"Kein anderes Volk wurde so dämonisiert"
Nach Mladic-Verhaftung braucht Serbien nur noch die letzte EU-Bedingung zu erfüllen: Anerkennung des Kosovo. Ein Gespräch mit Vladimir Krsljanin *
Vladimir Krsljanin war außenpolitischer Berater des früheren Regierungschefs von Serbien, Slobodan Milosevic. Er ist Mitbegründer der Organisation Pokret za Srbiju (Bewegung für Serbien).
jW: Vergangene Woche wurde in Serbien Exgeneral Ratko Mladic verhaftet, der während des bosnischen Bürgerkrieges Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Streitkräfte war. Tausende Serben protestierten am Sonntag in Belgrad gegen seine Festnahme– waren es wirklich »Hooligans«, wie es in deutschen Medien hieß?
Krsljanin: Dem Aufruf der Serbischen Radikalen Partei (SRS) sind etwa 20000 Menschen gefolgt: Alte, Junge, Menschen aus allen Teilen Serbiens. Natürlich gab es am Rande des Geschehens auch Hooligans, die mit ziemlicher Sicherheit von »Agents provocateurs« angeheizt worden waren. Weltweit verbreitet wurden von den TV-Sendern aber nur Szenen, die den Protest diskreditieren. Worum es tatsächlich ging, wurde verschwiegen.
Von einem soliden Bericht über das Geschehen will man zum Beispiel etwas über den Inhalt der Redebeiträge erfahren, die auf der Kundgebung gehalten wurden. Das Publikum im westlichen Ausland wäre vielleicht nachdenklich geworden, denn darin wurde die NATO-Version über den Jugoslawien-Krieg widerlegt. Die Bösewichte im Bürgerkrieg waren bekannterweise ausschließlich die Serben, denen Kroaten, bosnische Muslime und Kosovo-Albaner zum Opfer fielen. Diese Darstellung ist aber nichts anderes als Propaganda– richtig ist doch, daß es die NATO war, die die ganze Zeit über diesen Krieg angeheizt hat. Die Serben mußten teuer dafür bezahlen, daß sie sich der Zerschlagung Jugoslawiens widersetzt haben. In Europa wurde kein anderes Volk so dämonisiert.
Mladic gilt als Kriegsverbrecher. Wegen der Ermordung von 8000 bosnischen Muslimen in Srebrenica sollte er spätestens am heutigen Mittwoch an das UN-Tribunal in Den Haag ausgeliefert werden. Sind die Vorwürfe nur NATO-Propaganda?
In den vergangenen Jahren haben sich viele Arbeiten – auch in deutscher Sprache – mit der Beweislage befaßt. Die Darstellungen weisen aber zahlreiche Widersprüche und weiße Flecken auf. Ich möchte auch daran erinnern, daß der frühere US-Präsident William Clinton schon Jahre vor diesen Ereignissen der bosnisch-muslimischen Kriegspartei signalisiert hatte, daß ein Massenmord wie in Srebrenica der NATO den Anlaß für einen Angriff auf Serbien geben könnte.
In Serbien glaubt kein Mensch, daß Mladic ein solches Massaker angeordnet hat. Er genießt hohes Ansehen und gilt als vorbildlicher Soldat. Viele ausländische Offiziere, die mit der UNO in Bosnien stationiert waren, haben seine militärischen Fähigkeiten und seine aufrechte Haltung gelobt. Er gehört zur alten Schule – von seinen Soldaten hat er zum Beispiel immer wieder die Einhaltung der Genfer Konvention gefordert.
In den 15 Jahren, die er untergetaucht in Serbien lebte, ist seine Bedeutung für die Bevölkerung sogar noch gewachsen. Für die vom Westen immer neu gedemütigten Serben war es eine Genugtuung, daß die NATO es nicht schaffte, den größten aller lebenden Serben vor ihr Tribunal zu bekommen. Es wurde auch immer wieder davor gewarnt, daß seine Verhaftung Massenunruhen auslösen könnte.
Es gibt Spekulationen, daß es kein Zufall war, daß Mladic gerade jetzt festgenommen wurde. Was denken Sie?
Es mußte erst sichergestellt werden, daß seine Verhaftung ohne einen Aufstand der Massen vor sich gehen konnte. Dazu wurden Jugendorganisationen dämonisiert und mit Verbot bedroht, Protestierende durch massenhafte Festnahmen eingeschüchtert.
Und schließlich gelang es, die SRS als einzige Partei, die einen Aufstand hätte anführen können, enorm zu schwächen. Vor ihrer Spaltung im Jahre 2008 war sie die stärkste Partei Serbiens und die einzige echte Opposition. Bis dahin wäre eine Verhaftung undenkbar gewesen.
Welche Folgen hat die Festnahme für Serbien?
Die Europäische Union (EU) hatte immer neue Bedingungen für einen Beitritt Serbiens formuliert, was letztlich zur Stärkung des russischen Einflusses führte. Jetzt, nach der Verhaftung, ist der Weg für eine stärkere Integration in die EU frei. Die Regierung in Belgrad wird nun wahrscheinlich auch noch die letzte Forderung erfüllen, nämlich die Anerkennung der südserbischen Provinz Kosovo als eigener Staat.
Interview: Cathrin Schütz
* Aus: junge Welt, 1. Juni 2011
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