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Südafrikas Schritt in die Freiheit

Am 11. Februar vor 20 Jahren begann mit der Freilassung Nelson Mandelas das Ende der Apartheid

Von Hans-Georg Schleicher *

Vor 20 Jahren blickte die Welt gespannt auf Südafrika. Dort wurde die Freilassung Nelson Mandelas erwartet, Symbol des Kampfes gegen die Apartheid und der Welt prominentester politischer Gefangener.

Es war bereits Nachmittag, als der 70-Jährige am 11. Februar 1990 etwas steif und ungelenk, aber erhobenen Kopfes, an der Hand seiner Frau Winnie aus dem Tor des Victor-Verster-Gefängnisses außerhalb von Kapstadt trat und nach 27 Jahren seine ersten Schritte in die Freiheit machte. In Kapstadt warteten 50 000 Menschen bereits seit Stunden auf ihren legendären Anführer. Es dämmerte schon, als Mandela endlich auf den Balkon des Rathauses trat. Er breitete die Arme aus, als wolle er die Zehntausende umarmen, und erklärte: »Unser Kampf hat einen entscheidenden Punkt erreicht. Wir müssen diesen Augenblick nutzen.« Mit der Freilassung Mandelas war die Uhr des alten Systems abgelaufen.

»Free Mandela« war ein universeller Slogan

Das Gefängnistor hatte sich nicht nur für ihn geöffnet, sondern für ein ganzes Volk. Entscheidend war der Druck des Befreiungskampfes und der internationalen Solidarität. »Free Mandela«, Mandelas Freilassung war eine zentrale Forderung im Kampf gegen die Apartheid gewesen. In Pretoria, wo aufgeklärte Eliten bereit waren, zur Sicherung ihrer Dominanz und ihrer Interessen die Rassentrennung zu opfern, sah man die Freilassung als ein Faustpfand. Seit 1977 hatte man Mandela gegen den Afrikanischen National Kongress (ANC) ausspielen, ihn unter Bedingungen in das Bantustan Transkei entlassen wollen. Mandela lehnte ab - ganz Südafrika sei seine Heimat. Auch später ließ er sich nicht korrumpieren. Er weigerte sich, dem bewaffneten Kampf abzuschwören, weil man das gegen den ANC nutzen wollte.

Der Häftling 466/64 wurde von Robben Island verlegt, auch um ihn von Mitkämpfern zu isolieren. 1985 begann das Regime Geheimgespräche mit ihm. Das erweckte unter Mitgefangenen und in der Exilführung des ANC Misstrauen. Doch Mandela ließ sich nicht missbrauchen. Zuletzt auch nicht durch bevorzugte Haftbedingungen, die ihn auf die Freilassung vorbereiten sollten, aber auch Teil der Strategie des Regimes waren, ihn in separaten Verhandlungen doch noch zur Kooperation zu gewinnen und von seinen politischen Freunden zu trennen. Das misslang.

Mandela ging ohne Vorbedingungen in die Freiheit. Als er aus dem Gefängnistor trat, lag vor ihm und seinen Anhängern ein langer Weg des Übergangs zu einem demokratischen Südafrika, dessen moralischer und politischer Führer er wurde. Nach schwierigen Verfassungsverhandlungen und den Wahlen 1994 wurde Mandela Präsident des neuen Südafrikas. Zuvor hatte er zusammen mit seinem Gegenspieler Frederik de Klerk den Friedensnobelpreis erhalten. Sie hatten dem Land am Kap einen Bürgerkrieg erspart. Aussöhnung war auch weiterhin ein Hauptanliegen Mandelas.

Unvergessen ist, wie er 1995 zum Endspiel der Rugby-Weltmeisterschaft im Johannesburger Ellis- Park-Stadion im Trikot der Springboks, Südafrikas »weißer« Nationalmannschaft, erschien und »sein« Team zum dramatischen Sieg anfeuerte. Ausgerechnet die Springboks, früher ein Symbol für Apartheid-Südafrika. Die Geste überzeugte viele Weiße. Der langjährige politische Gefangene erhob sich über die tiefen Gräben der südafrikanischen Gesellschaft.

