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Selbstständiges Serbien vor Neuanfang?

Serben stimmen am Wochenende über eine neue Verfassung ab. Wahlen sollen demnächst folgen / Drohende Unabhängigkeit Kosovos zwang Parlamentsparteien zu rascher Einigung

Von Marko Winter, Belgrad *

Nach dem Zerfall Jugoslawiens und der Auflösung der Staatengemeinschaft mit Montenegro soll Serbien endlich eine neue Verfassung erhalten. Am 28. und 29. Oktober stimmen die registrierten Wahlbürger des Landes darüber ab. Keine Gegenstimme erhob sich im serbischen Parlament, als der Verfassungsentwurf am 30. September vorgelegt wurde. Obwohl einige Abgeordnete die Endfassung erst kurz zuvor zu Gesicht bekommen hatten. Noch zwei Monate zuvor hätte die Behauptung, dass die seit dem 3. Juni erstmals seit 88 Jahren wieder selbstständige (oder alleinstehende) Republik noch in diesem Jahr ein neues Grundgesetz bekommt, bei Fachleuten nur mitleidiges Lächeln hervorgerufen. Dabei war die Verabschiedung einer erneuerten Verfassung seit dem Machtwechsel am 5. Oktober 2000 – dem Sturz Slobodan Milosevics – als erstrangige Aufgabe verkündet worden. Doch getan hatte sich nichts – weder unter dem Regierungschef Zoran Djin-djic noch nach dessen Ermordung am 12. März 2002 unter Zoran Zivkovic. Erst nach den Wahlen im Dezember 2003, in deren Gefolge Vojislav Kostunica zum Ministerpräsidenten Serbiens wurde, kam die Verfassungsfrage wieder auf die Tagesordnung. Das war umso notwendiger, als inzwischen die Bundesrepublik Jugoslawien aufgehört hatte zu existieren und durch die Staatengemeinschaft Serbien und Montenegro ersetzt worden war.

Zwei Entwürfe in Konkurrenz

Kostunicas Minderheitsregierung, die von der Sozialistischen Partei (SPS) unterstützt wird, brachte im Sommer 2004 einen Entwurf im Parlament ein. Die Hoffnung auf raschen Fortschritt wurde dadurch genährt, dass der Vorsitzende der Demokratischen Partei (DS), Boris Tadic, mit Hilfe der Parteien der Regierungskoalition zum Präsidenten Serbiens gewählt worden war. Die DS hatte die Beteiligung an der Regierung Kostunica abgelehnt. Als Präsidentschaftskandidat aber versprach Tadic eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Koalition. Tatsächlich fuhr seine DS jedoch einen Konfrontationskurs und ließ keinen Zweifel an ihrem Ziel, die Regierung zu stürzen. Völlig überraschend verkündete Tadic während eines Besuchs in Moskau (!) im Januar 2005, er werde dem Parlament einen neuen Verfassungsentwurf vorlegen, den eine von ihm eingesetzte Expertenkommission ausgearbeitet hatte. Da man sich in der zuständigen Kommission des Parlaments nicht einigen konnte, wurde die weitere Arbeit am Grundgesetz praktisch auf Eis gelegt.

Erschwerend kam hinzu, dass die Prozedur der Verfassungsänderung kompliziert ist. Nachdem ihr mindestens zwei Drittel der Abgeordneten zugestimmt haben müssen, bedarf die neue Verfassung der Billigung durch mehr als 50 Prozent der registrierten Wähler in einem Referendum. Angesichts der abnehmenden Wahlbeteiligung schien gerade das eine unüberwindliche Hürde zu sein. Immerhin waren bis 2004 zwei Präsidentschaftswahlen daran gescheitert. Der Vorschlag, eine verfassunggebende Versammlung zu wählen, scheiterte an der Befürchtung der meisten Parteien, dass die nationalistische Serbische Radikale Partei (SRS) unter Vojislav Seselj – der im Untersuchungsgefängnis des Haager Jugoslawien-Tribunals sitzt – diese Wahlen gewinnen könnte.

Regierung nicht voll handlungsfähig

Der Parteienstreit fand seinen Höhepunkt darin, dass die Abgeordneten der DS nur noch an Sitzungen des Parlaments teilnahmen, wenn Kosovo betreffende Fragen auf der Tagesordnung standen. Selbst an der Abstimmung über die Verkündung der Selbstständigkeit der Republik Serbien und die Rechtsnachfolgerschaft der Staatengemeinschaft Serbien und Montenegro nahmen die Abgeordneten der Partei des Staatspräsidenten nicht teil.

