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"Culture of Silence" - Sierra Leone im Jahr 2 nach dem Ende des Krieges

Bericht einer Reise durch Sierra Leone (11. Juli – 25. Juli 2003). Von Anne Jung, medico international

Im Folgenden dokumentieren wir einen Bericht über eine Reise in das vom Bürgerkrieg geschundene Sierra Leone. Die Reise war Teil eines Hilfsprojekts, das medico international mit Pertnern aus Sierra Leone durchführte. Der Bericht ist auf der Internet-Seite von "medico" veröffentlicht (www.medico.de).


Einleitung

Es ist der erste Besuch von medico in Sierra Leone, einem Land, das sich nur langsam von den Folgen eines 11-jährigen Krieges erholt. Die Projektkoordinatorin Usche Merk und ich werden begleitet von Zandile Nhlengetwa, der Direktorin unserer südafrikanischen Partner-Organisation SINANI, die in gewaltgeprägten Gemeinden in Kwa Zulu Natal mit Hilfe von psychosozialer Beratung und einkommensschaffenden Maßnahmen Konflikte bearbeiten und damit zur Friedensbildung beitragen.

Mit diesem Besuch, der einen zweitägigen Workshop einschloss, möchte medico zu der Entwicklung psychosozialer Konzepte in diesem Gewalt geprägten Land beitragen. Unser Projektpartner ist die Truth- and Reconciliaton-Workinggroup, ein Zusammenschluss von über 60 lokalen Organisationen aus ganz Sierra Leone. Die Workinggroup hat sich zur Aufgabe gemacht, den nach Kriegsende begonnenen Wahrheits- und Versöhnungsprozess kritisch zu begleiten. Die Anhörungen fanden zur Zeit unseres Besuches statt und wir hatten Gelegenheit, daran teilzunehmen. John Caulker ist der Koordinator dieses Zusammenschlusses und ein bekannter Menschenrechtsaktivist aus Sierra Leone. Er hat uns zu den Anhörungen begleitet und gemeinsam mit seiner Kollegin Shellac Sonny-Davis die workshops vorbereitet und geleitet. “Wir befassen uns mit den Hinterlassenschaften des Krieges”, fasst John Caulker die Arbeit der Workinggroup zusammen.

Ein historischer Rückblick

Vom 16. Jahrhundert an errichtete die britische Regierung in Sierra Leone Handelsstationen unter dem Schutz und der Rechtshoheit einheimischer Herrscher. 1787 siedelten Befürworter der Antisklavereibewegung an der Küste freigelassene Sklaven aus England und den USA an. Die so entstandene "Province of Freedom" existierte jedoch nur zwei Jahre, bevor viele Einwohner an der Kartoffelpest verstarben und die Province von der Volksgruppe der Tenne zerstört wurde.

1896 wurde das Land zum britschen Protektorat und von europäischen und amerikanischen Regierungen und Händlern ausgebeutet. 1930 wurden dort erstmals Diamanten gefunden[1], denen in den kommenden Jahrzehnten eine Schlüsselrolle in der Geschichte des kleinen westafrikanischen Landes zukommen wird. "Es waren Diamanten, die den Konflikt in Sierra Leone verschärft und am Leben gehalten haben. Sie haben das Land für fast dreißig Jahre aus dem Gleichgewicht gebracht, es seines Reichtums und einer Generation von Kindern beraubt und es zu dem ärmsten Land der Welt gemacht" (Einleitung The Heart of the Matter, PAC). Diamanten wurden bald zum wichtigsten Exportartikel und sind es bis heute geblieben. Kurz nach den ersten Funden durch britsche Geschäftsleute erhielt das britische Unternehmen Sierra Leone Selection Trust (SLST) exklusive Minenrechte für 99 Jahren. In den 30er Jahren kam es wiederholt zu Aufständen für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Sierra-leonische Gewerkschafter waren bei der "Ersten Internationalen Konferenz der Negro-Workers" vertreten, die 1930 in Hamburg stattfand.

1955 wurde das Monopol der SLST aufgehoben, in den Folgejahren waren neben ausländischen Konzernen auch viele lokale Politiker in den Diamantenhandel involviert. Zu dieser Zeit standen 80.000 Angestellten in formalen Arbeitsverhältnissen 50.000 illegale Diamantensucher gegenüber. In den 60er Jahren kam ein Drittel der Weltproduktion von Diamanten aus Sierra Leone (zwei Millionen Karat).

Am 27. April 1961 erlangte Sierra Leone nach 153 Jahren kolonialer Herrschaft die offizielle Unabhängigkeit. Die kommenden 30 Jahre bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs waren vor allem von Militärumstürzen, Korruption und Wahlbetrug gekennzeichnet. Von 1968 bis 1985 regierte Shiaka Stevens von der Einheitspartei All Peoples Congress (APC) das Land. Während seiner Amtszeit dienten die Ressourcen des Landes vor allem dem privaten Vorteil einer herrschenden Minderheit. Die Folgen war eine völlige Fragmentierung gesellschaftlicher Strukturen; eine hohe Arbeitslosigkeit, die dramatische Zunahme von Drogenabhängigkeit, Analphabetentum und die zunehmende Militarisierung schafften ein gesellschaftliches Klima, das den Ausbruch des Krieges im Jahr 1991 begünstigte. Die Menschen hatten nichts mehr zu verlieren. Präsident Stevens kommentierte den Zustand des Landes lapidar mit den Worten: "Bildung ist kein Recht, sondern ein Privileg."

Ausgelöst wurde der Bürgerkrieg durch die sierra-leonische Unterstützung der ECOMOG[2]-Truppen, die in den sechsjährigen Bürgerkrieg in Liberia (1989-1995) zwischen der Regierung unter Samuel Doe und der Rebellenorganisation von Charles Taylor zugunsten der Regierung eingegriffen hatte. Als die National Patriotic Front of Liberia (NPFL) unter Charles Taylor die Oberhand gewann, griffen einige Taylor-Verbündete aus Sierra Leone, Liberia und Burkina Faso unter Führung von Foday Sankoh im März 1991 zwei Dörfer im Grenzgebiet zwischen Liberia und Sierra Leone an. Sie nannten sich Revolutionary United Front, terrorisierten die Bevölkerung und demoralisierten die schlecht ausgerüstete und unmotivierte Armee. Die RUF hatte im Verlauf des Krieges mindestens 20.000 Rebellen unter ihrem Kommando. Auch wenn sie zu Beginn des Krieges verkündete, man wolle die herrschende Elite zu einer gerechteren Verteilung des Reichtums zwingen, wurde doch bald klar, dass mit dem Krieg lediglich eine neue Runde im Kampf um die natürlichen Ressourcen des Landes begonnen hatte.

In den Folgejahren kam es zu einem ständigen Machtwechsel in dem kriegszerrütteten Land.
1992 putschten junge Armeesoldaten und brachten Captain Valentine Strasser an die Macht. Im Januar 1996 wurde Strasser von seinem Vize Maada Bio gestürzt. 1996 fanden Wahlen statt, die der Zivilpolitiker Ahmed Tejan Kabbah von der Sierra Leone People's Party (SLLP) gewann.

Nur ein Jahr später wurde Kabbah von der RUF gestürzt. Major Jonny Paul Koroma, Anführer der Rebellenorganisation AFRC (Armed Forces Revolutionary Council) wurde daraufhin Präsident. Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) schickte Truppen unter nigerianischer Führung. Ein weiteres Jahr später stürzten die Truppen der ECOWAS Koroma und setzen Kabbah wieder ein. Nach der Rückkehr des Präsidenten überziehen die Rebellen der RUF und des AFRC das Land mit einer Terrorwelle, unter der vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hat.