Manchen Kampfgefährten und vielen jungen Aktivisten des ANC ging Mandelas Versöhnung, insbesondere mit extrem konservativen ehemaligen Rassisten, zu weit. Doch er blieb seinem Wahlspruch treu: »Wer Hass verspürt, kann nicht frei sein.« Mit menschlicher Größe und politischer Weitsicht gelang es ihm und seinen Mitstreitern im ANC, das zerrissene Südafrika auf einen weitgehend friedlichen Weg der Nationenwerdung zu führen. Er zeigte erneut Größe, als er sein Amt als Präsident nach nur einer Amtsperiode zur Verfügung stellte. Er war hoch geachtet, seine Autorität unumstritten, dennoch war es eine gute Entscheidung, auch mit dem Rat politischer Kampfgefährten.

Mit über 90 ist Mandela geistig hellwach, wenn auch körperlich angegriffen. Er hat sich weitgehend zurückgezogen. Obwohl man den alten Mann in der Öffentlichkeit vermisst, gönnt man ihm jetzt Zeit für das Private. Mandela schreibt in seiner Autobiographie: »Der Vater einer Nation zu sein ist eine große Ehre, doch der Vater einer Familie zu sein ist eine größere Freude.« Familie bedeutet ihm viel, weil er sie lange vermisste. Eine erste Ehe scheiterte. Er heiratete die 16 Jahre jüngere Winnie, ging aber bald in den Untergrund und zwei Jahre später ins Gefängnis - für 27 lange Jahre. Winnie war in der Haft für ihn ein Halt gewesen. Nach seiner Freilassung wurde die Ehe durch ihr Verhalten zerrüttet, die Trennung war schmerzhaft. In Graca Machel fand der 80-Jährige schließlich eine gleichgesinnte, kluge Partnerin.

Mandela liebt Kinder und sucht ihre Nähe, er selbst hätte gern mehr Einfluss auf die eigenen Kinder gehabt. Er verlor zwei Söhne. Nach der Trennung von Winnie war eine der Töchter an seiner Seite. Inzwischen sind die Enkel erwachsen, einer - Mandla Mandela - ist Parlamentsabgeordneter.

Der ANC war Mandelas Leben

Mandelas Vision von einem Südafrika basierend auf Demokratie und Menschenrechten, mit Pressefreiheit, einer unabhängigen Justiz und sozialen Leistungen für Arme, hat sich erfüllt. Südafrika mutierte vom internationalen Paria zu einer geachteten Regionalmacht. Aber auch das ist noch immer das Südafrika mit gewaltigen sozialen Problemen, mit gesellschaftlichen Verwerfungen, mit Kriminalität, HIV/Aids und Korruption. Mandela weiß um die Herausforderung - vor allem für seine Partei, den ANC, dem er tief verbunden bleibt, das war sein Leben. So forderte der Patriarch 2009 bei einem seiner selten gewordenen öffentlichen Auftritte auf der abschließenden Wahlkundgebung erneut zur Unterstützung des ANC auf. Diese Loyalität reflektiert die Haltung vieler Südafrikaner, deren Leben durch den Befreiungskampf geprägt wurde. Mandela - das ist für sie der Befreiungskampf, das ist auch Hoffnung.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2010


Mahner Mandela - das Gewissen der Nation

Aus dem politischen Ruhestand meldet sich Südafrikas Legende selten, aber wirkungsvoll zu Wort

Von Hans-Georg Schleicher **

Seit der Amtsübergabe an Thabo Mbeki 1999 übt Nelson Mandela keine offizielle Funktion mehr aus. Trotz seines demonstrativen Rückzugs aus dem politischen Alltag blieb Mandela in Südafrika und darüber hinaus präsent - auch als Gewissen der Nation.

