"Gestrandet" nach dem Krieg in Sri Lanka
Tausende Tamilen sehen sich neuen Risiken ausgesetzt
Von Lee Yu Kyung *
Im Mai 2009, nach einer mehrmonatigen Offensive der Regierungsarmee Sri
Lankas, endete der 1983 ausgebrochene Konflikt zwischen tamilischer
Minderheit und singhalesischer Mehrheit mit der Zerschlagung der
Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE), die für einen Separatstaat
gekämpft hatten. Etwa 100 000 Menschen kamen durch den Krieg ums Leben.
Für Zehntausende dauert das Leiden an.
Am Abend des 16. Mai 2009 war der 60-jährige Karan [1] als einer von 250
000 Tamilen auf die Seite der srilankischen Regierungsarmee geflohen,
deren Artillerie sie unter Dauerbeschuss genommen hatte. »Es war gegen
meine Überzeugung«, bekräftigt Karan und widerspricht einer Behauptung
der Regierung: »Die LTTE (Befreiungstiger von Tamil Eelam) haben
niemanden als Geisel genommen oder als menschlichen Schutzschild oder
irgendwas missbraucht.« Die Tiger seien schließlich Kinder des
tamilischen Volkes.
In den ersten Monaten des Jahres 2009 hatte Karan sein Moped bis zum
äußersten strapaziert, um Ausmaß und Opfer des Krieges zu ermitteln. Er
war einer der wenigen tamilischen Journalisten in der Kriegszone und
schätzt die Zahl der Toten zwischen 14. Januar und 25. April auf
mindestens 8000. Den Blutzoll der folgenden drei Wochen, den die UNO auf
ungefähr 20 000 schätzt, will er nicht beziffern. »Ich kann Ihnen nur
sagen, was ich persönlich gesehen habe. Was ich von anderen gehört habe,
will ich nicht wiederholen.«
Nach dem offiziellen Kriegsende geriet Karan ins Internierungslager
Manik Farm bei Vavunya, das von der Regierung zur Sperrzone erklärt
wurde, für Hilfsorganisationen wie auch - und erst recht - für
unabhängige Beobachter und Journalisten. Karan wurde am 20. Mai der
»Zone 4« zugeteilt. Heute ist er jedoch weder im Lager noch überhaupt in
Sri Lanka. Ihm ist die Flucht aus dem Land gelungen, das als eines der
gefährlichsten für Journalisten gilt.
»Warum schläfst du hier in der heißen Sonne? Wenn du Geld hast, kannst
du hier raus.« Es war Mitte Juni, als ein Fremder Karan dies
zuflüsterte. Er lag außerhalb eines völlig überfüllten Zeltes, in dem
nicht weniger als 14 Menschen untergebracht waren. Wer war der Fremde?
Ein Armeespion? Sicherheitshalber sagte Karan, er finde das alles gar
nicht so schlimm. Obwohl er wirklich nichts anderes im Sinn hatte, als
einen Weg aus dem Lager zu finden, in dem es oft nur ungenießbares Essen
gab.
»Etwas später kam wieder ein Mann auf mich zu und bot mir an, mich aus
dem Lager zu bringen, wenn ich Geld hätte. Er gehörte zu den
Gemüselieferanten der Zone.« Karan zahlte 200 000 Rupien (1200 Euro). Zu
vereinbarter Zeit stieg er auf das Fahrzeug des »Gemüsemannes« und
verbarg sich unter leeren Säcken. Sicherheitskräfte, wahrscheinlich
bestochen, ließen das Auto mit dem Haufen leerer Gemüsesäcke passieren.
Der Wagen hielt an einem Wohnhaus nahe Vavunya, wo Karan weitere zehn
Flüchtlinge traf. Zwei Tage später gab man ihm ein Ticket für den Zug
nach Colombo. Ein Junge brachte ihn zum Bahnhof. Damit endete die
Gegenleistung für 200 000 Rupien Fluchtgeld.
»In Colombo traf ich jemanden, der auch geflohen war. Er war auf ein
Fahrzeug aufgesprungen, das die Toten aus dem Lager brachte, und hatte
sich zwischen die toten Körper gelegt«, berichtet Karan, der einen
weiteren großen Betrag an einen anderen Fluchthelfer zahlte und sich nun
in einem Land Südostasiens aufhält.