Dem Nachbarland Liberia kommt nicht nur zu Beginn des Krieges, sondern auch in deren Verlauf eine Schlüsselrolle im Kriegsgeschehen zu. 1997 wurde Charles Taylor, der vormalige Rebellenführer und Kampfgefährte des RUF-Führers Foday Sankoh, mit über 70% der Stimmen zum Präsidenten Liberias gewählt. Dies ermöglichte ihm, ganz offiziell Waffen zu importieren, die er im Tausch gegen Diamanten an die RUF weitergab. Taylor schickte darüber hinaus auch Truppen nach Sierra Leone oder Guinea und destabilisierte mit seiner Politik die gesamte Region. Doch Taylor alleine die Verantwortung zuzuweisen, griffe zu kurz. Nicht ganz zu unrecht stellt Taylor fest: "Der Krieg in Sierra Leone ist ein Krieg um Diamanten, aber nicht weil Liberia Diamanten haben will, sondern die Briten. Denn britische Geschäftsleute besitzen Diamanten-Minen in Sierra Leone." (Le Monde Diplomatique 11/2000)[3].

Den Handelskreislauf Waffen gegen Diamanten zu unterbrechen ist eine der zentralen Forderungen der von medico mitgegründeten Kampagne Fatal Transactions gegen Konfliktdiamanten. Die Kampagne hat während des Krieges öffentlichen Druck auf die Diamantenindustrie ausgeübt, um die Beachtung des UN-Embargos gegen Konfliktdiamanten durchzusetzen und die Industrie aufzufordern, während des Krieges den Handel mit Sierra Leone einzustellen.

Ungeachtet aller internationalen Bemühungen ging der Krieg weiter. Die RUF kontrollierte 1999 bereits die gesamte Nordhälfte und den Südosten Sierra Leones. Die auf 17.000 Mann verstärkte ECOMOG und die mit ihr verbündeten Kamajor-Stammesmilizen konnten nicht verhindern, dass die Rebellen am 6. Januar große Teile Freetowns eroberten und ein blutiges Massaker anrichteten. Der Kampf um Freetown forderte mehr als 4000 Tote und zahllose Verstümmelte. Der Überfall auf die Hauptstadt ist als January 6 in die Geschichte Sierra Leones eingegangen. 2003 deckte der UN-Waffenexperte Johan Peleman auf, dass ein Großteil der Waffen, mit denen im Januar 1999 Freetown von der RUF überfallen wurde, über die sog. Odessa-Mafia nach Liberia und von dort in die Stadt geschafft wurde. Bei dem Massaker kamen mind. 4000 Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt, 200.000 Menschen wurden obdachlos. Kurze Zeit später wurde die Hauptstadt von den ECOMOG-Truppen zurückerobert. Diese bereicherte sich an der sierra-leonischen Kriegswirtschaft und brachte einige Diamantenfelder unter ihre Kontrolle. Der international beachtete Reportage Cry Freetown offenbarte darüber hinaus auch die Beteiligung an zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Die ECOMOG-Truppen konnten die Rebellen zurückdrängen und Foday Sankoh festnehmen. In einem 1999 veröffentlichten Bericht macht die Organisation Human Rights Watch die RUF für die systematische Ermordung und Verstümmelung tausender Zivilisten verantwortlich.

Bei dem Versuch, zur Befriedung des Landes die ersten Kontingente von UN-Truppen in die Diamantengebiete zu entsenden, wurden im Mai 2000 mehr als 500 Blauhelme von der RUF gefangen genommen. So brach der wackelige Waffenstillstand zusammen. Der UN-Sicherheitsrat beschloss, die Truppen auf 13.000 Personen zu erhöhen. England schickte Elitetruppen, um die Europäer zu evakuieren und einen erneuten Vormarsch der RUF-Rebellen auf Freetown zu verhindern sowie bei der Ausbildung der Armee zu helfen.

Nach massivem Druck seitens der UN willigten die Kriegsparteien 2001 in Friedensverhandlungen ein und mit dem Vertrag von Lomé sind die Kämpfe zum Ende gekommen. Am 18. Januar 2002 wurde der Krieg offfiziell für beendet erklärt. Im Mai 2002 fanden freie Wahlen statt und Präsident Kabbah von der SLPP wurde mit 70 % der Stimmen wiedergewählt, die Partei der ehemaligen Rebellen RUFP (Revolutionary United Front Party) gewann keinen einzigen Sitz.

Im Juli 2002 nahm die Wahrheits- und Versöhnungkommission (TRC) ihre Arbeit auf. Nach südafrikanischem Vorbild und auf Drängen der UN eingesetzt, soll sie die Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges dokumentieren und damit zur Versöhnung beitragen. In einem ersten Schritt hat die Kommission mehr als 8.000 Aussagen gesammelt. Der Friedensvertrag von Lomé gewährte den Tätern eine Generalamnestie, von der nur die Haupttäter ausgenommen sind. Im gleichen Jahr autorisiert Kofi Annan auf Antrag der Regierung von Sierra Leone die Einrichtung eines Special Courts, eines Sondergerichtes unter Vorsitz des US-Anwalts David Crane. Nationale Richter unterstützen ihn in seiner Arbeit. Angeklagt sind Foday Sankoh (der am 29.Juli 2003 in Haft an Lungenentzündung verstorben ist), Johnny Paul Koroma, der ins Ausland fliehen konnte und 5 weitere bereits inhaftierte Führer der RUF. Human Rights Watch sieht in dem Verfahren eine Chance, dass die wichtigsten Täter die Verantwortung für die grausamen Verbrechen des 10-jährigen Krieges übernehmen. Nichtregierungsorganisationen haben im Vorfeld allerdings vergeblich darauf gedrungen, dass die TRC und das Sondergericht zeitlich getrennt voneinander stattfinden. Viele Täter kommen nicht zur TRC, weil sie Angst haben, nachher beim Sondergericht abgeliefert zu werden. Die Vermischung der beiden Prozesse kommt auch dadurch zustande, dass die TRC aufgrund ihrer mangelhaften finanziellen Ausstattung keine ausreichende Informationskampagne führen konnte und ein Großteil der Bevölkerung nicht um die rechtliche Stellung des Prozesses weiß.

Der Sondergerichtshof erhob im Juni 2003 Anklage gegen den liberianischen Präsidenten Charles Taylor. "Unsere westafrikanische Politik ist zum Scheitern verurteilt, wenn wir nicht darauf bestehen, dass Charles Taylor vor Gericht gestellt wird. Mit einem freien Taylor kann es keinen Frieden geben." (Ryan Lizza in Concord Times, Sierra Leone 21.7.03). Doch obwohl ein Prozess gegen Taylor für ganz Westafrika von Bedeutung gewesen wäre, durfte er zum Cooling-off nach Nigeria ausreisen. Seine für einen Versöhnungsprozess so notwendige strafrechtliche Verfolgung wird durch eine einschneidende Gesetzesänderung erschwert. Nach erheblichem diplomatischem Druck der USA schaffte Belgien im Juli 2003 sein Völkermordgesetz ab. Dieses ermöglichte es, blutige Diktatoren und ihre Schergen vor Gericht zu stellen. Der neugegründete Internationale Gerichtshof in Den Haag ist nur für Taten zuständig, die nach seiner Gründung begangen wurden. "Im Irak haben die USA einen Diktator gestürzt. Nun gehen sie daran, in Afrika verbrecherische Regime zu stürzen. Gleichzeitig schaffen sie die Gerichte ab, vor denen bewiesen werden könnte, dass die Gestürzten Verbrecher waren." (Klaus Bachmann in der Frankfurter Rundschau, 17.07.03)

Ankunft in Freetown.

