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Zerrissenes Land

Hintergrund. Zur Vorgeschichte des Referendums über die Unabhängigkeit des Südsudan

Von Jan Köstner *

Seit Sonntag (9.Jan.) stimmt die Bevölkerung des Südsudan in einem Referendum über die Gründung eines selbständigen Staates ab. Um die Konflikte zu verstehen, die zur Sezession führten, ist ein Blick auf die Geschichte der letzten 100 Jahre notwendig.

Nach der Zerschlagung des Mahdi-Staats 1898 durch die britische Armee wurde der Sudan de jure unter gemeinsame Verwaltung von Ägypten und Großbritannien gestellt, de facto jedoch in eine britische Kolonie verwandelt.

Im Interesse der britischen Textilindustrie sollte der Sudan in einen Baumwollproduzenten transformiert werden. Da die Kolonialverwaltung sich darüber im klaren war, daß die drückenden Lasten für die Bauern eine Hauptursache für den Mahdi-Aufstand (1881–85) waren, wurde eine Modernisierung der Landwirtschaft eingeleitet. Im Prozeß der Landregistrierung zur Schaffung von Privateigentum entstanden für religiöse oder ethnische Führer – bisher Verwalter des Landes – Möglichkeiten, zu Eigentümern von Großgrundbesitz zu werden. Ab 1906 begann im nördlichen Zentralsudan der Aufbau von kapitalmarktfinanzierten Bewässerungsanlagen. Ab den 1920er Jahren erfolgten Investitionen auch durch einheimische Kapitalgeber, speziell Grundbesitzer und religiöse Führer, die über ausreichende Mittel verfügten. Der Aufbau von zentralen Bewässerungssystemen bedingte einerseits eine Erhöhung der Einkommen, andererseits eine spezielle Situation für die Pächter-Bauern, denen die Bewirtschaftungsmethoden vorgeschrieben wurden.[1] Der durch den Baumwollanbau initiierte wirtschaftliche Fortschritt konzentrierte sich auf den nördlichen Zentralsudan zwischen weißem und blauem Nil und zwischen Nil und Atbara. Der Westen (Darfur, westliches Kordofan), der Süden, aber auch der Norden und Nordosten blieben peripher und wirtschaftlich unterentwickelt.

»Indirekte Herrschaft«

Das britische System der »indirekten Herrschaft« über die Kolonien beruhte auf der Kollaboration einer einheimischen Oberschicht. Hatte sich die Kolonialverwaltung in der Anfangsphase überwiegend auf die traditionelle Geistlichkeit der Ulama gestützt, so verlagerte sie nach Beginn des Ersten Weltkrieges ihre Machtbasis auf die im Sudan verbreiteten (islamischen) Sufi-Orden und ihre religiösen Führer, vor allem Ali Al-Mirghani von der Khatmiyya oder Abd Al-Rahman Al-Mahdi von den Ansar, die ihr die Loyalität der Bevölkerung im Krieg garantierten. Beide waren Besitzer ausgedehnten Grundbesitzes und versammelten um sich Kreise von Händlern, Unternehmern und von sudanesischen Angehörigen der Kolonialverwaltung. Dadurch kam es zur Bildung von Netzwerken, die durch gemeinsame Anschauungen und Interessen gekennzeichnet waren, und aus denen die großen konfessionsgebundenen Parteien hervorgingen, die die postkoloniale Politik des Sudan bestimmten: 1950 die Umma-Partei Al-Mahdis und 1952 die National Unionist Party (NUP) Al-Mirghanis. Eine Ausnahme bildete die 1947 nach ägyptischem Vorbild gegründete Muslimbruderschaft. Unter dem Einfluß Hasan At-Turabis verfolgte sie ab 1964 eine Politik des Aufbaus islamischer Fronten und war eher im städtischen Milieu unter kleinen Handwerkern und Händlern verankert.

In bezug auf den Süden verfolgten die Briten eine andere Politik. Während im Norden christliche Missionen mit Rücksicht auf Konflikte mit dem Islam verboten wurden, erlaubte ihnen die Kolonialverwaltung ihre Tätigkeit im Süden, speziell in Hinblick auf Sozial- und Bildungsarbeit, die bis 1922 in der Hand der Missionen lag. Hier fand Grundschulunterricht in den verschiedenen regionalen Sprachen statt, auf höherem Niveau war Englisch Unterrichtssprache. Arabischunterricht wurde grundsätzlich vermieden, weil er die »Ausbreitung des Islam« und »Nordsudanesische Ansichten« befördern würde. Erst 1922 griff der Staat regulierend ein und erhöhte 1926 die Bildungsausgaben, um eine Schicht gebildeter Südsudanesen heranzuziehen. 1940 wurde die erste staatliche weiterführende Schule im Süden, 1950 die erste Oberschule gegründet.