Niemand weiß genau, wie viele Tamilen aus den Lagern und später aus Sri
Lanka geflüchtet sind. Der interne Bericht einer Hilfsorganisation, der
ND vorliegt, nennt 5186 Insassen, die die Lager »ohne Wissen der
Behörden verlassen« haben. Ein Ausweis für die beschämenden Bedingungen
in den stacheldrahtumzäunten »Zonen«, in denen Sicherheitskräfte wie auf
einem möglichen Schlachtfeld patrouillieren.
Flüchtlinge bestätigen, was britische Medien berichteten. Am 10. Juli
2009 hatte die »Times« eine anerkannte internationale Hilfsorganisation
mit den Worten zitiert, dass »jede Woche um die 1400 Menschen in dem
riesigen Internierungslager Manik Farm sterben«. Es waren meist Ältere
und Kinder, die an relativ einfachen Krankheiten wie Durchfall und hohem
Fieber starben - aufgrund von Mangelernährung.
Der 23-jährige Jeyabalan [1], der Anfang November aus »Zone 2« entkam,
erzählt: »Ich ging Mitte Juni zum Hospital, vor dem wie immer eine lange
Schlange stand. Gegen 13 Uhr fiel eine alte Frau um und starb innerhalb
weniger Stunden. Niemand dachte daran, sich um sie zu kümmern, alle
waren schon am frühen Morgen gekommen, nur um ein paar Tabletten zu
ergattern.« Er weiß auch von Lautsprecherdurchsagen: »Hier ist ein toter
Körper. Jeder, der einen Familienangehörigen vermisst, komme bitte her,
um ihn zu identifizieren.«
Rajini [1], die drei Monate in »Zone 4« interniert war, konnte wegen der
langen Schlange 15 Tage lang keinen Arzt aufsuchen. Als sie endlich
untersucht wurde, stellte der Mediziner eine Lungenentzündung fest. Aber
sie erhielt nur ein paar Fiebertabletten. »Mehr als 20 Menschen starben
in diesen drei Monaten in unserem Block D2. Und in Zone 4 gab es 54
Blöcke - von A1 bis F9. Ich hatte noch Glück, denn mein Block lag in der Nähe der höher gelegenen Hauptstraße, während die Blöcke D8 und D9, in denen Verwandte von mir untergebracht waren, oft von Regenfällen
überflutet wurden«, erzählt Rajini.
Der Mangel an allen möglichen Versorgungseinrichtungen in den Lagern
verschlimmerte die Katastrophe. Viele brachen schon in der Nacht oder am
sehr frühen Morgen auf, um die langen Schlangen nach Lebensmitteln,
Wasser, einer Toilette oder ärztlicher Hilfe zu umgehen. Einige
verschwanden für immer. »Ich sah eine Mutter, die weinte, weil ihre
Tochter auf der Suche nach Wasser am frühen Morgen aufgebrochen, bis zum
späten Nachtmittag aber nicht zurückgekehrt war«, erzählt Karan. Die
30-jährige Chandra*, berichtet ähnliches: »Es war am 23. oder 24. Mai.
Die Leute sprachen darüber, dass sechs Tote in der Nähe eines kleinen
Flusses gefunden worden waren, der die Zonen 1 und 2 voneinander
trennte. Ich ging zum Fluss und sah den leblosen Körper einer jungen
Frau. Sie hatte im Nachbarzelt gelebt, war am frühen Morgen zur Toilette
gegangen und nicht zurückgekehrt. Frauen hatten dort oft in der
Dunkelheit ein Bad genommen.« Die gleiche Geschichte erzählt Siva [1] , die
am anderen Ufer des Flusses interniert worden war.
»Sie waren betrunken!« Rajini erregt sich. »Die besoffenen Soldaten
kamen zur Küche oder zum Wassertank, wenn die Leute dort spät nachts
oder früh am Morgen in der Schlange standen. Sie schikanierten die
Mädchen.« Vom ersten Tag an sei sie selbst im Lager gedemütigt worden.