Vom Flugzeug geht es direkt auf die Fähre, denn der Flughafen ist auf einer Halbinsel namens Lungi gelegen; um diese auf dem Landweg zu umrunden müssten wir eine mehrstündige Autofahrt auf schlecht ausgebauten Straßen in Kauf nehmen. Wir sind die einzigen weißen Passagiere an Bord, die meisten Ausländer benutzen den Helicopter, um in die Stadt zu gelangen. Wir hatten jedoch gehört, dass schon mehrere Hubschrauber abgestürzt seien und uns deshalb für den Wasserweg entschieden - zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnend, wie gefährlich auch diese Überfahrt ist. Als wir uns zum Abschluss der Reise erneut auf der Fähre befinden, wird während der ca. halbstündigen Überfahrt plötzlich der Motor abgeschaltet. Die Klappe hatte sich geöffnet, das Schiff lag zu tief im Wasser, weil es mit den vielen UN-LKW völlig überladen war. Sofort fing das Schiff an zu schaukeln, denn "the sea is rough this morning", wie Komba, der junge Fahrer leise beim Blick aus dem Fenster bemerkt. Auch die übrigen Passagiere machen besorgte Gesichter. Man erzählte uns, dass eine der neuen Fähren, die erst nach dem Ende des Krieges angeschafft wurde, vor einigen Monaten gesunken sei, weil sie ebenfalls mit LKWs der UN völlig überladen war. Eine Hilfslieferung versenkt die andere. Wir wogen eine Weile auf dem Meer, dann wird der Motor wieder angelassen und wir tuckern gemächlich in Richtung Ufer. Ein letztes kleines Abenteuer als Abschluss einer ereignisreichen Reise.

Willkommen im Land der Weltrekorde. Platz 175 von 175 auf der Weltrangliste der ärmsten Länder. Heute sind 70 % der Bevölkerung Analphabeten, die Kindersterblichkeit ist die höchste auf der Welt. 57% der Bevölkerung leben unter der international festgelegten Armutsgrenze von einem US-$ pro Tag. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 26 Jahre. Mindestens 75.000 Menschen der 5 Millionen zählenden Bevölkerung wurden während des 11-jährigen Bürgerkrieges zwischen der RUF und der sierra-leonischen Armee getötet. Über 20.000 Menschen wurden durch die RUF die Hände abgehackt, mehr als 5000 Kinder waren aktiv an Kampfhandlungen beteiligt, mindestens 50 000 (PHR Studie 2003) Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und als Slavinnen für sexuelle Dienstleistungen entführt. Über die Hälfte der Bevölkerung war zeitweise innerhalb des Landes auf der Flucht oder versuchte, in die ebenso unsicheren Nachbarländer Guinea oder Liberia zu gelangen, über 3000 Dörfer wurden komplett zerstört. Die Opfer des Krieges gehören zu allen gesellschaftlichen Gruppen, unabhängig von Alter, Ethnie, der politischen Haltung oder religiösen Überzeugung. Diese Liste der traurigen Superlative ließe sich beliebig fortsetzen.

Die Spuren des Krieges

Waffen verboten. Das Zeichen im Eingangsbereich des Nedland-Krankenhauses ist nicht zu übersehen. Ein Fieberausbruch führt uns in der Nacht zu diesem Ort, dessen historische Bedeutung wir erst Tage später erfahren. Der Besuch im Krankenhaus verbindet sich mit einer Nachhilfestunde zur Geschichte Freetowns. Während der Massaker, die im Januar 1999 dort verübt wurden, war das Nedland-Krankenhaus ein wichtiger Zufluchtort für die zahllosen Verwundeten. Die Zimmer und Gänge lagen voll mit blutüberströmten Körper, Hunderten waren von den Rebellen der RUF die Hände abgehackt worden. Die wenigen Ärzte und Krankenschwestern kämpften um das Überleben der Verwundeten. Dazwischen suchten auch Menschen Schutz vor den Rebellen, die ihnen bislang entkommen konnten. Nach und nach setzt sich in Freetown alles wie ein Puzzle zusammen. Auf die Bedeutung des Krankenhauses angesprochen, bemerkt John Caulker lakonisch: "Ich weiß. Ich war auch dort". Die schützende Hülle über dem Grauen ist so dünn, dass sie nicht angekratzt werden sollte.

Die Angst ist mit dem Ende des Krieges nicht verschwunden. Von den Ereignissen im Nedland berichtet Dr. C., der leitende Arzt, der aus Sicherheitsgründen nicht möchte, dass sein vollständiger Name publiziert wird. Er entschied sich Anfang der 90er Jahre nach seinem Medizin-Studium in den USA, in Freetown zu bleiben. Mit diesem Schritt gab er seine Ehe mit einer Engländerin auf, der es unerträglich erschien, mit den gemeinsamen Kindern in dieser Stadt zu leben. Die Regierung rief die Verletzten während der Massaker im Radioauf, sich ins Nedlands zu begeben. Dort würden die Amputierten kostenlos behandelt. Dies brachte die behandelnden Ärzte und Ärztinnen in große Gefahr. Auf Dr. C. wurde ein Mordanschlag verübt, eines der Gebäude wurde niedergebrannt. "Ich habe immer noch Angst, die Täter wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft, ich kenne sie, sie kennen mich." Immer wieder wechselt der Arzt abrupt das Thema. Er träumt - so erzählt er - von einer Anlage, die den Regen auffängt, damit die Menschen endlich Zugang zu sauberem Wasser bekommt, wünscht sich, nicht selbst die so dringend gebrauchten Medikamente vom Flughafen abholen zu müssen, um sicher zu sein, dass es sich nicht um wirkungslose Placebos handelt, die in organisierter Form ins Land geschmuggelt werden.

Vor dem Krankenhaus sitzen einige Jugendliche auf der Treppe, die Verwandte und Freunde im Krankenhaus besuchen. Wir kommen auf die Wahrheits- und Versöhnungskommission zu sprechen, die im August 2003 landesweit stattfindet. Jeder einzelne von ihnen könnte eine Geschichte erzählen. Sie sind alle in dieser Stadt geboren und aufgewachsen, konnten die Hölle Freetown auch während der Massaker nicht verlassen. Keiner von ihnen ist zur Kommission gegangen. Sie seien nicht darum gebeten worden und wollten ihr Leiden nicht der Öffentlichkeit mitteilen. Einer von ihnen erzählte, dass er sich nach dem Ende des Krieges einen Kassettenrekorder gekauft hat. "Abends erzähle ich mir selbst, was ich während des Krieges erlebt habe. Ich nehme alles auf und wenn ich fertig bin, packe ich die Kassetten in eine Kiste und stelle sie unter mein Bett. Dann kann ich wieder an was anderes denken. Vielleicht hole ich sie irgendwann nochmal raus und höre sie mir an."

Das Amputee Camp

In Sierra Leone sind die Handamputierten das lebende Symbol für den Krieg. Durch die Errichtung von Camps sind sie aus dem Sichtfeld der restlichen Bevölkerung verbannt worden. Der Anblick der Verstümmelten scheint äußerlich Unversehrten unerträglich zu sein, erinnern sie doch an eigene traumatische Erlebnisse. Die Unversehrten haben jedoch die Möglichkeit, ihr Trauma - zumindest auf den ersten Blick - zu verbergen, dies bleibt den Amputieren versagt.[4] Es gibt in Sierra Leone nur wenige Menschen, die vom Krieg verschont blieben, "safe heavens" für die Zivilbevölkerung hatten die Kriegsparteien nicht vorgesehen.

In Freetown machten wir uns auf die Suche nach den Unsichtbaren. Unser Projektpartner John Caulker hat in den vergangenen Monaten ein vertrauensvolles Verhältnis zu einer Selbsthilfeorganisation der Amputierten aufgebaut, der War-Affected Amputees Association. Zur Begrüßung streckt uns Juso Jaka seine metallglänzenden Arm-Prothesen[5] entgegen, die uns, die wir den Anblick nicht gewöhnt sind, etwas zurückschrecken lassen. Juso Jaka wollte seine Tochter vor der Entführung durch die Rebellen schützen. Er schickte sie in den Wald, woraufhin Mitglieder der RUF ihm mit einer Axt die Hände abschlugen. Heute leidet nicht nur er unter den physischen und psychischen Folgen der Attacke, sondern auch seine Tochter, die Schuldgefühle hat, weil der Vater sich für sie geopfert hat.

