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"Wir sind der EU nicht nackt beigetreten"

Gespräch mit Rado Genorio* über den slowenischen Sonderweg in die Europäische Union und über das "alte" und "neue Europa"

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das die Zeitung "junge Welt" mit dem slowenischen Verhandlungsführer im EU-Beitrittsprozess, Rado Genorio, geführt hat (Interview: Werner Pirker).


Frage: Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Slowenien ist am 1. Mai der Europäischen Union beigetreten. Das wird allgemein als eine slowenische Erfolgsstory vermerkt. Wie verlief der Weg von Jugoslawien zur EU?

Rado Genorio: Es gab drei Ebenen der ökonomischen Transformation in Slowenien: von der slowenischen als Teil der jugoslawischen Wirtschaft zur slowenischen Nationalökonomie. Von der sozialistischen Selbstverwaltung zur Marktwirtschaft. Und von der unabhängigen slowenischen Wirtschaft zur Integration in die Europäischen Union. Das ist tatsächlich eine slowenische Erfolgsstory, die sich wesentlich von der Entwicklung in den ehemaligen RGW-Staaten unterscheidet. Da wir auch zu kommunistischen Zeiten offene Grenzen hatten, kannten wir den Westen, die Funktionsweise seiner Demokratie und der Marktwirtschaft besser. Von unserem liberalen Kommunismus aus war der Übergang leichter zu bewältigen. Wir stürzten uns nicht Hals über Kopf in die Marktwirtschaft. Vor allem waren wir für die Ratschläge von IWF und Weltbank wesentlich weniger empfänglich als die Länder aus dem ehemaligen Ostblock. Dort herrschten große Illusionen. Sie haben in der EU-Osterweiterung nur den Vorteil eines großen Marktes gesehen, ohne die notwendigen Umstrukturierungen vorzunehmen. Die neuen politischen Eliten haben blindlings akzeptiert, was ihnen vom Westen diktiert wurde.

F: Was hat Slowenien anders gemacht?

Vor allem gab es bei uns keine Schocktherapie und keine übertriebene Liberalisierung. Slowenien entschied sich für den Gradualismus, für den schrittweisen Übergang. In den vergangenen zwölf Jahren haben wir erfolgreich die Privatisierung durchgeführt und den Bankensektor saniert. Wir sind nicht nackt der EU beigetreten wie andere Kandidaten. Das Bankkapital verblieb überwiegend in slowenischer Hand.

F: Die Wirtschaftsreformen in den osteuropäischen Ländern haben einen weitgehenden nationalen Ausverkauf, vor allem aber eine dramatische Deindustrialisierung bewirkt. Und in Slowenien?

Wir haben nicht nur wichtige Teile unserer industriellen Produktion vor dem Ausverkauf bewahrt, unsere erfolgreichsten Unternehmen expandieren sogar. Das betrifft vor allem den westlichen Balkan. In den letzten beiden Jahren haben wir dort über eine Milliarde Euro umgesetzt.

F: Wie wirkt sich das auf die Lebensverhältnisse der Menschen aus?

Bei uns konnte ein überdurchschnittlich hoher sozialer Standard aufrechterhalten werden. Mitte der 1990er Jahre betrug die Arbeitslosenrate noch 14 Prozent. Zum Zeitpunkt des EU-Beitritts waren es nur noch sechs Prozent, was unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Die uns belächelt haben und voraussagten, daß wir bald Gras fressen würden, müssen nun eingestehen, daß unser Weg richtig war. Slowenien gehört zu den 28 am meisten entwickelten Staaten. In den nächsten zehn Jahren wollen wir zu den Top ten aufsteigen. Was früher unvorstellbar gewesen wäre, daß Slowenien (das österreichische Bundesland; W. P.) Kärnten (wo eine slowenische Minderheit ansässig ist; W. P.) wirtschaftlich überholen könnte, wird in den nächsten Jahren bereits der Fall sein. Heute liegen schon langjährige EU-Mitglieder wie Portugal oder Griechenland weit hinter Slowenien. Vom BIP her befindet sich unser Land auf dem Niveau Spaniens.

F: Wie sieht die Struktur der slowenischen Volkswirtschaft aus?

Wir setzen vor allem auf die »human resources«, weil wir auf wissenschaftlichem Gebiet über gute infrastrukturelle Voraussetzungen und deshalb über ein großes Potential an intelligenter Arbeit verfügen. Große Bedeutung kommt dem Dienstleistungssektor zu, der über 60 Prozent des BIP erwirtschaftet. Slowenien hat den Bankensektor selbst saniert, die Verkehrsinfrastruktur selbst geschaffen. Dafür wurden sechs Milliarden Euro investiert. Der Kredit, den wir von der Europäischen Investitionsbank erhielten, betrug eine Milliarde Euro. Deshalb begegnen wir den neuen Herausforderungen in der EU mit Optimismus. Ein Markt mit 450 Millionen Einwohnern ist eine große Chance für ein Zwei-Millionen-Volk.