Wenn der alte Mann sich zu Wort meldet, geht es ihm um das Land Südafrika, seine Probleme und seine Menschen. Seine Führungspersönlichkeit ist bis ins hohe Alter spürbar. In einem der seltenen Interviews erklärte er nach seinem Rücktritt, sein größter Erfolg als Präsident sei es gewesen, die Nation zu einen sowie Würde und Selbstrespekt wiederherzustellen. Den ANC mahnte er, die Streitkultur der ehemaligen Befreiungsbewegung zu erhalten. Zentralistische Führungslinien im ANC verteidigte er unter Hinweis auf traditionelle afrikanische Demokratieformen: Nach ausführlichen Beratungen, einer Lekgotla oder Imbizo, verkündet der Häuptling die Mehrheitsentscheidung. Aus solcher empirischer Prägung durch afrikanische Traditionen hatte Mandela nie einen Hehl gemacht. Scharf verurteilte er Korruption und Bereicherung in Südafrika, nannte Arbeitslosigkeit eines der größten Probleme und eine extreme Verletzung der Menschenwürde.

Mandela hat sich seine Würde und Autorität auch im politischen Ruhestand erhalten, ebenso seine Visionen und sein Charisma. Er versteht es meisterlich, Hartnäckigkeit, manchmal sogar Sturheit, mit persönlichem Charme, Selbstironie und Humor zu verbinden, vielleicht das Erfolgsrezept für seine Madiba Magic, die nach seinem Clannamen benannte Ausstrahlung und Überzeugungskraft.

Wenn Mandela sich einmischt, dann zumeist zurückhaltend, aber wirkungsvoll. Er erhob seine Stimme, als es um den Umgang mit HIV/Aids ging, und forderte weltweit eine offensive, verantwortungsbewusste Politik. Der eigene Sohn war an Aids gestorben, Mandela engagierte sich national und international. Die Nelson-Mandela-Stiftung leistet Aufklärungsarbeit zu HIV/Aids. 2008 verurteilte Mandela die fremdenfeindlichen Ausschreitungen im Lande.

Allerdings meinen Kritiker, manchmal habe er zu lange geschwiegen. Das galt auch für Simbabwe. Seine späte Kritik am »tragischen Regierungsversagen« dort ging manchen nicht weit genug. Andererseits hatte er sich bei der Lösung afrikanischer Konflikte engagiert. Nicht nur dort. Unmissverständlich kritisierte er die Irak-Politik von George W. Bush und Tony Blair und weigerte sich, Bush bei dessen erstem Südafrika-Besuch zu treffen. Es ist wohl auch der Madiba Magic zu verdanken, dass Südafrika die Fußball-WM 2010 erhielt. Zur FIFA in Zürich brachte er jedenfalls Vuvuzelas mit: Die durchdringenden Plastiktröten sollten das Engagement südafrikanischer Fußballfans bekräftigen.

Seit seinem Rückzug aus der Politik engagiert sich Mandela verstärkt für soziale und humanitäre Projekte, unter anderem zur Unterstützung von Kindern und von Aids-Opfern, aber auch für die Ausbildung Jugendlicher. Auch hier setzte er Autorität und seinen oft nachdrücklichen Charme ein. Einen Ruhestand im wörtlichen Sinne gab es nicht für ihn. An seinem 86. Geburtstag kündigte Mandela schließlich an, kürzer zu treten. Das war ernst gemeint und gesundheitlichen Gründen geschuldet. Aber der alte Mann, inzwischen schon ein lebender Mythos, ist immer noch da - und macht sich bemerkbar, wenn er es für nötig erachtet.

Sicher passte er besser in den Nimbus Südafrikas von der Regenbogennation der 90er Jahre als in die rauen Winde des jüngsten politischen Alltags. Dennoch stellt er sich auch diesem Klima. Aus machtpolitischen Querelen im ANC hielt er sich jedoch weitgehend heraus, mahnte nur nachdrücklich zu politischer Kultur. Es mag Madiba deshalb gefreut haben, dass Jacob Zuma bei seinem Machtantritt 2009 ausdrücklich eine Wiederbelebung der Aussöhnungspolitik Mandelas ankündigte.

** Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2010


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