Wir drängen uns in eine Hütte, die zu klein ist, um alle Anwesenden zu fassen. Zwei Mitarbeiter müssen draußen Platz nehmen. Die beiden sind "nur" einseitig amputiert, daher führen sie das Protokoll. Wir sitzen so dicht gedrängt, dass die Hitze schnell unerträglich wird. Mein Blick schweift durch das kleine Guckloch auf den Weg, der durch das Camp führt: Menschen ohne Hände, ohne Arme laufen vorbei, viele von ihnen noch Jugendliche.

In diesem Camp leben einige Hundert Handamputierte mit ihren Familien. "Zoo" wird der Ort von den Amputierten genannt, denn allzuoft wurde das Camp als Fotostudio für internationale Politikerreisen missbraucht - die Fotos vermitteln einen Gruseleffekt und suggerieren eine direkte Konfrontation. Verbessert hat sich die Lage der Menschen dadurch nicht. Sie werden zwar medizinisch versorgt und erhalten eine tägliche Nahrungsmittelration, die Chance außerhalb des Camps zu leben oder sich zu organsieren, bleibt ihnen jedoch versagt. Daher hat die Amputees Association das Fotografieren im Camp mittlerweile verboten. Um ein Gruppenfoto des Treffens werden wir jedoch gebeten. Die Amputees Association möchte sich organisieren. Doch wo kann ein Anfang gemacht werden? Die wenigen Mitglieder besitzen nichts als ein Handy. Keinen Schreibtisch, keinen Computer. Das reicht nicht, um wieder zum Subjekt ihres eigenen Lebens zu werden.

Die TR-Workinggroup, der medico-Partner in Sierra Leone, unterstützt die Amputee Association dabei, zur Entschädigung der Amputierten eine Eingabe an die Wahrheits- und Versöhnungskommission vorzubereiten. "Reparationen", so Jaka, "sind ein Zeichen der Entschuldung seitens des Täters. Die Entschädigung der Überlebenden des Holocaust haben gezeigt, wie wichtig diese Anerkennung des geschehenen Unrechts ist. Diese symbolische und konkrete Handlung gibt uns darüber hinaus Hoffnung, dass der Täter nicht noch ein weiteres Mal ein solches Unrecht anrichtet. Reparationen sind wie ein Verband, wie Medizin, die die Schmerzen es Opfers verringern helfen." Sie fordern die Einrichtung eines Kriegsopferfond, aus dem die Amputierten nach Abschluss des Kommissionsberichts Entschädigungen bekommen. Ein Prozentsatz der Einkünfte des Diamantenhandels soll das finanzieren. Doch dazu werden vermutlich noch viele Kampagnen geführt werden müssen.

Das ehemalige Hauptquartier der RUF

Wir fuhren ins Landesinnere, die schlecht ausgebauten Straßen sind menschenleer, von Zeit zu Zeit kreuzen wir ein UN-Fahrzeug. Ziel unserer Reise war Magburaka im nördlichen Bezirk Tonkolili, das ehemalige Hauptquartier der RUF. Für eine Strecke von ca. 150 Kilometern benötigten wir einen halben Tag. Am Straßenrand haben sich vereinzelt Familien niedergelassen, um die Vorbeifahrenden mit Keksen, Zigaretten und Palmwein zu versorgen. Zu beiden Seiten des Weges erstreckt sich jene dichtbewachsene Landschaft, in der Hunderttausende Flüchtlinge bis zum Ende des Krieges im Jahr 2002 verzweifelt eine sichere Zuflucht gesucht haben, meist vergebens. Zerrieben zwischen der RUF, der Regierungsarmee, den sie unterstützenden Kamajors [6] und Banden, die mit Überfallen ihr tägliches Überleben zu sichern versuchten. Es wurden tausende Menschen ermordet, ihre Dörfer geplündert und angezündet. Die Soldaten der Regierungsarmee wurden zu Sobels (Soldier by day, rebel by night), die ihr tägliches Überleben wegen ausbleibender Soldzahlungen durch Überfälle auf die Bevölkerung sicherten .

In Sierra Leone gibt es kaum äußerliche Spuren des Krieges, keine zerschossenen Häuser wie im angolanischen Kuito, die Dörfer außerhalb von Freetown wurden oft dem Erdboden gleichgemacht. Alles, was wir sehen, sind Wiesen. Nur die Bemerkungen unserer sierra-leonischen Begleiterinnen und Begleiter verrieten einen Hauch von dem, was hier vor so kurzer Zeit passiert ist. Die Erinnerung an die zerstörten Dörfer und ihre Bewohner lebt in den Köpfen der Bevölkerung weiter. Als wir an einer Stelle vorbeikamen, die rechts und links der Straße von Hügeln umgeben ist, sagt Shellac Sonny-Davis von der TR-Workinggroup: "Das war der schlimmste Ort auf der ganzen Strecke. Die Rebellen saßen auf den Hügeln und warteten, ob jemand die Straße entlang kam. Waren sie guter Laune, durfte man passieren, waren sie schlecht gelaunt, war man in der Falle. Dann machten sie mit einem, was sie wollten".

Die Wahrheits- und Versöhnungskommission

In Magburaka angekommen erleben wir die letzte Phase der fünftätigen Anhörungen der Wahrheits- und Versöhungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC) in dieser Region. Im Juli 2002 nahm die Kommission in der Hauptstadt ihre Arbeit auf. Nach südafrikanischem Vorbild und auf Drängen der UN eingesetzt, soll sie die Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges dokumentieren und damit zur Versöhnung beitragen. Den Vorsitz hat der sierra-leonische Bischof Humper, der bei seiner Arbeit von weiteren Kommissionsangehörigen unterstützt wird, darunter Mitarbeiter der UN, einige ehemalige Mitarbeiter der südafrikanischen TRC sowie Forscher aus verschiedenen Ländern. Doch anders als in Südafrika hatte die Kommission in Sierra Leone nur vier Monate Zeit, durch das Land zu reisen und sich die Aussagen von allen am Konflikt beteiligten Parteien anzuhören.Der Friedensvertrag von Lomé aus dem Jahr 2001 gewährte den Tätern eine Generalamnestie, von der nur die wenige Hauptverantwortliche ausgenommen sind.

Die Halle am Rande Magburakas ist gut gefüllt. Der Ort war jahrelang das Hauptquartier der RUF. Es fällt sofort ins Auge, dass nur drei der fast 300 Anwesenden weiblich sind. Im Eingangsbereich und im Saal hängen Slogans der TRC: "Die Wahrheit auszusprechen schmerzt. Aber Krieg schmerzt mehr." "Rettet Sierra Leone. Versöhnt euch jetzt, dabei kann euch die TRC helfen". Das alles kopiert auf dünnes Papier. Die TRC ist finanziell schlecht ausgestattet, die beschränkten finanziellen Mittel werden schon in den einfachsten Dingen spürbar. An diesem letzten Tag werden sechs der vormals einflussreichsten Rebellenführer der Region angehört. Da die Gewährung von Amnestie nicht an eine Aussage oder gar Reue geknüpft ist, war der Anreiz, sich den Fragen der Kommission zu stellen, nicht besonders groß. Die TR-Workinggroup hat sich in dieser Region darum bemüht, die Täter zu einer Aussage zu bewegen, um damit zur Versöhnung beizutragen.

