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Das Gericht fehlt

Die Anklage gegen politische Führer des Kosovo wegen Kriegsverbrechen ist fertig. Ein Prozeß ist unwahrscheinlich, denn Zeugen werden eingeschüchtert

Von Hannes Hofbauer *

Als der US-Diplomat Clint Williamson am Dienstag in seiner Funktion als Chefankläger für Kriegsverbrechen im Kosovo in Brüssel vor die Presse trat, ging es unter anderem um das grausamste Verbrechen, das Menschen anderen Menschen antun können. Die Rede ist von Morden an UÇK-Gegnern, denen im Anschluß an die Greueltaten Organe für den Verkauf auf dem Schwarzmarkt entnommen wurden. Ohne die Täter explizit zu nennen, ließ Williamson keinen Zweifel daran, daß es um »Individuen der UÇK-Führungsebene« – wie er es nannte – geht, mithin auch um aktuelle kosovo-albanische Politiker in allerhöchsten Regierungsämtern. Der Name von Ministerpräsident Hashim Thaçi steht im Raum.

Die Vorwürfe gegen die UÇK-Führung sind nicht neu. Hunderttausende Serben und Roma wurden in jenen Sommermonaten vertrieben, orthodoxe Kirchen zerstört, mißliebige Personen gefangengenommen und hingerichtet, über 500 gelten bis heute als vermißt. Die Verantwortlichen dafür haben auch 15 Jahre später noch keinen Richter gesehen, im Gegenteil: Sie sitzen in einflußreichsten politischen und wirtschaftlichen Positionen in Pristina.

Der Organhandel steht an der Spitze der Verbrechen, die UÇK-Kadern vorgeworfen werden. International aufgedeckt hat ihn der schweizerische Ständerat und Staatsanwalt Dick Marty, der sich im Auftrag des Europarates 2008 auf eine damals seltsame Spur begeben hatte. Bereits 2004 war vom Jugoslawien-Tribunal in Den Haag eine Untersuchung eingestellt worden, nach der nahe der nordalbanischen Stadt Burrel ein sogenanntes gelbes Haus als Hinrichtungsstätte für Serben und kosovo-albanische UÇK-Gegner fungiert habe, denen anschließend in einer improvisierten Klinik – später wurde diese in Fushë-Kruja nahe Tirana lokalisiert – Organe entnommen worden seien. In ihrem 2008 auf italienisch erschienenen Buch »La caccia« (»Im Namen der Anklage«) erhärtete die mittlerweile von ihrem Posten als Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals zurückgetretene Carla del Ponte diesen Verdacht. Freilich hatte sie es zuvor noch zugelassen, daß Beweisstücke wie Spritzen und diverse Medikamente, die für Organentnahmen gebraucht werden können, in Den Haag vernichtet wurden. Dick Marty ging der Sache nach.

Feindbild Dick Marty

Am 12. Dezember 2010 erstattete der mutige Mann aus dem Tessin dem Europarat Bericht über seine Nachforschungen. Daraus geht hervor, daß es jenseits der Grenze des Kosovo im Norden Albaniens geheime Gefängnisse für Serben und oppositionelle Kosovo-Albaner gegeben hat; auch gebe es »vielerlei Anzeichen dafür (…), daß Organe von einigen Gefangenen in einer Klinik auf albanischem Territorium entnommen wurden«, um damit Handel zu betreiben. Auch eine Erklärung, warum diese Verbrechen jahrelang niemanden im Westen interessiert haben, lieferte Marty in seinem Bericht: »Die im Kosovo stationierten internationalen Organisationen favorisierten einen pragmatischen politischen Zugang, um kurzfristig Stabilität herzustellen, womit sie wichtige Prinzipien des Rechts geopfert haben.« Mit anderen Worten: Über die Verbrecher innerhalb der UÇK wußten USA und EU Bescheid, taten aber nichts dagegen, weil es »ihre« Verbrecher waren, die sie zur Stabilisierung der Herrschaft notwendig brauchten.

