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Auf der Flucht vor Dürre und Krieg

Immer mehr Menschen in Somalia verlassen ihre Heimat

Von Philipp Hedemann, Dadaab *

Rund 1000 Menschen aus Somalia kommen jeden Tag im Flüchtlingslager Dadaab an. Die schlimmste Dürre seit 60 Jahren und der seit über 20 Jahren währende Bürgerkrieg in Somalia haben auch Amina Aden zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen.

Als der Al-Shabaab-Anführer brüllte: »Trennt die Frauen von den Kindern und Alten!«, kramte Amina Aden die zerknitterten Scheine hervor, die ihren sieben erschöpften Kindern tagelange Märsche durch die somalische Steppe ersparen sollten. Sie wusste, die Vermummten würden ihr sonst vor den Augen ihrer Kinder das letzte bisschen Würde nehmen und die 100 000 somalischen Schillinge (umgerechnet rund 45 Euro) anschließend sowieso finden. Als die Mutter zwei Wochen später im kenianischen Dadaab, dem größten Flüchtlingslager der Welt, von der angedrohten Vergewaltigung erzählt, verbirgt sie ihr Gesicht hinter einer Zeltplane. Ihre Kinder sollen nicht sehen, dass ihr Tränen in die Augen geschossen sind. Wie sie kommen täglich rund 1000 Menschen nach mehrtägiger Flucht in Dadaab an.

»Ich hatte 60 Rinder und 100 Ziegen. Doch dann kam die große Dürre. Ein Tier nach dem anderen starb. Bis alle weg waren«, erzählt Amina, während ihre sechsjährige Tochter Raha in der erbarmungslosen Nachmittagssonne in ihrem Schoß schläft. Die Rinder- und Ziegenherden waren der Stolz und einzige Besitz der halbnomadischen Viehhirten in Aminas Dorf Filfile in der Nähe der zwischen der radikalislamischen Al-Shabaab Miliz und der schwachen Übergangsregierung umkämpften Hafenstadt Kismayo. Doch die seit drei Jahren anhaltende Dürre raffte nicht nur Aminas Tiere hin; alle Rinder, Ziegen und Schafe des Dorfes verendeten.

Fast alle gingen mit

»Eines Abends haben sich alle 128 Haushalte unseres Dorfes zusammengesetzt. Wir beschlossen, nach Dadaab zu gehen. Wir konnten doch nicht warten, bis auch noch unsere Kinder sterben«, erzählt Amina.

Nur mit den Kleidern, die sie am Leib trug, einer Plastiktüte mit Milchpulver, Teeblättern und Zucker und den geliehenen 100 000 somalischen Schillingen machte Amina sich drei Tage später im Morgengrauen auf den Weg. Mit einem Tuch hatte sie sich ihren acht Monate alten Sohn Aden Hassan auf den Rücken gebunden, an der einen Hand schleifte sie Raha hinter sich her, in der anderen Hand trug sie einen Plastikkanister mit fünf Litern schmutzigen Wassers. Bis zum nächsten Wasserloch musste die trübe Brühe reichen. Wo das war, wusste die Mutter aber nicht.

Mit Amina und ihren Kindern setzten sich rund 700 Frauen, Kinder und Alte auf billigen Plastiklatschen oder barfuß in Bewegung. Es war der Exodus aus dem Land, das so gefährlich ist, dass internationale Hilfsorganisationen der hungernden Bevölkerung dort kaum helfen können, die gefährliche Flucht oft die einzige Rettung aus Somalia ist. Aminas Mann Mohammed blieb mit den meisten anderen Männern des Dorfes zurück. »Wir können der Al-Shabaab unser Dorf doch nicht einfach so überlassen«, sagt Amina.

Als die Sonne im Zenit stand und die Temperaturen auf über 35 Grad kletterten, machte der Treck im Schatten dorniger Büsche eine erste Pause. Sofort schliefen die Kinder im Staub ein. Erst als die Sonne unterging, machten die Bewohner Filfiles sich wieder auf den Weg. »Wir hatten nur wenig Wasser. Wir konnten nicht in der Hitze des Tages gehen«, sagt Amina.

