet er sich regelrecht in Rage, fast klingt es so, als brauche er die hohen Schulgebühren hauptsächlich, um deren Versäumnisse auszugleichen. »Wenn die Eltern nicht bezahlen können, werden ihre Schulen keine Computer und all diese Sachen haben«, lautet das Fazit des ebenfalls gelernten Mathematiklehrers. »Aber man braucht auch keine schicke Schule für guten Unterricht, alles, was ich für gute Matheresultate benötige, sind eine Tafel und ein Stück Kreide.«

Solche markigen Sätze greifen zu kurz. Denn selbst die Townshipkinder, die Vermaak beschreibt, sind Teil einer relativ kleinen, privilegierten Schicht unter den schwarzen Südafrikanern. Die überwältigende Mehrheit derer, die in den Armenvierteln aufwachsen, sieht in ihrer ganzen Laufbahn nie eine der teuren Schulen von innen. Zusammen mit der Stadtarchitektur aus Nobelvierteln für Reiche und Townships für Arme, die nach wie vor Bestand hat, hapert es so auch an der Durchmischung der verschiedenen Bildungsschichten. Der Bildungsentzug der Apartheidjahre reproduziert sich so.

»Du kannst nur so lehren, wie du es von deinem besten Lehrer gesehen hast«, sagt Jonas Schumacher. Der Deutsche leitet die Bildungsförderungsorganisa­tion Masifunde in Port Elizabeth, die er 2003 mitgegründet hat. Der Verein ermöglicht Kindern aus den ärmsten Township-Haushalten mit Stipendien den Besuch an Qualitätsschulen wie der Victoria Park High School, verpflichtet sie zudem zur Teilnahme am eigenen Nachmittagsprogramm. Dort treffen sie auf Kinder aus ihrer Nachbarschaft, die auf die Township-Schulen gehen – zwei Welten prallen so aufeinander, die sich endlich vermischen sollen. »70 bis 80 Prozent des Gelernten nimmt man informell auf«, sagt Schumacher. Wenn die eigentlich benachteiligten Kinder also an die Schulbänke der Reichen gelangen – so die Hoffnung – können sie als Multiplikatoren für ihre Freundeskreise Schritt für Schritt die Bildungslücke überbrücken, die während der Rassentrennung geschaffen wurde.

Managementprobleme

Der Staat selbst scheint dagegen bisher nicht in der Lage zu sein, die Ungleichheiten zu überwinden. Die Gründe sind vielfältig. Vielerorts fehlen einfach die Managementkapazitäten, um Behörden, Verwaltungen und Schulen effektiv zu leiten. Der Mangel an Kontrolle und eingeforderter Rechenschaft führt schließlich zu Vetternwirtschaft und Korruption. »Ich glaube nicht, daß es so sehr ein Budget-Problem ist, es ist eher ein Problem, wie das System gemanagt wird«, sagt daher selbst Qunta, der jedes Buch in seiner Bibliothek aus Spenden beschaffen mußte.

Seine Heimatprovinz, das Eastern Cape, ist das landesweite Negativbeispiel für Mißwirtschaft in der Schulbehörde. Die Zeitungen berichten regelmäßig über nichtgelieferte Schulbücher und veruntreute Gelder. Im Dezember vergangenen Jahres stellte der staatliche Rechnungsprüfer fest, daß von umgerechnet 500 Millionen Euro, die in den Behörden der Provinz unsachgemäß oder gar nicht abgerechnet worden waren, allein 480 Millionen auf die Schulbehörde entfielen. 74 Prozent der öffentlichen Aufträge des Schuldepartments gingen demnach an Beamte oder deren Familienmitglieder. Die tief verwurzelte Korruption, vielerorts Hinterlassenschaft der von der Apartheidregierung willentlich und wissentlich geschaffenen Marionettenregierungen in den Homelands der Schwarzen, zieht sich durch alle Ebenen des Bildungssystems; und nicht selten bis zu den Direktoren. Heruntergekommene Schulen und schlechter Unterricht sind die Folgen. »Viele dieser Schulen haben einfach schon immer so operiert, das ist auch ein Erbe der Apartheid: In der Vergangenheit gab es dort einfach keine Notwendigkeit für funktionierende Schulen«, erklärt Holtzman.

Es sind zu einem großen Teil Altlasten, die Südafrikas Schüler noch immer in arm und reich teilen. »Der Effekt ist, daß Schüler fortführend verraten werden«, sagt Holtzman, relativiert dann aber gleich, daß es falsch wäre, der Regierung dabei Absicht zu unterstellen. 18 Jahre seien schließlich eine kurze Zeit, um ein ganzes Schulsystem zu ändern. Der Schlüssel zur Verbesserung liege in mehr Transparenz der Regierungsarbeit und besserer Überprüfbarkeit. Das Equal Education Law Centre klagt deshalb gerade gegen die Bildungsministerin, den Finanzminister und alle Provinzbildungsminister, um die Einführung einheitlicher und verbindlicher Mindeststandards für Schulen durchzusetzen. Schulleiter Qunta gibt sich nicht ganz so diplomatisch. Sein Blick schweift durch sein kleines Direktorenbüro mit den vielen Zeitungsausschnitten, die die Erfolge der Schule dokumentieren, auf das Regal mit den Trophäen aus Sport-, Musik- und Lernwettbewerben, das er ebenfalls selbst zusammengezimmert hat. »Bis die Regierung Bildung ernst nimmt und eine Sektion aufbaut, die Unterrichtsmaterialien und auch Sportausrüstung für alle Schulen beschafft, werden wir nicht in der Lage sein, die Lücke zwischen uns und den Model-C-Schulen zu schließen.« Genau dafür fehlt Südafrikas Regierung neben kompetentem Personal in den Behörden auch schlicht das Geld. Trübe Aussichten zum 18. Geburtstag der ersten freien Generation jugendlicher Südafrikaner.

* Aus: junge Welt, Samstag, 30. Juni 2012 (Wochenendbeilage)


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