Trotz gegenteiliger Forderungen lehnte 1920 die Milner Commission, die das Verhältnis zwischen Großbritannien und Ägypten klären sollte, die Abtrennung des Südsudan ab und empfahl statt dessen eine »Dezentralisierung«. Erst 1930 folgte die Entwicklung einer kohärenten »Southern Policy«, die eine vom Norden unterschiedene und separate kulturelle Entwicklung zur Schaffung »einer Reihe von selbständigen Rasse- oder Stammeseinheiten« im Süden einleiten sollte. Die »Southern Policy« scheiterte aus zwei Gründen: Erstens hatten die Verwaltungen von Uganda und Kenia kein Interesse an der Angliederung dieses »weiten und unproduktiven Landes«[2], und zweitens beförderte sie im Norden die Hinwendung zu Ägypten. 1946 erfolgte daher ein Richtungswechsel: Nun sollten die Bildungssysteme im Süden mit denen des Nordens kompatibel gemacht und die Integration des Südens in nationale Institutionen gefördert werden.

Von der Unabhängigkeit ...

Die Absicht Großbritanniens, mit der Einrichtung einer Gesetzgebenden Versammlung 1948 einen langsamen Weg zur Selbstbestimmung des Sudan einzuschlagen, wurde 1952 durch den Staatsstreich Gamal Abdel Nassers in Ägypten verhindert. Ein Abkommen Ägyptens mit den sudanesischen Parteien und mit Großbritannien öffnete den Weg in die Unabhängigkeit des Sudan am 1. Januar 1956.

Die Erfolge von Umma-Partei und NUP in den Wahlen von 1953 brachten Kräfte an die Macht, die von der bisherigen Kondominiumspolitik profitiert hatten. Eine tiefgreifende Reform der sozialen Verhältnisse blieb aus.

Der Süden war an den Verhandlungen über die Unabhängigkeit des Landes nur peripher beteiligt: Es gab dort keine politische Repräsentation der Bevölkerung, die durch die Bindung des Wahlrechts an den Bildungsgrad zusätzlich benachteiligt wurde.

Aus diesem Grund hatten Südsudanesen auch nur wenig von der vor der Unabhängigkeit durchgeführten »Sudanisierung« des öffentlichen Dienstes profitiert. Die daraus resultierende Unzufriedenheit führte bereits 1955 zum Aufruhr des aus Südsudanesen bestehenden Equatorial Corps der Armee.

Die Periode der ersten demokratischen Regierung des Sudan war von Vetternwirtschaft, Korruption, Auseinandersetzungen mit Ägypten über die Nutzung des Nilwassers und Konflikten über die Annahme US-amerikanischer Finanzhilfe gegen die Überlassung von Militärrechten geprägt. Als die Wahlen von 1958 keine Änderung der Mehrheitsverhältnisse brachten, drängte das Establishment den Armeechef General Ibrahim Abbud im November 1958 zur Machtübernahme.

Im Süden führte Abbud ab 1960 eine Vereinheitlichungspolitik (Freitag als Ruhetag, Arabisch als Unterrichtssprache, die Unterstellung der Missionsschulen unter staatliche Aufsicht) durch, die zwar vom Standpunkt der Nationalstaatsbildung rational war, die Situation aber weiter anheizte. 1960–1962 wurden Demonstrationen im Süden vom Militär niedergeschlagen, 1960 setzte eine Fluchtbewegung in die Nachbarländer ein, und in den letzten Monaten des Jahres 1963 begann die Guerillatätigkeit der gegen die Zentralregierung kämpfenden Anya-Nya. 1964 befand sich der Süden in offenem Bürgerkrieg. Nach Konflikten um die Führung kristallisierte sich Joseph Lagu mit seiner South Sudan Liberation Movement (SSLM) als starker Mann heraus. Durch Israel über Uganda mit Geld und Waffen unterstützt, weitete er die Kampfhandlungen aus und verwickelte die Zentralregierung ab 1968 in einen kostspieligen Guerillakrieg.[3]

Diese Situation hatte auch Folgen für den Norden: Als 1964 bei der Auflösung eines Studententreffens, das sich mit der Situation im Süden befaßt hatte, ein Teilnehmer getötet wurde, führten Massendemonstrationen in den folgenden Tagen zum Generalstreik am 26.Oktober 1964, der von der säkularen und links orientierten National Professional’s Front organisiert wurde und den Sturz der Militärregierung einleitete. Die konfessionsgebundenen Parteien Umma-Partei, NUP und People’s Democratic Party (PDP) antworteten mit der Gründung einer United Parties Front unter Einschluß der Islamic Charter Front (ICF) At-Turabis.