Marty sprach auch offen aus, wen er mit dem Organhandel in Verbindung brachte: Für ihn gehörten die Männer der sogenannten Drenica-Gruppe zu den Drahtziehern, ihr Chef trug den Namen Hashim Thaçi. Der angesprochene, damals wie heute im Amt des Kosovo-Ministerpräsidenten sitzende Thaçi ließ Marty ausrichten, sein Bericht »erinnert mich an die Propaganda von Joseph Goebbels«, und bezeichnete den »Unterton dieses Pamphlets als rassistisch«. Thaçi folgte damit der »Argumentation« der NATO, die Jugoslawien fast drei Monate lang bombardiert hatte und immer wieder mit der Hitler-Keule kam, wenn vom Feind Slobodan Milosevic die Rede war. Mit dem Europaratsbericht vom Dezember 2010 über die Kriegsverbrechen der UÇK-Kader war die Lunte gelegt, die von Williamson nun näher an den juristischen und medialen Explosionsort herangeführt wurde.

Williamson agiert als Chefankläger der »Special Investigative Task Force« (SITF), einer von der EU im Rahmen ihrer Kosovo-Präsenz als EULEX-Rechtshilfemission ins Leben gerufenen Einrichtung. Sie soll die Kriegsverbrechen untersuchen, die nach dem Abzug der jugoslawischen Einheiten aus dem Kosovo Anfang Juni 1999 geschehen sind. Man könnte sich fragen, warum dies nicht vom formal bereits seit 1993 bestehenden Jugoslawien-Tribunal unternommen wurde – und bekommt eine skurril anmutende Antwort. Das »Jugoslawien-Tribunal«, hinter dessen Mauern die Führer der zwei größten serbischen Parteien, Slobodan Milosevic und Vojislav Seselj, politisch und im Fall des ersteren auch physisch totgemacht wurden, ist laut Statut nur für die Zeit bis »zum Ende der Kampfhandlungen« zuständig. Mit dem Einmarsch der NATO in den Kosovo haben diese laut Eigendefinition aufgehört.

Systematische Bedrohung

Die EU hat im September 2011, aufbauend auf den Report von Dick Marty, die oben erwähnte Arbeitsgruppe SITF installiert und Williamson zum Chefankläger erhoben. Bevor er im August diesen Posten schon wieder verläßt, gab er besagte Pressekonferenz. Die Anklage gegen hochrangige ehemalige UÇK-Führer ist damit fertig. Wen sie betrifft, darüber hüllte sich der Diplomat in Schweigen. Er bestätigte allerdings in Grundzügen den Marty-Report, was die Verantwortung der Drenica-Gruppe betrifft, und bekräftigte erneut, daß ausreichend Beweise für den Handel mit Organen ermordeter Serben vorliegen. Auf die Frage, um wie viele Fälle es sich dabei handelte, streckte Williamson die zehn Finger seiner beiden Hände in die Höhe und meinte, Evidenz läge für weniger als zehn Fälle vor. Mehr könnten sich im Zuge der Anklageerhebung ergeben.

Als größtes Hindernis für seine Untersuchungen nannte der scheidende Chefankläger des SITF eine systematische Zeugeneinschüchterung, die ihm und seinem Team schwer zu schaffen mache. »Es gibt sehr, sehr starke Hinweise darauf, daß Zeugen und auch potentielle Zeugen eingeschüchtert werden«, was die gesamte EULEX-Mission belasten würde. Wer sich an den Fall des ehemaligen Thaçi-Weggefährten Ramush Haradinaj erinnert, der 2007 wegen Kriegsverbrechen für kurze Zeit dem Haager Jugoslawien-Tribunal vorgeführt worden war, kann sich ausmalen, was mit »Zeugeneinschüchterung« im Kontext des Kosovo gemeint ist. Die Anklage gegen Haradinaj lautete damals auf Entführung, Mord, Schutzgelderpressung und das schwammige »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« in 37 Fällen. Carla del Ponte meinte bereits nach der ersten Einvernahme, daß es »keine einfache Anklageführung geben werde«, und wies auf die »systematische Bedrohung der Zeugen der Anklage« hin. Von den zehn Zeugen, die gegen Haradinaj aussagen sollten, starben neun während des Prozeßjahres, der zehnte zog seine Aussage zurück, nachdem er ein Attentat überlebt hatte.

Der nun in Gang gekommene Prozeß gegen kosovo-albanische Kriegsverbrechen wie Vertreibung und Ermordung von Serben, Roma und von der UÇK als Verräter identifizierten Albanern sowie Organhandel kämpft zudem mit einem substantiellen Problem. Es gibt zwar die – noch geheim gehaltene – Anklage, aber es fehlt das dazugehörige Gericht. Wenn es tatsächlich wie geplant im Kosovo errichtet wird, würde es in alter kolonialer Tradition »ausschließlich von internationalen Experten geführt«, wie Williamson beschreibt.

