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"Neutralität ist beste Option"

Serbien braucht Partner, keine Befehlshaber: Mehrheit der Bevölkerung gegen Mitgliedschaft in der NATO. Ein Gespräch mit Zivadin Jovanovic *


Der Jurist Zivadin Jovanovic war 1998 bis 2000 jugoslawischer Außenminister. Heute ist er Präsident des »Belgrad Forums für eine Welt der Gleichen«.


Das Jahr bringt uns drei bedeutsame Jahrestage: der Beginn des Ersten Weltkriegs durch die von Deutschland unterstützte Kriegserklärung Österreich-Ungarns gegen Serbien, die Befreiung Belgrads von den Hitler-Faschisten 1944, und der 15. Jahrestag der NATO-Aggression gegen Jugoslawien. Welchen Zusammenhang sehen Sie bei diesen Ereignissen?

Alle drei, der Erste und Zweite Weltkrieg und die NATO-Aggression, wurden gegen unser Land geführt, im selben 20. Jahrhundert. Alle waren sie imperialistische Kriege, die unter verlogenen Vorwänden gestartet wurden. Sie bewirkten enorme menschliche, wirtschaftliche und politische Konsequenzen, die auch im 21. Jahrhundert noch nicht bewältigt sind. Serbien nimmt diese Jahrestage zum Anlaß, seiner Millionen gefallener Landsleute zu gedenken sowie aller Opfer, die ihr Leben für Freiheit und Menschenwürde gaben. Wir alle müssen die Erinnerung wach halten und die Botschaft vermitteln, daß sich solche Katastrophen für die Menschheit nicht wiederholen dürfen.

Ist im Bewußtsein der Öffentlichkeit Serbiens weiterhin präsent, daß das Land dreimal in einem Jahrhundert Ziel westlicher Aggressionen wurde?

Eine Nation, die über ein Drittel ihrer Bevölkerung im Ersten und mehr als eine Million im Zweiten Weltkrieg verloren hat, während die »humanitäre Intervention« der NATO auch nach 15 Jahren immer noch Todesopfer fordert, diese Nation kann und darf nicht vergessen. Das wäre unzivilisiert und unverantwortlich gegenüber der Zukunft.

Das »Belgrad Forum« spielt als unabhängige Organisation von Intellektuellen eine wichtige Rolle, das öffentliche Bewußtsein für die Aggressionskriege gegen Serbien im 20. Jahrhundert zu schärfen. Unter dem Motto »Niemals vergessen!« bereitet es eine Reihe Veranstaltungen zum bevorstehenden 15. Jahrestag der NATO-Aggression vor, darunter eine internationale Konferenz am 22. und 23.März in Belgrad mit dem Titel »Globaler Frieden gegen globalen Interventionismus und Imperialismus«, zu der prominente unabhängige Wissenschaftler und Friedensaktivisten aus der ganzen Welt erwartet werden.

Hat Europa Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen?

Ich fürchte nicht. Ich bin besorgt über die Militarisierung der EU und die Expansion der NATO nach Osten. Einige europäische Regierungen, einschließlich links orientierter, kopieren mehr und mehr die imperiale Politik und das Benehmen der USA, sie verlieren den Respekt für die Werte der Zivilisation. Abhängig gemacht von US-Doktrinen wie dem »Recht auf humanitäre Intervention«, der »Schutzverantwortung« oder dem »Krieg gegen Terror«, hat Europa die Kraft und das Selbstvertrauen verloren, zu offenkundig antieuropäischer Politik nein zu sagen. Manche europäischen Regierungen wetteifern darin, der NATO Zugeständnisse zu machen. Hinter dem Vorhang antikommunistischer Rhetorik in verschiedenen nationalen und EU-Institutionen lebt der Faschismus wieder auf. Wir sind mit der systematischen Revision der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts konfrontiert. Die Rehabilitierung von Nazis in einigen »Neuen Demokratien« geht einher mit Anklagen gegen Veteranen des antifaschistischen Kampfes und der Zerstörung von Denkmälern für Partisanen.

Die Revision der Geschichte ist kein Selbstzweck. Wenn bestimmte ungarische Politiker den Vertrag von Trianon des Jahres 1920 revidieren wollen, wird vollkommen klar, daß ihr wahres Ziel die Änderung der Grenzen ist.

Das Ziel des Krieges 1999 war die Zerstörung Jugoslawiens und die Zerstückelung Serbiens. Wie erfolgreich war die NATO?

Tatsächlich hat die NATO Jugoslawien zerstört, wirtschaftlich und als Staat, und sie hat Serbien und die serbische Nation fragmentiert. Ich bezweifle aber, daß dies ein Erfolg für irgendjemand ist. Die USA und die NATO unterliegen keinerlei rechtlichen oder sonstigen effektiven Kontrolle, ihr Krieg war ein Krieg gegen Europa – mit aktiver Beteiligung Europas!

Großbritannien führte enthusiastisch die Nützlichkeit seiner doppelgesichtigen Loyalität vor. Deutschland sah eine gute Gelegenheit, die ihm nach dem Zweiten Weltkrieg verpaßten Einschränkungen, die es als Zwangsjacke empfand, loszuwerden, der Rest der EU hatte nichts zu melden. Das »Racak-Massaker«, der »Hufeisenplan«, die »Rambouillet-Verhandlungen« und das Hager Sondertribunal waren Bausteine, um Serbien als neuen Nazistaat vorzuführen, um Sanktionen zu rechtfertigen, die kriminelle NATO-Aggression, die politische Erpressung und letztlich den Raub von Kosovo und Metohija.