... zur Instabilität

Am 31. Oktober wurde eine Übergangsregierung unter Vorsitz von Sirr Al-Khatim Al-Khalifa gebildet, die von Vertretern der Professional’s Front dominiert wurde. Sie beschloß Maßnahmen zur Landreform, zur Stärkung des nationalen Kapitals und die Einrichtung eines Gerichtshofs zur Untersuchung illegaler Bereicherung. Die rechtsgerichteten Parteien versuchten, im Vertrauen auf die konservativen Tendenzen der ländlichen Bevölkerung schnelle Wahlen zu erzwingen. Sadiq Al-Mahdi, der Sohn Abd Al-Rahmans, mobilisierte die Ansar nach Khartoum, und die Regierung trat angesichts dieser Demonstration reaktionärer Stärke zurück. Al-Khalifa bildete ein neues Kabinett aus Vertretern der Umma-Partei, der NUP, der PDP, der ICF und der Southern Front.

Die nur im Norden abgehaltenen Wahlen von 1965 ergaben ein Übergewicht der traditionellen Parteien, das jedoch durch den Einzug verschiedener Regionalparteien ins Parlament abgeschwächt wurde. Dies führte trotz des Verbots der Sudanese Communist Party (SCP) zu einer Periode politischer Instabilität für das Establishment.

Am 25. Mai 1969 führten Freie Offiziere unter Führung von Jaafar an-Nimairi einen nationalistischen Staatsstreich durch. Die heterogene Gruppe hatte kein gemeinsames Programm und stimmte nur in wenigen Punkten, darunter der Ablehnung der konfessionsgebundenen Politik der etablierten Parteien, überein.[4] Obwohl die SCP den Coup als kleinbürgerlich einschätzte, mobilisierte sie Massendemonstrationen zu seiner Unterstützung. In der ersten Phase der Militärherrschaft führte Nimairi progressive Reformen wie die Nationalisierung ausländischer Unternehmen, von Banken und Versicherungen durch. Massenproteste der Ansar im März 1970 wurden niedergeschlagen und zu Maßnahmen gegen die Umma-Partei genutzt. Dabei wurden die Vermögen der Al-Mahdi- und der Al-Mirghani-Familien enteignet.

Im November 1970 gaben gesetzliche Regelungen Arbeitern und Pächtern größere Rechte. Es kam zu einer Zunahme der Zahl der Studenten in höheren Bildungseinrichtungen. Die tiefgreifende Umgestaltung der Wirtschaft, die Nimairi mit dem Fünfjahresplan beabsichtigte, gelang jedoch nicht.

Zerschlagung der KP

Ende 1970 geriet Nimairi zunehmend in Konflikt mit der SCP, vor allem wegen der beabsichtigten Union mit Ägypten und Libyen und der Inkorporation der SCP in die Einheitspartei Sudanese Socialist Union (SSU), die die SCP vor die Wahl stellte, die Partei zugunsten einer in ihrer ideologischen Ausrichtung unbestimmten Gruppierung aufzugeben oder sich gegen das Militärregime zu stellen.[5] Den am 19.Juli 1971 von Hashim Muhammed Al-Ata, einem mit der SCP sympathisierenden Offizier, durchgeführten, aber niedergeschlagenen Staatsstreich nutzte Nimairi zur Zerschlagung der SCP. Generalsekretär Abd Al-Khaliq Majhoub und weitere prominente SCP-Mitglieder wurden hingerichtet; Massenverhaftungen von SCP-Mitgliedern und anderen Linken folgten. Danach fand die SCP nie wieder zu ihrer früheren Stärke zurück.