Woran unter EU-Ägide nicht zu denken ist, hat der Chefankläger ohne Gericht der interessierten Öffentlichkeit auch mit auf den Weg gegeben: Eine politische Aufarbeitung der Ereignisse des Jahres 1999 wird nicht stattfinden. Da müßten die Rolle der NATO und ihre enge Allianz mit den demnächst vielleicht angeklagten UÇK-Führern untersucht werden. Williamson stellte klar: »Sie (die Täter, d.A.) werden als Individuen für ihre Taten verantwortlich gemacht.« Thaçi und Co. könnten demnächst ihre Schuldigkeit für die wirtschaftlichen Interessen der EU und die militärischen der USA getan haben. Um die Zerstörung Jugoslawiens und die Abspaltung des Kosovo von Serbien ins Werk zu setzen, waren sie dem Westen hilfreich. Wenn sie in Zukunft nicht mehr gebraucht werden, kann man sie per neu zu gründendem Gerichtshof auf Basis einer – wohlgemerkt – individuellen Verantwortung ihrer verdienten Strafe zuführen.

* Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus, Promedia Verlag, Wien 2008

Aus: junge Welt, Freitag, 1. August 2014



Überraschung ­für den Westen **

Am Dienstag legte der von der EU beauftragte Chefermittler zu Kriegsverbrechen der »Befreiungsarmee des Kosovo« (UÇK), der US-Diplomat Clint Williamson, in Brüssel Ergebnisse seiner Untersuchung vor. Demnach haben sich »Kader der UÇK« der Entführung, Geiselnahme, Folter und Ermordung von ethnischen Serben, Roma und anderen Nationalitäten, einschließlich mißliebiger Albaner, schuldig gemacht. Dafür gebe es Beweise. »Schlüssige Hinweise« gebe es in bis zu zehn Fällen von Organhandel. Die Zahl könne sich in einem ordnungsgemäßen Gerichtsverfahren erhöhen.

Die Aussagen stimmen weitgehend mit dem Bericht überein, den der frühere Ermittler des Europarates zu UÇK-Kriegsverbrechen, der Schweizer Dick Marty, Ende 2010 vorgelegt hatte. Er kommentierte am Dienstag in einem Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) die Erklärung Williamsons mit der ironischen Bemerkung, daß die Regierungen der EU- und NATO-Staaten »sehr, sehr überrascht« sein müßten. Sie hätten zwar Williamson mit Ermittlungen beauftragt, aber offenbar nie daran gedacht, auch ein Gericht einzusetzen. Das bedeute, »alle waren überzeugt, Williamson würde nichts finden«. Nun habe er aber viele »positive Beweise« vorgelegt, und auch er, Marty, sei optimistisch, daß weitere gefunden werden. Die Schwierigkeit eines Prozesses sieht auch Marty in der Gefahr für Zeugendarüber hinaus in der »großen Verantwortung«, die die »internationale Gemeinschaft« bei diesen Verbrechen mit trage.

Nach der Pressekonferenz Williamsons wies der serbische Chefermittler zu den Vorwürfen von Organhandel durch die UÇK 1999, Dusan Janjic, in Belgrad gegenüber dem Sender RTS ebenfalls darauf hin, daß die Ergebnisse mit dem Marty-Bericht von 2010 übereinstimmen. Die serbische Öffentlichkeit sei vielleicht enttäuscht, weil Erwartungen auf stärkere Beweise und darauf, daß Hashim Thaçi vor Gericht gestellt werde, geweckt worden seien. Nach den Worten von Janjic sind aber alle Szenarien möglich, da niemand wissen könne, was die Ermittlungen noch ergäben. Er glaube allerdings nicht, daß mögliche Prozesse gegen UÇK-Führungsleute zu einer wesentlichen Änderung des Herangehens der internationalen Gemeinschaft an die Vergangenheit führen werde. In jedem Fall werde die UÇK in die Geschichte als eine Guerilla eingehen, die Verbrechen begangen habe.

Während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien hatten der damalige US-Präsident William Clinton, die deutschen Regierungsparteien SPD und Grüne wie insgesamt die Kriegsparteien und -medien der Mitgliedstaaten des Paktes die UÇK-Kämpfer als Freiheitshelden gefeiert. (jW)

** Aus: junge Welt, Freitag, 1. August 2014


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