Den Weg ins verheißungsvolle Dadaab fanden die Flüchtlinge auch im Dunkeln. Zehntausende hatten ihnen eine Spur aus kaputten Schuhen, niedergebrannten Feuern und hastig aufgeschütteten Grabhügeln hinterlassen. »Ich habe gesehen, wie eine Mutter ihr Baby neben der Straße begrub. Es war auf ihrem Rücken gestorben. Sie hat es nicht bemerkt. Seitdem habe ich immer auf Adens Herzschlag auf meinem Rücken geachtet«, erzählt Amina. Die Nomadin hat auch von Müttern gehört, die auf der Flucht ihre gesamte Familie - auch ihre Männer - gestillt haben. Reichte die immer weniger werdende Milch nicht mehr für alle, rangen die Mütter sich zu der schwersten Entscheidung ihres Lebens durch: manche Kinder bekamen nichts mehr. Meist verhungerten so die jüngsten Töchter.

Nächtlicher Überfall

Drei Tage lang marschierten die Menschen aus Filfile in der Nacht und am Vormittag und ruhten während der Hitze des Tages. Bis die Gruppe mitten in der Nacht auf die Al-Shabaab stieß. »Sie stellten sich uns einfach in den Weg. Es waren bestimmt 30 Männer und mindestens zehn von ihnen hatten Gewehre. Sie wollten unser Geld«, erzählt Amina. Als die Frauen das Geld, das ihnen und ihren Kindern einen Platz auf der Ladefläche eines Lastwagens oder in einem überfüllten Bus sichern sollte, nicht rausrückten, fing der al-Shabaab-Anführer an zu brüllen. »Wir mussten uns hinlegen. Sie schlugen die alten Männer mit den Gewehrkolben. Die Kinder schrien. Wir hatten von Frauen gehört, die auf der Flucht vergewaltigt wurden. Wir wussten, dass es keine leere Drohung ist«, erklärt Amina ihr Handeln fast rechtfertigend.

Seitdem marschierten die Frauen, Kinder und Alten nur noch tagsüber. Die Angst vor einem weiteren Überfall war größer als die Angst vor der Hitze des Tages. Immer wieder hörten und sahen sie Hyänen und Löwen. Kamen sie zu nah, machten sie Krach, versuchten, die wilden Tiere so auf Distanz zu halten. Keiner der Bus- und Lastwagenfahrer, die für die Fahrt zur somalisch-kenianischen Grenze horrende Preise verlangen, erbarmte sich der Hilfebedürftigen aus Filfile. Noch gab es Flüchtlinge, die nicht überfallen worden waren und zahlen konnten.

Doch auf ihrem 14-tägigen Marsch stießen Amina und ihre Kinder auch auf Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft. »An jedem Wasserloch durften wir soviel trinken, wie wir konnten und unseren Kanister auffüllen. Eine Familie hat meinen Kindern sogar neue Schuhe geschenkt, als sie sahen, dass sie barfuß gingen«, erzählt Amina. Ihre Füße und die Füße ihrer Kinder sind von dem Hunderte Kilometer langen Marsch über scharfkantige Steine und dornige Büsche dennoch von verschorften Wunden überzogen. Ihr ältester Sohn Hussein Hassan öffnet die Augen nur selten und mit Mühe. »Ich glaube, er wurde auf der Flucht von der Malariamücke gestochen«, sagt seine Mutter. Am nächsten Tag will sie mit dem 12-Jährigen zu einem der Lazarette im Lager gehen.

Keine Pläne mehr

Weitere Pläne hat Amina nicht. Sie glaubt nicht mehr daran, ihr Leben selbst bestimmen zu können. Die jahrelange Dürre, der Bürgerkrieg, der brüllende al-Shabaab-Mann, die freundlichen Mitarbeiter des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen, die ihr und ihren Kindern blaue Armbänder mit Nummern umlegten, die im Lager ihre Identität bedeuten: Schon viel zu lange entscheiden andere über Aminas Leben.

Einen Traum hat die siebenfache Mutter dennoch. Falls wieder Frieden und Regen in Somalia einkehren, möchte sie zurück nach Filfile gehen. Doch sobald Amina an die Mutter, die ihr Baby am Wegesrand begrub und an den Überfall denkt, möchte sie nur noch eines: hier bleiben.

* Aus: neues deutschland, 8. Oktober 2011


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