In der Friedensbewegung gibt es die Auffassung, daß mit der NATO-Aggression eine dauernde Militärpräsenz der USA in diesem Teil Europas begründet werden sollte.

Das trifft zu. Sofort nach dem Krieg schufen die USA mit dem »Camp Bondsteel« in Kosovo und Metohija einen der weltweit größten Militärstützpunkte vom Typ der Ramstein Air Base. Der frühere Staatssekretär Willy Wimmer berichtete dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, die USA wollten damit den »Fehler« von Präsident Eisenhower korrigieren, der es im Zweiten Weltkrieg versäumt habe, US-Truppen in Jugoslawien zu stationieren. Dies ist Teil der militärischen Expansion Richtung Rußland, Kaspisches Meers, Zentralasien und Mittlerer Osten. Heute gibt es in Europa mehr ausländische Militärbasen als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ...

Welche Haltung nimmt die gegenwärtige Regierung in Belgrad gegenüber den Aggressoren von 1999 ein? Will sie immer noch in die EU, obwohl Kosovo und Metohija endgültig von Serbien abgetrennt werden soll?

Der Druck, den speziell die USA, Deutschland und Großbritannien auf Serbien ausüben, die einseitige illegale Sezession von Kosovo und Metohija anzuerkennen, um im Austausch dafür irgendwann nach 2020 die EU-Mitgliedschaft zu erhalten, ist unanständig, revanchistisch und kontraproduktiv. Eine Lösung im Widerspruch zur UN-Charta und zum OSZE-Abkommen von Helsinki, zur UN-Resolution 1244 und zur serbischen Verfassung ist keine Lösung. Die USA wollen die Angelegenheit dem UN-Sicherheitsrat aus der Hand nehmen, um Serbien der russischen und chinesischen Unterstützung zu berauben. Dazu nutzt Washington die EU als Vermittler. Doch 100 Jahre nach dem Wiener Diktat wird kein westliches Diktat das Statusproblem lösen.

1999 bezeichnete ich die NATO-Aggression als »Türöffner-Krieg« für die nächsten Kriege – inzwischen erlebten wir die Kriege gegen Afghanistan, den Irak, Libyen, Syrien, ebenso gegen Pakistan und viele afrikanischen Länder. Es ist schwer nachvollziehbar, daß Serbien Mitglied dieser Terrororganisation werden will.

Rund 75 Prozent der Bevölkerung Serbiens sind entschieden gegen eine NATO-Mitgliedschaft, nur 13 Prozent befürworten sie. Als Relikt des Kalten Krieges gehört die NATO aufgelöst. Serbien ist ein kleines, friedliebendes Land ohne imperialistische Ziele. Die NATO ist eine aggressive Maschinerie, die den Interessen des Militärisch-Industriellen Komplexes und des Finanzkapitals dient. Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien waren nur Wiederholungen des jugoslawischen Präzedenzfalls. Das selbst angemaßte Recht der NATO, an jedem Punkt der Welt anzugreifen, ist die Quelle größter Gefahr für Frieden und Stabilität.

Wenn die Aggression 1999 der Wendepunkt Richtung Globalisierung des NATO-Interventionismus war, dann markieren die Ereignisse im Iran, in Syrien und der Ukraine 2013 den Wendepunkt vom Monopol zur Multipolarität. Für Serbien ist die Neutralität die beste Option. Wenn sechs Staaten in der EU sein können ohne Mitglied der NATO zu sein, warum sollte das Serbien als Gründungsmitglied der Blockfreien-Bewegung nicht können?

Bei verschiedenen Gelegenheiten wurden serbische Hoffnungen auf russische Hilfe und Unterstützung enttäuscht, andererseits kann eine komplette Einkreisung auf dem Balkan nicht in Moskaus Interesse liegen. Wie sind die serbisch-russischen Beziehungen?

Rußland war in der Geschichte immer Serbiens Verbündeter, es unterstützt Serbiens Souveränität und territoriale Integrität sowie die Umsetzung der UN-Resolution 1244 über Kosovo und Metohija. Rußland unterstützt Serbien auch bei der Durchsetzung des Dayton-Friedensabkommens über Bosnien und weist Versuche zurück, es zu Lasten der Serbischen Republik zu revidieren.

Für Entwicklungsprojekte in Serbien gewährt Rußland zinsgünstige Kredite über fünf Milliarden Dollar. Mit der Erdgas-Pipeline »South Stream« durch Serbien wird die Energiesicherheit in Europa garantiert und zugleich die geopolitische Position Serbiens gestärkt. Die EU-Mitgliedschaft ist für Serbien keineswegs alternativlos – es kann auch als neutrales Land ein guter und prosperierender Nachbar der EU sein. Serbien braucht den weiteren Ausbau der Beziehungen zu Rußland, China, Indien und allen anderen Ländern, die keine politischen Vorbedingungen stellen und die Serbiens Souveränität und territoriale Integrität unterstützen. Ein Grundsatz ist besonders wichtig: Serbien braucht andere Partner genauso, wie sie Serbien brauchen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Interview: Klaus Hartmann

* Aus: junge Welt, Montag, 6. Januar 2014


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