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Sri Lanka lässt die Chance ungenutzt

Not und Leid haben den ethnisch-sozialen Konflikt nicht nachhaltig verdrängt

Von Hilmar Koenig, Colombo

Sri Lankas Regierung und die tamilische Befreiungsorganisation LTTE liegen sich, wie man es von ihnen kennt, in den Haaren. Hauptsächlich geht es dabei um die gerechte Verteilung der Hilfsgüter an Tsunami-Geschädigte und um die Erweiterung des Einflussbereichs.

Die »Befreiungstiger« behaupten, die Gebiete unter ihrer Kontrolle im Norden und Osten würden bei der Tsunami-Katastrophenhilfe vernachlässigt. Colombo kontert, man habe gerade die dortige Bevölkerung überproportional versorgt. Die Wahrheit liegt gewiss irgendwo dazwischen, denn der Nordosten hat eine schwache Infrastruktur, was in den ersten Tagen die Transporte objektiv behinderte. Absichtlich hat Colombo die Fürsorge für die Notleidenden in diesen Gebieten gewiss nicht verzögert. Solche bewusste Vernachlässigung wäre nur Wasser auf die Mühlen der tamilischen Rebellen, die behaupten, die mehrheitlich aus Singhalesen bestehende Regierung diskriminiere die Minderheit, weshalb der ethnisch-soziale Konflikt nur durch die Bildung eines Separatstaates oder weitgehende tamilische Selbstverwaltung zu lösen sei.

Jedenfalls wurden die Maßnahmen zur Überlebenssicherung und zum Wiederaufbau in den letzten Tagen zu einem erbitterten Machtkampf zwischen LTTE und Regierungsbehörden: Wer bekommt wo einen Fuß in die Tür? Dazu gehörte auch die vom staatlichen Rundfunk am Sonnabend verbreitete Meinung von Vizeadmiral Daya Sandagiri, Rebellenchef Velupillai Prabhakaran und der Leiter des Geheimdienstes, Pottu Amman, seien unter den Toten oder Vermissten. Die LTTE wies diese »fabrizierte und böswillige Propaganda« empört zurück. Die Zeitung »The Island« hatte berichtet, ein teurer Sarg für einen hohen LTTE-Vertreter sei unter Hilfsgütern in den Norden geschmuggelt worden. Der Rundfunk distanzierte sich später von seiner Meldung. Tatsache ist, dass Prabhakaran seit November vorigen Jahres nicht mehr öffentlich auftrat.

Zu dem Tauziehen gehörte ebenso eine Einladung der LTTE an UNO-Generalsekretär Kofi Annan, auch ihren Machtbereich zu inspizieren. Colombo wusste den Besuch freilich aus »Sicherheitserwägungen« zu verhindern.

Präsidentin Chandrika Kumaratunga ordnete an, die Flüchtlingslager überall im Land unter die Kontrolle des Militärs zu stellen, weil dessen Kommandostruktur effektivstes Funktionieren, Schutz vor Missbrauch und Korruption garantiere. Die Rebellen protestierten dagegen, obwohl sich die Order gar nicht auf ihren Einflussbereich bezieht. Als Mitte voriger Woche bewaffnete Soldaten einrückten, verließen Flüchtlinge tatsächlich zu Hunderten die Lager im Nordosten. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR riet denn auch, fähige Zivilisten für die Lagerverwaltung verantwortlich zu machen.

Die LTTE verlangt, dass Hilfsgüter für von ihr kontrollierte Gebiete direkt an sie oder über die Tamilische Wiederaufbauorganisation TRO geliefert werden. Der TRO sagt man allerdings nach, auch die Rekrutierung von LTTE-Kindersoldaten zu betreiben. Colombo unterstellt den Rebellen, dass sie tamilische Waisen in ihre Obhut genommen haben, nur um sie militärisch auszubilden und später in die Guerilla-Kommandos einzugliedern.

Der Machtkampf hat die anfangs von Jaffna im Norden bis Matara im Süden gehegte und von zahlreichen Persönlichkeiten genährte Hoffnung zerschlagen, dass das Desaster, das alle religiösen und ethnischen Gruppen gleichermaßen heimsuchte, zu nationaler Eintracht führen und die Wiederaufnahme des im April 2003 unterbrochenen Friedensdialogs erleichtern möge. Colombos Erzbischof Dulip de Chickera äußerte: »Ich hege keinen Zweifel, dass diese gemeinsame Erfahrung des Leids und der Solidarität uns auf dem Weg zu Einheit, Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung stärken wird.« Die Staatspräsidentin sprach von einer »historischen Gelegenheit«, das Kriegsbeil zu begraben. In einem Flüchtlingslager im östlichen Trincomalee hatte sie, die im Jahre 1999 nach einem Attentat von Rebellen auf einem Auge erblindete, zwei LTTE-Helferinnen demonstrativ die Hand gereicht. Selbst S. P. Thamilselvan, Leiter der politischen Abteilung der Guerilla, gab sich anfangs überzeugt davon, dass die Kooperation im humanitären Bereich »ganz bestimmt einen positiven Effekt auf den Friedensprozess insgesamt haben wird«.

Der LTTE-Sonderkommandeur des Ostens, Oberst Bhanu, wollte die Opfer nicht nach Tamilen, Muslimen oder Singhalesen unterscheiden. Die Sorge gelte einzig und allein den Menschen, die vom Tsunami heimgesucht wurden. Zumindest auf örtlicher Ebene arbeitete man eine Woche lang denn auch ziemlich reibungslos zusammen. Die Meldungen über Rettungsaktionen der Seetiger, die Soldaten aus den Fluten zogen, über Blutspenden von hunderten Soldaten im nordöstlichen Katastrophengebiet sowie über Nachbarschaftshilfe zwischen hinduistischen und christlichen Tamilen, buddhistischen Singhalesen und Muslimen lösten zunächst den Ruf aus: »Lasst uns einen neuen Anfang machen, eine Nation mit gleichen Rechten für alle bei Wahrung der ethnischen und religiösen Identität werden.«

Von diesem Geist ist jedoch nicht mehr viel geblieben. Den ethnisch-sozialen Konflikt kann offenbar auch die schlimmste menschliche Tragödie nicht verdrängen. »Sie setzen ihre Rivalitäten aus der Zeit vor dem Tsunami fort und sie werden das weiter so machen, bis es eine politische Lösung gibt«, schlussfolgert Jehan Perera vom Nationalen Friedensrat.

Einen Trost gibt es: Das Desaster hat nach Meinung des ehemaligen Luftwaffenchefs Harry Gunatillake eine noch größere Katastrophe verhindert – das Wiederaufflammen des Krieges. Die Schäden an militärischen Einrichtungen und der Verlust an Personal seien auf beiden Seiten so erheblich, dass ein Krieg in weite Ferne gerückt ist.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Januar 2005


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