Auch Tito muss mit ran
Am Sonntag wählt Serbien. Für viele ist keine Partei wählbar
Von Michael Müller, Uzice/Belgrad *
Am Sonntag (6. Mai) wählen die Serben Präsident,
Parlament und Kommunalvertreter.
Politiker und Medien basteln
darum herum zwei Schicksalsfragen:
Bleibt Serbien auf EU-Kurs, was wird
aus Kosovo? Aber die Menschen im
Land drücken meistens ganz andere,
zutiefst existenzielle Probleme.
Über dem Zentrum von Uzice, dieser
60 000-Einwohnerstadt in
Westserbien, liegt dieser Tage ein
vorsommerlicher Duftmix aus blühenden
Tulpenbäumen, Popcorn
und Automief. Die Alten sitzen
plaudernd auf den Bänken, die
Jüngeren rauchend im Café, die
Kinder um den Brunnen vor dem
Markt. Ansonsten aber von früh bis
spät pralles, bewegtes Leben auf
der Hauptstraße zum Stadtpark.
Dazwischen plötzlich ein ländlicher
Konvoi von Traktoren, Erntekombines
und Radladern. Mit
Fahnen, Transparenten. Und mit
Sprechchören: »Wir lassen uns
nicht platt machen – Stop!«
Eine halbe Stunde Verkehrsblockade.
Die Bauern aus den
Dörfern um Uzice legen wie Tausende
andere im ganzen Land den
Verkehr lahm. Es geht um höhere
Subventionen vom Staat. »Unter
15 000 Dinar je Hektar fahren wir
nicht zurück auf den Hof«, sagt einer.
Innerhalb von nur einer Woche
sichert die Regierung 12 500
Dinar (etwa 118 Euro) pro Hektar
zu, eine Steigerung um ein Drittel.
Tags darauf wird ein Bauern in
»Vecernje Novosti« zitiert: »Das ist
doch alles nur Betrug. Auf das Geld
können wir lange warten.«
Das ist nur ein Beispiel für den
Vorwahlaktionismus, mit dem die
Demokratische Partei (DS), die den
bisherigen Präsidenten Boris Tadic
und die Regierungsmehrheit stellt,
öffentlich punkten will. Breite Bevölkerungsschichten
lasten ihr
nämlich die anhaltende soziale
und wirtschaftliche Misere an.
Selbst offiziell hat nur jeder Vierte
im Land Arbeit, das Durchschnittseinkommen
stagniert bei
umgerechnet 320 Euro.
Zum linden, sonnigen meteorologischen
Frühling, der sich jetzt
gerade über Serbien legt, gesellt
sich kein gesellschaftlicher. Ja,
man lebt irgendwie, scheinbar sogar
unbekümmert, aber eigentlich
herrscht sozial-ökonomische Winterstarre.
Vielleicht die schlimmste
seit den jugoslawischen Bürgerkriegen
1991 bis 1999. Die politisch
in der Mitte agierende DS lag
deshalb eine Woche vor der Wahl
bei der Parteienumfrage sechs
Punkte hinter der rechten Oppositionsführerin,
der Serbischen
Fortschrittspartei (SNS). Und auch
bei der Präsidentschaftsumfrage
hatte der abermalige DS-Kandidat
Boris Tadic zwei Prozent weniger
als sein SNS-Kontrahent Tomislav
Nikolic.
Die meisten Serben kümmert
dieses Prozentspiel wenig. Sie leben,
ähnlich ihren Nachbarn auf
dem Balkan, in einem der ärmsten
europäischen Länder. Natürlich
stirbt die Hoffnung auch in Serbien
zuletzt. Aber an was und an wen
sollen die Leute nach dem dramatischen
allgemeinen Niedergang,
der schon in der Nach-Titozeit der
80er Jahre begann, eigentlich noch
glauben? Doch nicht etwa daran,
dass ihnen ihr bisheriger Präsident
Boris Tadic per modernster, natürlich
aus Steuergeldern finanzierter
Werbetechnik die »sichere
Zukunft« verspricht. Und doch
wohl auch nicht an die »ehrliche
und erfolgreiche«, die sein politischer
Gegner Tomislav Nicolic parat
hat.
Andrej Ivanji, Journalist beim
Nachrichtenmagazin »Vreme«,
analysiert bei einem Gespräch in
Belgrad ganz nüchtern: »Nichts
von dem, was den Leuten hier im
Wahlkampf versprochen wird,
auch nichts von dem, was ohnehin
politische Praxis in diesem Land
ist, kann aufgehen. Weder Präsident,
Regierung noch Parteien haben
einen Plan. Und wenn, dann
hat er nur ein Ziel: die eigene Tasche
oder zumindest die der Partei.