In bezug auf den Konflikt im Süden gelang Nimairi eine Politik des Ausgleichs. Ab 1971 gab es Kontakte zwischen Regierung und SSLM, ab Februar 1972 direkte Verhandlungen in Addis Abeba, die im März 1972 den ersten Bürgerkrieg im Südsudan beendeten. Das Friedensabkommen regelte eine innere Autonomie für die Südregion in den Grenzen von 1956, die Einrichtung einer Regionalen Volksversammlung und eines Hohen Ministerrats. Für den Süden wurde Englisch als Amtsprache festgelegt, für den Norden Arabisch. Die Kämpfer der SSLM sollten in eine gemeinsame Sudanese People’s Army eingegliedert werden. 1973 folgten der South Sudan Self Government Act und die Verabschiedung einer säkularen Verfassung, die die Autonomie des Südens bestätigte.

Durch den Bruch mit der SCP und ohne säkulare Unterstützung suchte Nimairi den Ausgleich mit den etablierten Parteien und den Islamisten At-Turabis. Sadiq Al-Mahdi wurde, aus dem Exil kommend, Mitglied im Politbüro der SSU und At-Turabi, zum Generalstaatsanwalt ernannt, begann mit dem Aufbau islamistischer Basisorganisationen im Militär. Nimairis Hinwendung zum Islam war dabei sowohl für die Golfstaaten als auch für die USA akzeptabel, von denen er Mitte der 1970er Jahre finanzielle Unterstützung für seine Investitionsprogramme erwarten konnte. Ab 1976 investierte der Arab Fund for Economic and Social Development im Rahmen der »Brotkorbstrategie«, des Ausbaus der Nahrungsmittelproduktion für den Export in arabische Ölstaaten, massiv im Sudan, und Ende der 1970er Jahre war Sudan der drittgrößte Empfänger bilateraler Entwicklungshilfe aus den USA.

Konflikt zwischen Norden und Süd

Nimairis Einführung der auf der Scharia basierenden Septembergesetze 1983, die der Verfassung von 1973 widersprachen, waren der logische Endpunkt dieser Entwicklung. Bei seinem Versuch, im Juni 1984 die Verfassung zu ändern, traf Nimairi in der Volksversammlung auf Widerstand, den er jedoch aufgrund des seit April 1984 bestehenden Ausnahmezustands umgehen konnte.

Auch in bezug auf den Süden vollzog Nimairi eine Kehrtwendung. Im Sommer 1980 löste er die regionale Volksversammlung auf und setzte eine regionale Übergangsregierung ein. Dabei konnte er auf Unterstützung des früheren SSLM-Chefs Lagu rechnen, der wegen der Stärke der ethnischen Gruppe der Dinka für eine »Dezentralisierung« des Südens plädierte.[6] Beschleunigt wurde der neue Konflikt durch die Funde von Erdöl im Grenzgebiet zwischen Süden und Norden. Im Juli 1980 versuchte die Zentralregierung die Grenze so zu verschieben, daß die erkundeten Erdölgebiete im Norden lagen. Im November kündigte Nimairi an, die Ölraffinerie, die die industrielle Entwicklung des Südens vorantreiben und damit die wirtschaftliche Dominanz des Zentralsudan relativieren sollte, in Port Sudan zu bauen. Als sich gegen diese Politik im Süden Widerstand formierte, teilte Nimairi im Juni 1983 unter Bruch des Addis-Abeba-Abkommens und der Verfassung von 1973 die Südregion in drei Provinzen, schaffte die Regionale Volksversammlung ab und ersetzte sie durch Provinzversammlungen mit begrenzten Befugnissen und Provinzgouverneure, die direkt vom Präsidenten eingesetzt wurden.

Die Meuterei der Soldaten des 105. Bataillons im Mai 1983 markierte den Ausbruch des zweiten Bürgerkrieges. John Garang, ein Offizier der sudanesischen Armee, der die Rebellion eindämmen sollte, übernahm ihre Führung und formierte sie zur Sudanese People’s Liberation Army (SPLA). Ziel der SPLA war ein »Neuer Sudan«, also eine neue regionale und soziale Machtverteilung innerhalb eines säkularen Sudan, keine Sezes­sion des Südens.[7] Mit dem Angriff auf die Ölanlagen am 4.Februar 1984 zwang die SPLA Chevron zum Rückzug aus dem Sudan und unterband bis Mitte der 90er Jahre die Ölförderung.