Da sitzen sie also, die ehemaligen Rebellen, die meisten von ihnen erst Mitte Zwanzig. Sie reden und reden, aber faktisch hüllen sie sich in Schweigen. Sie flüchten sich in allgemeine Beschreibungen des Krieges, geben vor, an keinem der Verbrechen selbst beteiligt gewesen zu sein. Einzelne Mitglieder der Kommission haken zögernd nach, als sich die Männer, die im Kriegsverlauf an Morden, Entführungen und Vergewaltigungen beteiltigt waren, ein ums andere Mal in Passivkonstruktionen flüchten. Es sei viel schlechtes passiert, räumen sie ein. Alle vermeiden es, strafrechtlich relevante Informationen zu geben. Im Raum herrscht Schweigen. Zwischenrufe wurden vom vorsitzenden Bischof bereits am ersten Tag der fünftägigen Befragungen ausdrücklich untersagt. Zwischen den präzisen Fragen und den knappen Antworten ist nur der Regen zu hören, der auf das Hallendach prasselt. Ganz zaghaft wird das Schweigen in der stickigen Halle durch ein Raunen unterbrochen, als sich einer der Täter zu dreist aus der Verantwortung stiehlt. Das Verschweigen, die Verdrehung oder die Leugnung von Tatsachen finden sich zuhauf in den Aussagen der Täter. Hier gibt es keine Mörder, nur Fahrer, Funker oder Männer, die für andere logistische Dienstleistungen zuständig waren. Oder zu ihren Taten gezwungen wurden. "Ich habe Fehler gemacht. Ich wurde gezwungen, meinem Land schlechtes anzutun. Nehmt mich wieder in eure Gemeinschaft auf" - so einer der Angeklagten. "Wir wissen, dass alles, was wir getan haben, gegen die Menschlichkeit verstoßen hat", so ein anderer. "Hier scheinen sich die schlechten Kerle immer noch zu Hause zu fühlen" stellt der portugiesische Schriftsteller Pedro Rosa Mendes am Ende der Anhörungen resigniert fest. Die Kommission hatte die Anhörung kaum für beendet erklärt, als einer der Angeklagten sich erhob und den Saal mit dem Schritt und der Haltung desjenigen durchquerte, der in der Stadt noch immer das Sagen hat. Er hatte es nicht nötig, auf die Kommissionsmitglieder zu warten, wie das Protokoll es vorschreibt. Als sie ihn darauf aufmerksam machten, hatte er die Tür schon erreicht. Nur bei einem der Angeklagten ist Reue zu spüren, ihm versagt am Ende die Stimme, er betont immer wieder, wie leid ihm das tut, was während des Krieges geschah und bittet um Vergebung.

Der letzte Tag der Anhörungen in Magburaka endet wie überall mit einem Ritual, das der sierra-leonische Bischof und Kommissionsvorsitzende Humper eingeführt hat. Die Täter legen sich vor den traditionellen Führern auf den Boden und bitten die Gemeinde um Verzeihung: "Ich bitte die ganze Gemeinde darum, mir als ihrem Sohn zu vergeben. Ich verspreche, niemals mehr Schlechtes zu tun. Ich möchte dem chief danken, dass er hilft, mir zu vergeben." Und die Gemeindeführer antworten: "Wir werden dir vergeben, aber du musst ab sofort gutes, richtiges Benehmen zeigen und Verantwortung für den Friedensprozess übernehmen". Angesichts des geschehenen Unrechts von "richtigem Benehmen" zu sprechen grenzt an Zynismus. John Caulker, der im Rahmen der TR-Workinggroup die Arbeit der TRC kritisch begleitet, bemerkt enttäuscht: "Wir sind seit über einem Jahr in die Provinzen gefahren, haben mit den Menschen vor Ort gesprochen und ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Immer wieder die mühsame Fahrt über schlecht ausgebaute Straßen ins Landesinnere auf uns genommen. Die Kommissionsangehörigen kommen zu den Anhörungen mit dem Hubschrauber für eine Woche in die Stadt, ihnen fehlt schon die sinnliche Erfahrung der Reise, um die Lage vor Ort verstehen zu können. Hinzu kommt, dass 50% des Personals seit dem Beginn der TRC gewechselt hat."

Zu dem Versöhnungsritual ist keines der Opfer erschienen. Nachdem sie ihre Aussagen gemacht haben, wozu nur wenige und nur nach langem Drängen bereit waren, sind sie verschwunden. Wer den Anhörungssaal verstümmelt betreten hat, hat ihn verstümmelt wieder verlassen. "Wer Schuld auf sich geladen hatte, dem wurde vergeben. Das Verfahren der TRC hat eine religiöse Dimension. Die traditionellen Eliten, Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen, haben den verlorenen Söhnen verziehen." (P.R. Mendes) Die Religion hat im offiziellen Versöhnungsprozess eine wichtige Funktion. Die Bevölkerung soll durch den Glauben an Racheakten gehindert werden. Die Täter - so erklärte man uns - würden im Jenseits für das von ihnen begangene Unrecht bestraft, übe man im Diesseits Vergeltung, mache man sich mitschuldig.

In wenigen Wochen werden die Befragungen der TRC abgeschlossen sein und die Kommission wird ihren Abschlussbericht vorlegen. Auch um den Erwartungen der Geldgeber zu entsprechen. "Doch was macht" fragt Yasmin Yuso-Sheriff, eine Anwältin aus Freetown, die in den ersten Monaten Kommissarin bei der TRC war, "eine Gesellschaft mit einer Analphabetenrate von 60 % mit einem schriftlichen Abschlussbericht?" Vielmehr sollten die Ergebnisse des Berichtes in anderer Form in die Gemeinden zurückgetragen werden. Und es bedürfte finanzieller Mittel, um die Folgen der Verbrechen in den communities zu verarbeiten.

Kritik an der Wahrheits- und Versöhnungskommission

Die Anhörungen der TRC waren sehr täterzentriert. Bislang sind auf nationaler Ebene keinerlei Strukturen für die Unterstützung der Opfer geschaffen worden. Der Grund dafür liegt laut John Caulker auf der Hand: "Die Regierung möchte nichts davon wissen. Ihr ist klar, dass sie die nächsten Wahlen verlieren würde, wenn sich die Opfer organisieren würden." Der Eindruck drängt sich auf, dass in Sierra Leone Versöhnung um jeden Preis erreicht werden soll. Die Opfer wurden in den Anhörungen nicht gefragt, ob sie sich versöhnen, geschweige denn vergeben wollen. "Die traditionellen Führer", so Yusu-Sheriff, "eignen sich nicht als Stellvertreter für die Opfer in den Gemeinden. Viele sind ins Exil gegangen und haben die Verbrechen nicht erlebt. Es mangelt ihnen schlicht an Einfühlungsvermögen." Yuso-Sheriff forderte schon vor Beginn der Anhörungen die bessere Berücksichtigung der Opferinteressen. Für die Kommission Grund genug, sie aus dem Gremium zu verbannen. Sie ist nicht die einzige Kritikerin der TRC. Schon bei der Eröffnung im Juni 2003 verwahrte sich die südafrikanische TRC-Mitarbeiterin Yasmin Souka gegen Bischof Humper, als dieser verkündete, das Ziel der TRC sei es, "zu vergessen und zu vergeben." Verzeihen ist eine individuelle Angelegenheit - so lautete eine der wichtigsten Grundsätze der südafrikanischen TRC. Opfer und Täter wurden - wenn das Opfer dies wünschte - zusammengeführt. Das Opfer war frei in der Entscheidung, ob es verzeihen kann und will oder nicht. Oft wurde der Täter - so berichtet Zandile Nhlengetwa von SINANI, die seit Jahren als Therapeutin arbeitet - unmittelbar mit dem Geschehenen konfrontiert: "Hat mein Mann etwas gesagt, bevor er erschossen wurde? Wie hat er geschaut? Was hast du in dem Moment gefühlt, als du ihn erschossen hast?" Die Kommission von Desmond Tutu in Südafrika hat die Gegenüberstellung von Täter und Opfer ermöglicht - auch als Gelegenheit, über mögliche Formen eines direkten Ausgleichs zu sprechen. Einige Täter wurden aufgefordert, die Exhumierung der Opfer zu bezahlen. Oder über das Schulgeld für die Kinder. Diese Begegnung ist in Sierra Leone eindeutig ausgeschlossen. Zandile Nhlengetwa ist sich nicht sicher, ob das Ergebnis "anstelle von Heilung nicht eher eine erneute Traumatisierung sein wird. Ich frage mich, wie tief eine solche Versöhnung gehen kann." Sie hat eine unglückselige Parallele entdeckt: In Sierra Leone wie in Südafrika begünstigt das Verfahren der Versöhnung die Täter. [7]

Besonders frustriert zeigten sich auch die Amputierten über den Umgang mit den Tätern im Nachkriegs-Sierra Leone. Tatsächlich ist dies ein nicht aufzulösendes Paradoxon. Die Täter müssen in dieser Nachkriegsgesellschaft umgehend eine neue Beschäftigung erhalten, damit sie nicht wieder zu den Waffen greifen. Einige der Opfer haben sich sogar als Täter ausgegeben, um Unterstützung wie z.B. einen Ausbildungsplatz zu erhalten.

