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Keine Ruhe in Slowenien?

Interview mit Tjaša Pureber, Journalistin und Politikwissenschaftlerin in Ljubljana *


nd: Slowenien erlebt momentan die heftigsten Proteste seit 20 Jahren. Was war der Auslöser?

Pureber: Alles begann Mitte November 2012 mit einer Aktion gegen den korrupten Bürgermeister der Stadt Maribor. In einem undurchsichtigen Geschäft mit einer Privatfirma hatte er auf den wichtigsten Kreuzungen der Stadt Radarfallen aufstellen lassen. Etwa die Hälfte war nach wenigen Tagen abgefackelt worden. Danach begannen spontane Demonstrationen, die sich bald auf das ganze Land ausweiteten. Der Bürgermeister musste zurücktreten, etwas später auch die rechtskonservative Regierung des Landes. Dabei fand ein Slogan Verbreitung, der zum Symbol des Aufstands geworden ist: »Sie sind alle fällig.«

Wogegen richtet sich der Protest mittlerweile genau?

Es ist die erste Protestwelle überhaupt, die sich gegen die politische Klasse, gegen den Sparkurs im Zuge der Krise und mancherorts sogar gegen den Kapitalismus richtet. Seit Beginn der Proteste gingen in Slowenien, das gerade mal zwei Millionen Einwohner hat, bei über 50 Protesten in 18 Städten insgesamt mehr als 130 000 Menschen auf die Straße.

Welche Rolle spielen soziale Spannungen in Ihrem Land?

Nachdem sich Slowenien von Jugoslawien unabhängig erklärt hatte, verschärften sich zusehends die sozialen Unterschiede. Das Land wurde erschüttert von großen Entlassungswellen und Massenarbeitslosigkeit. In den letzten Jahren wuchs die Arbeitslosigkeit auf etwa 12 Prozent. Die schwierige Situation, die bestimmte Bevölkerungsschichten - prekär Beschäftigte, junge Menschen und Migranten - bereits seit längerem kannten, weitete sich auf große Teile der Bevölkerung aus und führte im Endeffekt zum sozialen Aufstand, den wir jetzt erleben.

Wie reagierte die politische Elite auf diese Entwicklung?

Die Regierung setzte zunächst auf eine Diskreditierung der Bewegung, später sogar auf die Bildung einer »Antiprotestbewegung«, die jedoch kläglich scheiterte. Von Anfang an prägte die Brutalität der Polizei als Versuch, die Protestierenden einzuschüchtern, die Demonstrationen. Das führte zu einer umfassenden Solidarisierung der Bevölkerung. Der massive Einsatz von Pfefferspray und Tränengas, das Einreiten mit Pferden in Demonstrationszüge, willkürliche Verhaftungen und Durchsuchungen waren und sind an der Tagesordnung. Aktivisten sehen sich zudem hohen Bußgeldforderungen und Anklagen ausgesetzt.

Wird der Protest dennoch aufrecht erhalten?

Nach dem Rücktritt der Regierung gingen in der Hauptstadt Ljubljana zwar nicht mehr 30 000, aber immer noch 10 000 Menschen auf die Straße. Das ist viel für Slowenien! Und bestimmte Merkmale der Proteste sind erhalten geblieben: Sie sind horizontal und antiautoritär und jede Einmischung von Parteien wird abgelehnt. Stärker als zu Beginn der Bewegung stehen öffentliche Versammlungen in größeren Städten, insbesondere in Ljubljana, im Vordergrund. Die Beteiligten tauschen sich aus und entwickeln gemeinsam Alternativen. Sie fordern beispielsweise einen Bürgerhaushalt oder wenden sich gegen die Privatisierung der Wasserversorgung. Aber auch banalere Themen wie das Parken im städtischen Bereich werden diskutiert. Am 27. April soll die fünfte Großdemonstration in Ljubljana stattfinden.

Fragen: Bettina Hoyer

* Aus: neues deutschland, Samstag, 20. April 2013


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