« Was Wunder, dass die großen
politischen Spieler dem bitteren,
bodenständig-konkreten Verdruss
des serbischen Wahlvolkes nur zu
gern ausweichen. Stattdessen bemühen
sie viel lieber abgehobenabstrakte,
aber emotional hoch
aufgeladene Themen. Etwa Kosovo
und EU-Beitritt.
Die ehemalige autonome serbische
Provinz hat sich ja bekanntlich
vom jahrhundertelangen
serbischen Mutterland auch völkerrechtlich
bereits weitgehend
zum eigenen Staat abgenabelt.
Kraft ihrer albanischen Bevölkerungsmajorität
sowie – Stichwort:
78 Tage Luftangriffe auf Serbien
im Frühjahr 1999 – massiver militärischer
NATO-Unterstützung.
Dass die serbische Minderheit im
Norden Kosovos weiterhin dagegen
stichelt, dürfte nicht viel mehr
als eine – hoffentlich weitgehend
unblutige – politische Demonstration
bleiben. Dass die Serben im
Kosovo jetzt mit OSZE-Hilfestellung
an den serbischen Wahlen
teilnehmen können, wird eine
zeitgeschichtliche Petitesse bleiben.
Belgrad selbst, das an der Sezession
alles andere als unschuldig
ist, hat Kosovo realpolitisch längst
abgeschrieben.
Und zwar nicht etwa nur, weil
Brüssel daran die Aufnahme von
EU-Beitrittsverhandlungen knüpft,
mit denen die meisten maßgeblichen
Parteien jetzt das Blaue vom
Himmel versprechen. Sondern vor
allem deshalb, weil in Kosovo ganz
andere Kräfte das Sagen haben als
die albanische Majorität. Kosovo
ist inzwischen der größte Militärstützpunkt,
den die USA seit dem
Vietnam-Krieg gebaut haben (mit
dem Kerncamp Bondsteel bei Ferizaj).
Kosovo ist auch wichtigster
Umschlagplatz für Heroin aus Afghanistan
nach Westeuropa. Unlängst
sprach deshalb ein hochrangiger
BND-Mitarbeiter gegenüber
einem deutschen Nachrichtenmagazin
von Kosovo als »einem
Land, in dem organisierte Kriminalität
die Staatsform« bestimmt.
Die Alten auf der Parkbank in
der Provinzstadt Uzice nicken dazu.
Sie mögen die Albaner in Kosovo
gar nicht. »Es bleibt nur
Wehmut«, sagt einer. »Verletzte
Ehre und Seele«, sagt ein anderer.
»Unser Gracanica liegt dort auf
unserem Amselfeld, auch Decani
ist drüben«, sagt der nächste. Es
handelt sich um zwei der heiligsten
serbisch-orthodoxen Klöster sowie
um den Ort der (gegen die Osmanen
verlorenen) Schlacht auf dem
Amselfeld 1389, die als mythische
Geburtsstunde serbisch-europäischen
Geistes gilt.
Naheliegend, dass solche nationalen
Saiten im Wahlkampf ganz
gern angeschlagen werden. Nicht
unbedingt bedingungslos von den
»Großen«, dafür aber unverhohlener
von etlichen »Kleinen«. Auch
eine Renaissance besonderer Art
treibt Wahlkampfblüten: die von
Jugoslawiens Partisanenmarschall
und späterem Präsidenten Jozip
Broz Tito. In Uzice war damit Ende
April, wie die Rentner im Park
recht begeistert erzählen, Ivica
Dacic aufgekreuzt, Chef der Sozialistischen
Partei (SPS). Er ist im
bisherigen Mitte-links-Kabinett
Innenminister, und er wird ob des
Umfrageaufwinds seiner SPS in
den Medien auch schon mal als
künftiger Regierungschef gehandelt.
Uzice war ein Zentrum des
Partisanenkampfes, trug bis 1992
sogar Titos Namen in der Stadtbezeichnung,
Titovo Uzice. An dieser
Stelle nun beteuerte Ivica Dacic,
dass seine Sozialisten die wahren
Erben Titos seien. Laut »Politika«
forderte er vom Bürgermeister, das
hinters Museum verbannte Tito-
Denkmal wieder ins Stadtzentrum
zu rücken.
Großer Jubel bei den Zuhörern.
Auch wenn der, der das sagt, im
Land als Wendehals hoch zwei gilt.
Erst war er bis 2001 als Sprecher
von Slobodan Milosevic ein nationalistischer
Einpeitscher. Dann
war er gegen den EU-Beitritt,
knickte aber 2008 ein, als die EUBefürworterin
DS seiner Partei die
Regierungsbeteiligung anbot.
Wen und was aber sollten die
Serben wählen? Niemanden und
nichts? Diese frustgenährte Tendenz
wird stärker. Was an deren
Ende steht, ist fraglich bis beängstigend.
* Aus: neues deutschland, Samstag, 5. Mai 2012
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