F: Es besteht aber auch die Gefahr, daß es im Powerplay der europäischen Hegemonialmächte, von dem die EU beherrscht wird, untergeht.

Slowenien befindet sind an einem geographischen und ethnischen Schnittpunkt in Europa: zwischen dem germanischen und dem romanischen Raum, zwischen deutschen und italienischen Interessen. Bei der Bankensanierung haben wir das deutsche, österreichische und italienische Bankkapital weitgehend ferngehalten und dem belgischen und französischen Kapital den Vorzug gegeben. Das unterscheidet uns von Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Das slowakische Bankkapital zum Beispiel ist zu 100 Prozent in österreichischer Hand. Diese Banken vertreten natürlich österreichische und nicht slowakische Interessen. Bei der Ljubljanska Banka hält die französische Société Générale einen Anteil von 34 Prozent. Der slowenische Staat ist im Bankensektor sehr aktiv geblieben, auch im Versicherungswesen.

F: Slowenien hat eine recht eigenwillige Privatisierung hinter sich. Es kam zu keinem radikalen Bruch mit den selbstverwalteten Eigentumsformen, sondern zu deren schrittweiser Überführung in privatkapitalistische Verhältnisse. Die Vorteile der Selbstverwaltung und des gesellschaftlichen Eigentums sollten der Transformation nutzbar gemacht werden. Hat diese Privatisierungslogik nicht das Mißfallen der westlichen Reformzentralen erregt?

Die Privatisierung beruhte auf der Ausgabe von Vouchers, das sind Zertifikate. Arbeiter und Manager konnten so in ihre Betriebe oder in Fonds investieren, die ihre Aktien treuhänderisch verwalteten. Für das ausländische Kapital haben wir in den 1990er Jahren die Tür nur sehr langsam geöffnet, dem spekulativen Kapital blieb sie verschlossen. Bei Beteiligungen ausländischer Firmen an slowenischen Unternehmen trugen wir dafür Sorge, daß das Know-how und auch das Management in slowenischen Händen blieb. Zwischen 1 300 und 1 400 Einheiten wurden privatisiert. Dies geschah im Zusammenwirken von Voucher-Privatisierung und schrittweiser Kapitalisierung. Natürlich stieß das anfangs auf heftige Kritik von seiten der internationalen Finanzorganisationen. Sie versuchten, auch in Slowenien ihre auf der Schocktherapie beruhenden Konzepte durchzusetzen. Aber wir ließen uns davon nicht beirren. Der Erfolg gab uns recht. Im jüngsten Jahresbericht der Weltbank wird Slowenien als Beispiel für eine erfolgreiche Transformation hervorgehoben. Unserem Land kam zugute, daß es während der ganzen Umgestaltungsperiode eine Mitte-Links-Regierung hatte, die für politische Stabilität sorgte.

F: In Rußland führte die Voucher-Privatisierung zur räuberischen Enteignung des Volkseigentums. Die »Volksaktien« florierten auf dem freien Markt, was die Voraussetzung für die Umverteilung nach oben und die Herausbildung des spekulativen Finanzkapitals schuf. Warum ist das in Slowenien anders verlaufen?

Bei uns wurde, wie schon erwähnt, das Spekulationskapital an die Kette gelegt. Die Umgestaltung des Bankwesens erfolgte unter staatlicher Kontrolle, wobei auch klare politische, in gewisser Hinsicht geopolitische Prioritäten gesetzt wurden. Zudem wurde darauf orientiert, Elemente der Selbstverwaltung in das neue System zu integrieren. Die Angestellten spielen immer noch eine große Rolle in der Verwaltung, wo sie das Interesse der Aktionäre vertreten. Das ist ein flexibles System, das am Erfolg, der Erhöhung der Produktivität, gemessen wird. Das betrifft auch ausländische Kapitalinvestitionen. Sie sind nur da willkommen, wo sie der slowenischen Wirtschaft nützlich sind. Es geht nicht nur um das Kapital, sondern auch um das Know-how.

F: Was Slowenien offenbar gelungen ist, eine den nationalen Besonderheiten entsprechende und die historischen Voraussetzungen berücksichtigende Transformation zur Marktwirtschaft vorzunehmen, wurde während der Milosevic-Ära auch in der Bundesrepublik Jugoslawien versucht. Doch dieser Versuch ist nicht bloß vom Internationalen Währungsfonds abgemahnt, sondern von der NATO mit Bomben abgestraft worden. Was meinen Sie dazu?

Das war eine Manipulation der politischen Eliten um Milosevic, die einzig der Selbstbereicherung diente.

F: Während Slowenien Anschluß an das entwickelte Europa gefunden hat, bleibt der Balkan, von dem sich die Alpenslawen losgelöst haben, der Hinterhof des Kontinents.