Gleichzeitig betonen viele Vertreter der sierra-leonischen Zivilgesellschaft, dass sie diese Ungerechtigkeit bewusst in Kauf genommen haben, weil sie nach den unermesslichen Gräueltaten bereit waren, Frieden um jeden Preis zu akzeptieren: "Wir wussten, dass der Frieden nur durch absolute Unterwerfung unter die Forderungen der Täter zustande kommt. Für die Freiheit, nicht weiter vergewaltigt, vertrieben, verstümmelt und ermordet zu werden, müssen wir den Schmerz eines ungerechten Friedens ertragen." (Shellac Sonny-Davis)

In diese Richtung zielt auch Yasmin Yusu-Sheriff:"Die Menschen in Sierra Leone haben akzeptiert, dass der Frieden nicht mit Gerechtigkeit zu haben ist. Sie haben sich bewusst und offen damit einverstanden erklärt, dies war ein aktiver Prozess. Was sie dafür gewinnen, ist den Frieden, wenn auch für einen sehr hohen Preis. In diesem Land spricht man nicht über Entschuldigungen. Das erhöht nur noch den Hass! Die Hinnahme der Straflosigkeit ist ein aktiver Beitrag - im Sinne der Religion - zum Versöhnungsprozess. Wir verzichten auf unsere Rechte, weil wir glauben, dass es das wert ist. Deshalb ist die Religion, ist der Glauben so wichtig in dem Prozess."

Die TR-Workinggroup, die die Anhörungen maßgeblich mitvorbereitet hat, fühlt sich von der Kommission funktionalisiert. Voller Hoffnung auf deren Arbeit haben sie den direkten Kontakt zur Bevölkerung vermittelt. Im Juli 2003, einige Wochen vor dem Ende der Anhörungen, gelangt John Caulker zu seiner deprimierenden Einschätzung: "Die Workinggroup war ein nützliches Vehikel für die TRC. Sie hat uns fast zu Tode umarmt." Die Workinggroup hatte sich bemüht, die Anhörungen stärker an den Interessen der Opfer auszurichten. Dies umfasst neben einer psychosozialen Betreuung auch die Einbeziehung von Entschädigungszahlungen, die nicht in den Katalog der Empfehlungen aufgenommen. Auch ist es der Workinggroup nicht gelungen, zu verhindern, dass die Arbeit des Sondergerichts gleichzeitig mit der TRC stattfindet. Weil viele Täter fürchteten, zum Sondergericht überführt zu werden, übernahmen die meisten von ihnen keine persönliche Verantwortung für das Geschehene.

Der Workshop

Zandile Nhlengetwa nahm an einem workshop mit 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von sierraleonischen NGOs teil, um Erfahrungen auszutauschen und im Hinblick auf einen Versöhnungsprozess voneinander zu lernen. medico hat diesen Süd-Süd-Austausch ermöglicht. In ihrem Vortrag berichtet Zandile über die südafrikanischen Erfahrungen: "Versöhnung ist eine persönliche Entscheidung, die niemand einfordern kann. Der Schmerz und die Wut sitzen tief. Ich weiß von Südafrika, dass es ein langer Prozess ist, der längst noch nicht vorbei ist. Auch dort wurden die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen. Wir haben uns aber entschieden, mit den jugendlichen Tätern zu arbeiten, die wir in erster Linie als Opfer sehen."

Eine hitzige Debatte entstand über die Arbeit mit den demobilisierten Ex-Kombattanten in Sierra Leone. Sie würden privilegiert, es gäbe so viele Programme für sie. Das führe zu Spannungen zwischen den Gemeinden und den Demobilisierten. Und was ist, wenn die Programme zuende sind? Die Menschen haben immer noch Angst vor ihnen, auch vor den ehemaligen Kindersoldaten. Angst und Hilflosigkeit füllten den Raum. Wie eine zweite Folie zeigten sich die Spuren des Krieges, in den Gesichtern, in den Beiträgen, in der Stille zwischen den Beiträgen.

Zandile war beeindruckt von den vielen engagierten Leuten in Sierra Leone, die unter so extremen Bedingungen arbeiten. "Das Leid ist deutlich sichtbar, das Schweigen überwältigend, der Schmerz offensichtlich, aber Mut, Zähigkeit und Hoffnung sind unglaublich hier." Zandile bezog sich während des workshops auf die Schwierigkeit, Helfer in der Arbeit mit Traumatisierten zu sein. "Wer spricht über unsere Erschöpfung, unsere Überforderung? Wer sieht unsere Grenzen?" Sie berichtete davon, wie lange es gedauert hat, bis sie sich auch einmal sich selbst zugewandt haben, bis sie die Zeichen des burn-out lesen konnten. Wie zum Beispiel Mitarbeiter gereizt und ungeduldig werden und Sitzungen vorzeitig verlassen, wenn sie nicht mehr zuhören können, raus gehen, sich mit dem Handy beschäftigen, cool werden. Wenn sie die Klienten vermeiden oder anfangen über sie zu schimpfen. Wenn sie unruhig sind und rastlos, alles sinnlos finden und unzuverlässig werden.

"Mit den Helfern, den Caregivers müssen wir anfangen" sagt Zandile, "wenn wir uns nicht um uns selbst kümmern, tut es niemand. Das fängt damit an, dass wir uns von der Vorstellung lösen müssen, Retter zu sein. Wir können die Überlebenden nicht aus ihrem Schicksal befreien, wir können sie nur auf ihrem schmerzhaften Weg begleiten. Aber wir müssen uns selbst gut genug kennen, müssen wissen, was wir aushalten können und wo unsere Grenzen sind. Wir müssen untereinander auf uns acht geben."

Verschiedene Teilnehmerinnen erzählen von ihren Erfahrungen und den schwierigen Bedingungen. Bondu Manyeh ist eine von ihnen. Zur Zeit arbeitet sie für die TRC als eine der zwei Betreuerinnen, die den Opfern (und Tätern) bei ihren Aussagen zur Verfügung stehen. "Ich versuche, für die Opfer da zu sein, aber durch die kurze Zeit kann ich nur wenig machen. Ich weiß, dass wir langfristig vor Ort Unterstützungsprogramme aufbauen müssen". Das hat sie mit anderen Kolleginnen schon vor dem Entstehen der TRC getan und möchte es fortsetzen. Ihre Zielgruppe sind vor allem Mädchen und Frauen, die im Krieg vergewaltigt, verschleppt und missbraucht wurden. Häufig wurden sie von ihren Familien und Gemeinden verstoßen und schlagen sich jetzt als Prostituierte oder Bettlerinnen durch. Ihre Situation ist katastrophal, viele haben Geschlechtskrankheiten, haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihren Kindern und gehen weitere Mißbrauchsbeziehungen zu Männern ein. Einige Frauen sind drogenabhängig. Graceland Counselling Service nennen Bondu und ihre Kolleg(inn)en ihr Projekt, das in verschiedenen Provinzen mehrmonatige Workshops und regelmäßige Gruppentreffen mit den Frauen durchführt. "Wir verbinden die Suche nach ökonomischen Alternativen mit Gesprächen über ihre aktuelle Situation und ihre Erfahrungen während des Krieges. Das ist oft sehr schwierig und wir müssen langsam vorgehen. Wenn wir gesundheitliche Probleme sehen, versuchen wir, die Frauen in eine Klinik zu bringen, wenn es eine vor Ort gibt. Oft trauen sich die Frauen nicht oder die Klinik hat gar nicht die notwendigen Medikamente." Die finanzielle Situation des Projekts ist schwierig, teils arbeiten sie ehrenamtlich, teils mit kurzfristiger Unterstützung. Jetzt möchten sie gerne ein langfristiges Programm mit den Frauen entwickeln, das auch in andere Provinzen übertragen werden kann.

medico möchte das langfristige Programm zur Unterstützung missbrauchter Frauen des Graceland Counselling Service ebenso unterstüzen wie die Arbeit der Truth and Reconciliation Working Group, die in weiteren Workshops lokale psychosoziale Programme und ein Entschädigungskonzept ausarbeiten will.