Nach elfjähriger Herrschaft Nimairis war der Sudan wieder am Ausgangspunkt von 1969 angekommen: wirtschaftlich angeschlagen, in einen verlustreichen Bürgerkrieg verwickelt und dominiert von den Interessen der Grundbesitzer des nördlichen Zentralsudans. Die auf einer unkontrollierbaren Verschuldung basierenden wirtschaftlichen Großprojekte, die grassierende Korruption der Eliten und die Dürre von 1983–84 führten zur Massenverelendung und Unregierbarkeit des Landes.

Großdemonstrationen und ein Generalstreik am 4.April 1985 führten zur Entmachtung Nimairis durch einen Transitional Militäry Council, der noch 1985 ein Übergangskabinett einsetzte und für 1986 Wahlen ausschrieb. Die neue Regierung wurde von Al-Mahdis Umma-Partei geführt und konnte weder Erfolge bei der wirtschaftlichen Sanierung noch bei der Lösung innenpolitischer Probleme wie der Beendigung des Krieges erreichen. Dagegen gelang es At-Turabis National Islamic Front (NIF), sich als bedeutende politische Kraft zu etablieren. 1988 trug Al-Mahdi dem Rechnung und setzte At-Turabi als Generalstaatsanwalt und Justizminister ein.

Islamistischer Militärputsch

Als Al-Mahdi im Sommer 1989 die Septembergesetze, bis dahin lediglich suspendiert, endgültig abschaffen wollte, putschten islamistische Militärs unter Hasan Omar Al-Bashir und Ali Osman Taha. Mit dem Constitutional Decree No. 7 deklarierte das Militär den Islam zur Grundlage von Recht und Politik.

Der Putsch islamistisch orientierter Militärs bot keine Möglichkeit für eine friedliche Lösung des Konflikts, aber Anfang der 90er Jahre schien eine militärische Option in Sicht: Der Sturz der Mengistu-Regierung in Äthiopien 1991 beraubte die SPLA ihres Hauptverbündeten. Die neue Regierung der Ethiopian Peoples’ Revolutio­nary Front (EPRDF) schloß den Radiosender der ­SPLA und ihre Basen im Westen des Landes, und die Entscheidung der US-Hilfsorganisation USAID, die SPLA von Nahrungsmittelhilfe auszuschließen, stellte die SPLA vor die Notwendigkeit, mehrere hunderttausend Flüchtlinge kurzfristig zu repatriieren.

In dieser Situation wurde Kritik an Garangs Führungsstil laut, und am 28.August 1991 erklärte eine Gruppe höherer SPLA-Kommandeure Garang für abgesetzt. Die Abtrünnigen formierten sich zur SPLA-Nasir (benannt nach ihrem Hauptquartier in der Upper Nile Province) und führten ab Januar 1992 Gespräche mit der Zentralregierung, deren Truppen ab Februar 1992 das von der SPLA-Nasir kontrollierte Territorium bei Aktionen gegen die SPLA passieren durften. Bis 1999 spaltete sich die SPLA-Nasir noch mehrmals, wobei die verschiedenen Gruppen immer wieder gegen die Zentralregierung kämpften. Ursache der Brüche waren weniger politische Differenzen als vielmehr persönliche Animositäten.

Diese Konstellation und die positiv verlaufende Offensive 1993 waren der Grund für Al-Bashirs Siegesankündigungen 1994 und vermutlich auch für das Scheitern der Friedenskonferenzen in Abuja 1992 und 1993.

Bis 1996 gelang es Garang jedoch, gestützt auf loyale Dinka-Kommandeure, die SPLA neu zu formieren und nun seinerseits zur Offensive überzugehen. Die Siege der SPLA führten zum Abschluß der Friedensverträge zwischen der Zentralregierung und den SPLA-Abspaltungen sowie zu einer erneuten, unpopulären Aushebung von Wehrpflichtigen im Norden 1997.

Mittlerweile hatte sich sowohl die innen- wie auch die außenpolitische Lage der Zentralregierung geändert. Die Affäre um die »Verhaftung« des Terroristen »Carlos« durch französische Sondereinheiten 1994 im Sudan und das At-Turabi zugeschriebene Attentat auf Ägyptens Präsidenten Mubarak 1995 in Addis Abeba führten zur Distanzierung des Militärs von At-Turabi. Im November 1998 holte im Rahmen der Verabschiedung der neuen Verfassung Al-Bashir die Altparteien unter dem Deckmantel »politischer Allianzen« zurück in den politischen Prozeß. Der Versuch At-Turabis im Dezember 1999, in der Nationalversammlung eine Beschneidung der Befugnisse des Präsidenten durchzusetzen, führte zu einem Machtkampf mit Al-Bashir, in dem Al-Turabi unterlag und als Sprecher der Nationalversammlung abgesetzt wurde.