So besitzt Serbien derzeit weder eine seinem Status entsprechende Verfassung noch eine voll handlungsfähige Regierung. Außen- und Verteidigungsministerium der vormaligen Staatengemeinschaft wurden zwar von Serbien übernommen, sind aber im geltenden Gesetz über die Ministerien gar nicht vorgesehen. Die amtierenden Minister Vuk Draskovic und Zoran Stankovic sind daher keine stimmberechtigten Regierungsmitglieder. Draskovic, der mit seiner Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO) für die Wiedereinführung der Monarchie eintritt, hätte auch wohl keine Chance gehabt, gewählt zu werden. Damit nicht genug, erklärten die vier Regierungsmitglieder der Partei G17-Plus unter Finanzminister Mladjan Dinkic mit dem 1. Oktober ihren Rücktritt, da die ausgesetzten Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU nicht wieder aufgenommen wurden. Die EU knüpft die Fortsetzung der Verhandlungen an die Auslieferung des ehemaligen Armeechefs der bosnischen Serben, Ratko Mladic, an das Haager Tribunal. Intern einigten sich Premier Kostunica und Dinkic immerhin darauf, den Rücktritt bis nach dem Verfassungsreferendum auszusetzen. Derweil rief die stellvertretende Ministerpräsidentin Ivana Dulic-Markovic (G17-Plus) ihre Partei jedoch auf, das Referendum zu boykottieren, da Forderungen der Vojvodina nach mehr Autonomie nicht berücksichtigt wurden.

In Zugzwang gerieten die Parlamentsparteien letztlich durch die Absicht der »internationalen Gemeinschaft«, die Verhandlungen über den endgültigen Status Kosovos bis Ende 2006 abzuschließen – und zwar mit der Gewährung einer begrenzten Unabhängigkeit für die abtrünnige Provinz. Was niemand für möglich gehalten hatte, trat daraufhin ein: Innerhalb von zehn Tagen einigten sich die Fraktionen im Verfassungsausschuss des serbischen Parlaments auf einen gemeinsamen Entwurf, der die beiden vorliegenden Vorschläge zur Grundlage hat und in dessen Präambel Kosovo auf Vorschlag der Regierung als untrennbarer Bestandteil Serbiens bezeichnet wird. Nur knapp zwei Stunden dauerte die Diskussion in der Sondersitzung des Parlaments am 30. September, in der das Projekt von sämtlichen 242 anwesenden Abgeordneten gebilligt wurde. Alle Redner hoben vor allem die Kosovo betreffende Passage hervor.

Alle Parlamentsparteien rufen denn auch zur Teilnahme und zum »Ja« beim Referendum auf. Außerparlamentarische Organisationen und kleinere Parteien fordern dagegen zum Boykott auf: Es habe nicht genügend Zeit für eine öffentliche Aussprache gegeben, argumentieren sie. Die Albaner in Südserbien, die die Unabhängigkeit Kosovos unterstützen, sind ohnehin gegen die neue Verfassung. Umfragen besagen jedoch, dass im schlechtesten Fall etwa 55 Prozent der registrierten Wähler ihre Zustimmung geben werden.

Die Karten werden neu gemischt

Sollte sich dies bewahrheiten, dürften noch für dieses Jahr Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausgeschrieben werden. Der frühestmögliche Termin wäre der 17. Dezember. Die serbischen Radikalen sähen die Wahlen allerdings lieber auf das Frühjahr 2007 verschoben. Sicher ist, dass die Karten nach dem Referendum neu gemischt werden: Der zeitweiligen Einheit wird ein harter Kampf um die Macht auch zwischen den »demokratischen« Parteien folgen.

Zahlen und Fakten

Die neue Verfassung der Republik Serbien soll das Grundgesetz aus dem Jahre 1990 ablösen. Die serbischen Parteien stehen nahezu geschlossen hinter dem Entwurf, als dessen wichtigste Botschaft sie jene Passage in der Präambel betrachten, in der die Provinz Kosovo und Metohien als integraler Bestandteil Serbiens festgeschrieben wird. Damit die neue Verfassung in Kraft treten kann, muss sie von mindestens der Hälfte der 6,4 Millionen registrierten Wahlberechtigten angenommen werden. Das Belgrader Zentrum für freie Wahlen und Demokratie erwartet jüngsten Meinungsumfragen zufolge, dass sich rund vier Millionen Wahlberechtigte beteiligen. Da über 90 Prozent derer, die ihre Stimme abgeben wollen, den vorliegenden Text billigen, würde das für eine Annahme ausreichen.

Auch in Kosovo sollen 265 Wahllokale öffnen, allerdings werden wohl nur die dort verbliebenen Serben die Möglichkeit zur Abstimmung wahrnehmen. Die Kosovo-Albaner werden dem Referendum wie allen serbischen Wahlen seit Jahren fernbleiben. Da sie sämtliche serbischen Institutionen boykottieren, sind sie auch in den Wahlregistern nicht eingetragen.

In Serbien (ohne Kosovo) leben rund 7,5 Millionen Menschen. Die Bevölkerungszahl in Kosovo, das seit dem NATO-Krieg 1999 von der UNO verwaltet wird, schätzt man auf 1,9 Millionen. Davon sind rund 90 Prozent ethnische Albaner und 6 Prozent Serben. Von 250 000 nach dem Krieg 1999 aus Kosovo vertriebenen oder geflohenen Nicht-Albanern sind bisher nur gut 15 000 zurückgekehrt.

ND



* Aus: Neues Deutschland, 28. Oktober 2006


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