»Es gab keine einzige weibliche Verantwortliche, als wir dorthin
gebracht wurden. Die Soldaten kontrollierten unsere Körper und unsere
Habseligkeiten - 10 Minuten lang pro Person. Ich fühlte mich gedemütigt, konnte aber nichts dagegen tun. Keiner dort sprach Tamilisch.«
Während des Krieges hatten sich Regierungssender durchaus auf Tamilisch
an die späteren Lagerinsassen gewandt: »Ihr habt keine andere Wahl als
zur Regierungsseite überzuwechseln. Dort erhaltet ihr gutes Essen,
Wasser, Unterkunft und alle Güter des täglichen Bedarfs.« Tatsächlich
war nichts von alledem vorbereitet für jene, die drei oder vier Tage
lang nichts gegessen hatten, als sie schließlich auf der Regierungsseite
Zuflucht suchen mussten.
»Wir haben drei Tage unter freiem Himmel und ohne irgendetwas
zugebracht. Die Armee war bei 22 000 angekommen, als sie aufhörte, die
Flüchtlinge weiter zu zählen. Einige Soldaten waren menschlich, sie
gaben uns von ihrem Essen«, berichtet Aravindan*, die am Morgen des 17.
Mai aus der Kriegszone geflohen war.
Ab 20. Mai wurden die Tamilen in die Lager um Vavunya gebracht. »Wir
versuchten, unsere Würde auch unter den harten Bedingungen des Krieges
zu wahren. Aber sobald wir im Lager angekommen waren, warf die Armee ein
paar Lebensmittelpakete einfach über die Köpfe der Menge. Woraufhin
Tausende ums Essen kämpften.« Als sie die Geschichte von der Ankunft im
Lager erzählt, bricht die stolze Chandra in Tränen aus.
Etwa acht Monate sind vergangen, seit der Krieg für beendet erklärt
wurde. Sri Lankas Präsident Mahinda Rajapakse versicherte seinerzeit,
dass die Flüchtlinge binnen 180 Tagen entlassen würden. Ende November
war die Frist abgelaufen. Laut einem Bericht des UN-Büros für die
Koordinierung Humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) wurden bis Jahresende
155 942 Flüchtlinge entlassen, 108 106 blieben interniert und in ihrer
»Bewegungsfreiheit eingeschränkt«.
Und die Entlassenen? »Der Zugang zu den Rückkehrgebieten, vor allem zu
den früher durch die LTTE kontrollierten, ist Hilfsorganisationen
verboten. Daher ist es für die Betroffenen sehr schwierig, Hilfe dort zu
erhalten, wo sie am notwendigsten wäre«, erklärte ein
Menschenrechtsaktivist in Sri Lanka gegenüber ND. Er möchte seinen Namen
nicht genannt wissen.
Chris Patten, Kovorsitzender der International Crisis Group (ICG) in
Brüssel, schrieb in der »New York Times« am 12. Januar: »Ein großer Teil
der mehr als 150 000 Menschen, die aus den Lagern entlassen wurden, sind
weder in ihre Häuser zurückgekehrt noch wurden sie umgesiedelt. Sie
wurden in 'Transitzentren' in ihren Heimatdistrikten gebracht, wo sie
bis heute sind.«
Vor Karan, Chandra, Jeyabalan, Rajini und Tausenden anderen, die den
Lagern entkamen und jetzt Asyl und Schutz suchen, liegen weitere
Unwägbarkeiten. Nicht nur, dass ihre Zufluchtsländer die
UN-Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet haben. Selbst
Unterzeichnerstaaten wie Australien, ein bevorzugtes Ziel, sind nicht
bereit, Asylsuchende aufzunehmen, wie der Fall jener 254 Tamilen zeigt,
die mit einem Boot bei Merak in Indonesien strandeten. Die Propaganda
der Regierung Sri Lankas und einiger Medien, die »Menschenschmuggler«
für die Flüchtlingskrise verantwortlich machen, setzt die Asylsuchenden
weiteren Risiken aus.
»Das ist kein Menschenschmuggel«, sagte Irene Khan, Generalsekretärin
von Amnesty International, in einem Interview mit »Al Dschasira«. »Diese
Menschen suchen Schutz, aber die internationale Gemeinschaft tut sehr
wenig für sie. Es gibt keine Wiederansiedlung der Flüchtlinge. Ihr
Schutz ist sehr gering und daher nehmen die Menschen ihr Schicksal in
die eigenen Hände und suchen verzweifelt nach einem Ort, wo sie in
Sicherheit sind.«
[1] Namen der Flüchtlinge wurden geändert.
* Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2010
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