Die Diamanten

Die Ursache des Krieges? Diamanten. So direkt bringt es Abu Brima, Direktor von "Network Movement for Justice and Development" im Gespräch auf den Punkt. Die Kontrolle über die Diamantengebiete, die sich nahezu über das ganze Land erstrecken, wurde im Krieg zum alles entscheidenden Faktor, da alle Kriegsparteien ihre Waffenkäufe über den Diamantenhandel finanzierten. Mit dem Ende des Krieges hat sich an der Kontrolle des Diamantenhandels wenig geändert, sie sind nicht zu "Friedensdiamanten" geworden. Auch nach dem Ende des Krieges sind so viele Regierungsmitglieder in den Diamantenhandel verstrickt, dass keine grundlegenden Verbesserungen erwartet werden können.

Internationale Unternehmen wie de Beers sind seit vielen Jahren in die Kriege in Sierra Leone, Liberia und der Elfenbeinküste verstrickt. Sie plündern mit Hilfe von Söldnern die Rohstoffe aus [8] , halten durch Waffenlieferungen die Macht von Warlord-Präsidenten wie Charles Taylor aufrecht und bringen diese zu Fall, wenn ihnen deren Politik nicht mehr opportun erscheint. Die Kriege entlang der westafrikanischen Küste sind eng verwoben.

Um Druck auf die Regierung auszuüben, hat das Network in den Diamantenprovinzen "Advocacy Platforms" errichtet, die helfen sollen, die Rechte der Minenarbeiter zu stärken, ohne eine Stellvertreterpolitik zu betrieben. Die Arbeitsbedingungen der ca. 4000 Minenarbeiter und -arbeiterinnen - darunter mehrere Hundert Kinder - sind sklavenähnlich.. Sie erhalten für diese körperliche Schwerstarbeit zum Teil nicht mehr als einen US$ am Tag. C wie Confront. Dieses sechste "C" stellt Abu Brima den 5 C`s des Diamantenhandels entgegen (Clarity, Carat, Colour, Cut, Clearity). Das Network fordert die lokale Kontrolle über den Diamantenmarkt. Zudem soll der Erlös aus dem Diamantenhandel auch für die Entschädigung der Kriegsopfer eingesetzt werden.

Zur Unterstützung der Kämpfe um eine Neuverteilung des Reichtums hat medico die internationale Kampagne Fatal Transactions gegründet. Gemeinsam mit europäischen Partnerorganisationen hat sich medico in der Kampagne zur Aufgabe gemacht
  • über Geschäfte aufzuklären, die Kriege in Afrika in Gang halten
  • Internationale Unternehmen zum Rückzug aus den schmutzigen Geschäften zu bewegen
  • Konzerne, die in den vergangenen Jahrzehnten an dem illegalen Handel profitiert haben, für die Beseitigung der Kriegsschäden und die Entschädigung der Opfer verantwortlich zu machen.
Zwei wichtige Ziele wurden bislang erreicht: Die kritische Öffentlichkeit in Europa begann Fragen zu stellen. Durch den Druck, dem sich die Diamantenindustrie dadurch ausgesetzt sah, nahmen die Anstrengungen auf internationaler Ebene zu, ein neues einheitliches und transparentes Zeritfizierungssystem für den internationalen Diamantenhandel einzuführen. Das Ziel dieses sog. Kimberley-Abkommens ist es, den Handel mit den sog. Konfliktdiamanten einzudämmen. Allerdings besteht wie bei jedem Abkommen, dass vor allem auf die Selbstverpflichtung von Unternehmen zielt, die Gefahr, dass es ohne ein unabhängiges Kontrollinstrumentarium und wirksame Sanktionen gegen Konzerne, die das Abkommen unterlaufen, ein "zahnloser Tiger" bleibt.

Verordneter Frieden?

Die mangelnde Nähe zwischen TRC und der einheimischen Bevölkerung liegt auch in der Besonderheit des Krieges und dessen Ende begründet. Das Grauen des Krieges in Sierra Leone war flächendeckend. Die Anzahl der Täter, so die vagen Schätzungen, soll in die Hunderttausende gehen. Die Täter und Täterinnen in diesem Krieg waren Verwandte, Nachbarn und Freunde. Es ist unmöglich, das Geschehene in einer TRC zu benennen oder gar zu verarbeiten. Viele Menschen bemühen Beschwörungsformeln, um das Unfassbare zu begreifen. "Wir sind ein friedfertiges Volk!" wird immer wieder gesagt. In die Täter sei ein Dämon gefahren, der aus dem Liberia Charles Taylors kam, um die friedfertigen Bewohner Sierra Leones ins Unglück zu stürzen. Jetzt, da seine Gefolgsleute nicht mehr im Lande sind, sei die Gefahr gebannt. Diese Konstruktion entbindet die Täter von ihrer Verantwortung für das eigene Handeln. Die Menschen krallen sich am Frieden fest und wirken dabei wie erstarrt.

In Sierra Leone war es - im Gegensatz zu Ländern wie Südafrika oder Guatemala - nicht notwendig, die Wahrheit herauszufinden. Die Menschen wissen, was geschehen ist. In diesem Krieg sind keine Menschen spurlos verschwunden, die Toten lagen wochenlang für jeden sichtbar in den abgebrannten Dörfern. Die Täter haben während des Krieges nie versucht, ihr eigenes Handeln zu vertuschen. Im Mittelpunkt der TRC sollte daher, so Yusu-Sheriff, der Versöhnungsgedanke stehen. Sie hat sich während ihrer Tätigkeit bei der Kommission immer wieder für eine eigene Abteilung für Versöhnung eingesetzt - leider erfolglos.

Sierra Leone wurde weitgehend ohne die aktive Einbeziehung der Bevölkerung befriedet. Im Einsatz waren bis zu 20.000 UN-Soldaten sowie nigerianische ECOMOG-Truppen. Es handelt sich um den bislang größten UN-Einsatz in der Geschichte der Vereinten Nationen. Die von der UN eingerichtete TRC wird daher von der Mehrheit der Bevölkerung nicht als ein von ihnen initiierter Prozess wahrgenommen. "Die TRC wird als Geschenk angesehen, die Bevölkerung hat zu wenig Selbstbewusstsein, um die ownership zu übernehmen", stellt Yasmin Yusu-Sheriff fest. In Freetown gab es kaum öffentliches Interesse an den Anhörungen. Dort saßen während der Anhörungen in der riesigen Halle teilweise nur 30 Menschen, in der Mehrheit Mitarbeiter internationaler NGOs und Journalisten. Und das in einer Millionenstadt, in der nach dem Ende des Krieges fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung lebt. Ganz anders verlief der Prozess in Südafrika. Dort wurde die Wahrheits- und Versöhnungskommission von der Bevölkerung mitgetragen, mehrere Jahre vorbereitet und war dadurch auch von einem sehr starken öffentlichen Interesse. Selbsthilfeorganisationen wie der medico-Partner Khulumani, die über 30000 Opfer vertreten, haben in hohem Maße zu der Bedeutung der TRC beigetragen - auch wenn sie vielfach Kritik an der Arbeit der Kommission geäußert haben.