Mitte der 90er Jahre hatte der Sudan die wirtschaftliche Krise überwunden, und es kam zu einer maßvollen Erholung, zuerst dank des Exports landwirtschaftlicher Produkte und ab 1999 auf Basis der Ölausfuhr. Damit einher ging die Entwicklung einer neuen Unternehmerklasse, die von den einströmenden Investitionen profitierte.

Druck aus den USA

Ab Mitte der 90er Jahre wurde der Sudan durch die USA unter Druck gesetzt. Im Februar 1996 zogen diese ihre Diplomaten ab, im November 1998 folgte das Verbot sudanesischer Importe und finanzieller Transaktionen. Die Bombardierung des Al-Shifa-Pharmaziewerks 1998 und die »nicht-tödliche« Unterstützung der SPLA mit mehreren Millionen US-Dollar bildeten dabei den Höhepunkt. Die Regierung von George W. Bush schaltete sich ab Mai 2002 als Mitglied der »Troika« (USA, Großbritannien, Norwegen) in den unter Vermittlung der Intergovernmental Authority of Development (IGAD) laufenden Friedensprozeß ein.

Bereits im Januar 2002 war ein Waffenstillstand zwischen SPLA und Zentralregierung geschlossen worden, und im Juli 2002 wurde das Machakos-Protokoll unterzeichnet. Die Zentralregierung akzeptierte das Recht des Südens auf Selbstbestimmung, während SPLA die Scharia als Grundlage der Rechtsprechung im Norden anerkannte. Ferner wurde ein Referendum sechs Jahre nach Abschluß eines Friedensabkommens über die Abtrennung des Südens vereinbart.

Die Vereinbarung war Ausdruck der Kriegsmüdigkeit beider Seiten. Zwar wirkten sich ab 2001 die Öleinnahmen für die Zentralregierung positiv aus, doch deutete die Entwicklung separatistischer Tendenzen im Nordosten einen neuen Konfliktherd an. Der im Kernland unpopuläre Einsatz von Wehrpflichtigen setzte die Regierung zusätzlich unter Druck. Gleichzeitig hatte sie die Erwartung, bei einem Fortschreiten des Friedensprozesses mit einer Aufhebung der Sanktionen belohnt zu werden. Garangs Konzept eines säkularen »Neuen Sudan« hingegen war im Norden nicht durchsetzbar und auch innerhalb des Südens umstritten: Die Abhaltung des Referendums ist ein Kompromiß innerhalb des Südens zwischen separatistischen und unitaristischen Tendenzen. Nachdem der grundlegende Rahmen geklärt war, gestaltete sich die Ausformulierung des Abkommens vergleichsweise einfach. Dazu trug auch bei, daß sich zwischen dem Verhandlungsführer der Regierung Taha und SPLA-Chef Garang gute persönliche Beziehungen entwickelten und zur Verblüffung von US-Diplomaten oft Probleme unter Umgehung der »Troika« direkt lösten.[8] Am 9. Januar 2005 wurde das Comprehensive Peace Agreement unterzeichnet. Wenige Wochen später starb John Garang bei einem Hubschrauberabsturz.

Die Bevölkerung des Südsudan stimmt seit Ende letzter Woche über einen eigenständigen Staat ab. Seine Bildung ist das Resultat langjähriger Konflikte, die letztlich nicht gelöst werden konnten.

Anmerkungen
  1. Niblock, Tim: Class and Power in Sudan, Houndmills, Macmillan 1987, S. 85-89
  2. Niblock, Tim, a.a.O., S. 152-155
  3. Collins, Robert: A History of Modern Sudan, Cambridge, Cambridge University Press 2008, S. 106
  4. Layish, Aharon/Warburg, Gabriel: The Reinstatement of Islamic Law in Sudan under Numayri, Leiden, Brill 2002, S.30
  5. Niblock, Tim, a.a.O., S. 253-254
  6. Collins, Robert, a.a.O., S. 135
  7. Collins, Robert, a.a.O., S. 143
  8. Millington, Jeff: »Lessons from the Past«, S. 8; www.enoughproject.org
* Jan Köstner hat afrikanische Geschichte studiert und promoviert zur Zeit am Institut für Afrikanistik an der Universität Leipzig. Er ist Redakteur beim Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus.

Aus: junge Welt, 14. Januar 2011



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