Weder Österreich-Ungarn noch das Osmanische Reich konnten den Balkan befrieden. Und auch die EU versagt. Deswegen ist es gut, daß der slawische Geist nach Europa gekommen ist, um die alte Dame auf Trab zu bringen. Sehen Sie sich nur an, was im Kosovo passiert. Da werden Unmengen Steuergelder verschwendet, ohne daß sich irgend etwas positiv bewegt. Slowenien verfügt von allen EU-Ländern über die besten Balkan-Kenntnisse, die es gerne einbringen würde. Aber immerhin gibt es mit Janez Potocnik einen Slowenen als EU-Kommissar für die Osterweiterung.

F: Die Balkan-Probleme dürften doch weniger auf Unfähigkeit als auf bösen Willen zurückzuführen sein. Der Hinterhof soll in Abhängigkeit gehalten, Serbien soll in die Knie gezwungen werden. Es gibt ihn doch noch, den deutschen Drang nach Osten bzw. Südosten?

Inzwischen ist auch die EU an einer Stabilisierung der Situation auf dem Balkan interessiert. Bis dahin gab es in der Region eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen geopolitischen Konzepten um die Vorherrschaft – darunter verstehe ich auch den deutschen Drang nach Osten. Will Europa jedoch, auch im Verhältnis zu den USA, als wirklicher Global player auftreten, muß es die Balkan-Konflikte einer europäischen Lösung zuführen. Dazu müssen die Europäer an einem Strang ziehen. Vor allem muß diese Politik transparenter gestaltet werden.

F: Um zu einem mächtigen, wenn nicht zum mächtigsten Global player zu werden, rüstet die EU stark auf. Liegt diese Militarisierung im Interesse Sloweniens?

Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik macht im Budget nur drei Prozent aus. Es gibt keine Militarisierung. Es gibt aber die Angst vor dem Terrorismus. Die politischen Eliten in den alten Mitgliedsstaaten werden ihre Positionen völlig überdenken müssen.

F: Das klingt nach der Rumsfeld-Formel vom alten und vom neuen Europa.

Europa hat noch nie so wenig auf die USA gehört wie jetzt. Der spanische Ministerpräsident Aznar mußte über Nacht gehen, weil er der Politik der Amerikaner folgte. Berlusconi in Italien fürchtet, die nächsten Wahlen zu verlieren. Mit der Erweiterung ist allerdings eine grundlegend neue Situation entstanden.

F: Der europäische Integrationsprozeß wird von den Menschen in den EU-Mitgliedsländern vor allem als ein Prozeß der Entdemokratisierung wahrgenommen.

Die Slowenen verstehen sehr gut, was in den europäischen Institutionen passiert. Sie durchschauen die Struktur. In Slowenien wurde eigens ein Gesetz über die Zusammenarbeit von Regierung und Parlament in europäischen Angelegenheiten verabschiedet. Slowenien war auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme unter den Beitrittsländern. Das Parlament war in die Beitrittsverhandlungen anders als in Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei einbezogen. Jedes Papier ist durch das Parlament und durch die Öffentlichkeit gegangen. Die Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft waren in den Prozeß involviert.

F: Welche Zivilgesellschaft?

Bei den Verhandlungen waren die Vizepräsidenten der Zentralbank und der Handelskammer dabei.

F: Sie haben an den Verhandlungen seit deren Beginn teilgenommen. Was gibt es darüber zu erzählen?

Anfangs, das war 1995, stritten wir uns vor allem mit den Italienern. Sie wollten die uneingeschränkte Möglichkeit für Ausländer durchsetzen, in Slowenien Grund und Boden zu erwerben. Bei den eigentlichen Beitrittsverhandlungen hatten wir es mit einer Blockadehaltung von seiten Österreichs zu tun. Wien verlangte die Schließung des Atomkraftwerkes Krsko. Es mußte sich von einer europäischen Expertise belehren lassen, daß dieses Kraftwerk modernsten westlichen Sicherheitsstandards entspricht. Auch der dann später erhobene Einwand, Krsko liege in einer Erdbebenzone, wurde widerlegt. Wir sind nicht nachtragend. Doch sollten die Österreicher wissen, daß sie heute in Slowenien präsenter wären, hätten sie sich damals anders verhalten.

Das Gespräch führte Werner Pirker in Ljubljana

* Dr. Rado Genorio (geb. 1955) war seit 1983 Direktor des Geographischen Instituts der Universität von Ljubljana. Sein wissenschaftliches Arbeitsgebiet war politische Geographie. 1992 wurde er Staatssekretär im slowenischen Wissenschaftsministerium und ist gegenwärtig Direktor des Büros für Europäische Angelegenheiten im Außenministerium der Republik Slowenien im Rang eines Staatssekretärs. Er war Sloweniens Verhandlungsführer im EU-Beitrittsprozeß

Aus: junge Welt (Wochenendbeilage), 12. Juni 2004



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