Die Menschen in Sierra Leone leben in einer Welt, die immer häufiger als "postsozial" charakterisiert wird. Sie sind aber keine Phantomwesen und entfalten nach dem lange ersehnten Ende des Krieges eine Vielzahl von Aktivitäten. Sie kommen dabei freilich schnell an den Rand ihrer Möglichkeiten, wenn sie keine Chance sehen, sich selbst zu organisieren, um z.B. für Entschädigung zu kämpfen. Auch durch die Implementierung einer ausländischen Hilfsstruktur besteht die Gefahr, jede Form der Eigeninitiative zu ersticken. So schicken die internationalen Hilfswerke meist ihre eigenen Mitarbeiter in diese Länder, anstatt die oft mühsamere Kooperation mit lokalen Partnern zu suchen. Die vielen Schilder, von den großen Hilfswerken vor ihren Anwesen aufgestellt, dienen mittlerweile selbst den Einheimischen als Wegweiser. Erklären Sie dem Taxifahrer die gewünschte Route, heißt es etwa: "Neben dem UNHCR-Gebäude rechts hoch, dann an der GTZ vorbei".

Immer offenkundiger wird, dass für eine Nachkriegsordnung keine politischen Konzepte existieren. Eine länderübergreifende politische und ökonomische Aufarbeitung des Krieges ist für einen Versöhnungsprozess in Westafrika unabdingbar. Dazu fehlt jedoch der politische Wille, sowohl im Westen als auch bei den afrikanischen Machthabern. Viele Menschen haben auf die TRC als einen Prozess gesetzt, der etwas in Gang bringen kann, um den Überlebenden und den Gemeinden zu helfen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und Auseinandersetzungen um Versöhnung und Gerechtigkeit einzuleiten. Das muss auf einer Anerkennung des Leids und der entstandenen Schäden beruhen. Doch für die UN ist diese Kommission kein Prozess sondern ein Ereignis, das möglichst schnell und kostengünstig durchgeführt werden soll.

Der Versöhnungsprozess kann nur von "unten" organisiert werden. Dabei möchte medico die TR-Workinggroup unterstützten, die nach dem Ende der Wahrheitskommission ihre Hauptaufgabe darin sieht, nach einer Auswertung der Erfahrungen mit der TRC mit den Opfern, den "primary primary victims" opferzentrierte Projektarbeit zu machen. Die Perspektive für eine Versöhnung besteht für sie in einem "Community healing process".

Fußnoten

[1] Die Diamanten in Sierra Leone sind alluvial, d.h. sie befinden sich an der Erdoberfläche. Um sie abbauen zu können, benötigt man lediglich einen Spaten und ein Sieb. In anderen Abbaugebieten der Welt stammen die Diamanten zumeist aus Bergwerken, die sog. Kimberlit-Vorkommen abbauen. Die Diamanten aus diesen Minen sind nur mit großem technischem Aufwand und hohen Investionskosten zu gewinnen.

[2] ECOMOG (Economic Community Monitoring Group) sind der militärische Flügel der ECOWAS (Economic Community of West African States). Mitgliedsstaaten: Benin, Burkina Faso, Cabo Verde, Elfenbeinküste, Gambia, Ghana, Guinea, Guinea Bissau, Liberia, Mali, Mauretanien, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone, Togo. Die Ecomog-Truppen kooperierten teilweise mit der UN, waren aber auch in zahllose Menschenrechtsverletzungen verstrickt.

[3] Als sich nach dem "11.9." herausstellte, dass er auch dem Erzfeind der USA - der Al Qaida - Diamanten in Millionenhöhe verkauft hatte, musste Taylor weg. Taylor war zudem soweit außer Kontrolle geraten, dass es die "moralische Verantwortung" des Nordens nicht mehr zulassen konnte, dem Töten weiter zuzusehen. Dies ermöglicht den USA, im gleichen Atemzug Taylor aus seinem Amt zu vertreiben und daran arbeiten, die Militärherrschaft des westafrikanischen Ministaates Äquatorial-Guinea von der Liste der Menschenrechte verletzenden Regime zu streichen. Die Politik hatte sich zwar nicht verändert, aber vor der Küste lagern - günstig gelegen für die USA - riesige Ölvorkommen.

[4] Eine Landmine ist ein anonymer Täter aus dem Untergrund, der zumindest die Möglichkeit eröffnet, sich nicht gemeint zu fühlen. Es war ein Unfall, so sehen es viele Menschen in Angola oder Afghanistan. Es ist etwas völlig anderes, wenn ein Mensch einem anderen von Angesicht zu Angesicht die Hände abhackt. Oder Familienangehörige dazu zwingt.

[5] Der medico-Projektpartner PODES aus El Salvador fertigt seit einigen Jahren Prothesen für Sierra Leone

[6] Die Kamajor-Milizen waren ursprünglich Jäger- und Wächtergemeinschaften des Mende Volkes. 2-3.000 der ca. 35-40.000 Kamajor wurden von Executive Outcomes ausgebildet. Unter Präsident Kabbah, der seiner Armee nicht vertraut hat, wurden sie zielgerichtet mit Waffen ausgerüstet. Vgl. Sierra Leone: Diamanten überstrahlen die Ratlosigkeit

[7] Es gab während der Anhörungen der TRC kein Konzept, um mit den sog. victim-perpetrators umzugehen, vor allem den Kindersoldaten, die Opfer und Täter zugleich sind, weil sie viel zu jung waren, um die Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen. In der Wahrnehmung der Opfer sind sie Täter, zugleich sind sie selbst schwer traumatisiert, ihrer Kindheit und Jugend beraubt und oft drogenabhängig.

[8] Bei der Kontrolle von Bodenschätzen stehen Privatarmeen (Private Military Companies, PMCs) und private Sicherheitsdienste den Großkonzernen und den Warlords in Afrika und anderswo zur Seite (vgl. Boris Kanzleiter in medico Report 24). Sie tragen maßgeblich zur Stabilisierung von Bürgerkriegsökonomien bei. Das Ende des Ost-West-Konflikts und die Dynamik der neoliberal geprägten Globalisierung hat in vielen Ländern zur Aushöhlung der regulären Ökonomien geführt, in die private Sicherheitsakteure eindringen. Die reguläre Ökonomie verliert in diesem Prozess an Bedeutung gegenüber dem informellen Sektor und kriminellen Netzwerken, die global operieren. Dadurch entstehen sog. gewaltoffene Räume, die privaten Sicherheitsanbietern ungeahnte Möglichkeiten zur Entfaltung und Expansion eröffnen. Die Bereitstellung seiner Arbeitskraft und gegebenenfalls der Verlust der körperlichen Unversehrtheit wird allein durch den Sold abgegolten und schließt keine politische Bindung ein.

Literatur
  • Claudia Anthony, 2003: Historical and Polical Background to the Conflict in Sierra Leone. In: Kai Ambos, Mohamed Othman (Hrsg.): New Approaches in International Criminal Justice: Kosovo, East Timor, Sierra Leone and Cambodia. Freiburg
  • Björn Aust, 2003: Feindliche Übernahmen. Ökonomische Interessen und "militärisches Unternehmertum" im Kongo. In: Dario Azzellini, Boris Kanzleiter (Hg.): Das Unternehmen Krieg. Paramilitärs, Warlords und Privatarmeen als Akteure der Neuen Kriegsordnung. Berlin, Hamburg, Göttingen.
  • Abu Brima, 2002: The Campaign for Just Mining in Sierra Leone. The Fight for Peace an against Conflict Diamonds. Freetown.
  • Brot für die Welt (Hg.), 2003: Saubere Diamanten? Frankfurt a.M.
  • Cry Freetown.
  • Partnership Africa Canada (PAC), 2000:The Heart of the Matter - Sierra Leone, Diamonds and Human Security. Ian Smillie, Lansana Gberie, Ralph Hazleton
  • Partnership Africa Canada (PAC), 2003: Motherhood, Apple Pie and False Teeth: Coporate Social Responsibility in the Diamond Industry, Ian Smillie
  • Pedro Rosa Mendes, 2003: Die Gewalt steckt unter der Haut. Sierra Leone arbeitet die Folgen des Bürgerkriegs auf. In jungle world Nr. 43 und 44
  • Walter Schicho, 2001: Handbuch Afrika. Westafrika und die Inseln im Atlantik. Frankfurt a.M., Wien

Den Text als pdf-Datei gibt es hier:
http://www.medico.de/projekte/sierraleone/Sierra%20Leone-Reisebericht.pdf



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