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Kosovo-Formel wird ein Präzedenzfall sein

Interview mit Russlands UN-Botschafter Vitali Tschurkin über die weiteren Pläne Moskaus zur Lösung des Kosovo-Problems

Der New Yorker RIA-Novosti-Korrespondent Dmitri Gornostajew führte im Autrag von "Kommersant" ein Interview mit Russlands UN-Botschafter Vitali Tschurkin über die weiteren Pläne Moskaus nach der gescheiterten Sitzung des UN-Sicherheitsrats zum Kosovo-Status am 19. Dezember (siehe: Bricht die UNO das Völkerrecht?). Das Interview wurde von der Russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti verbreitet.



Frage: Der US-amerikanische UN-Botschafter erklärte, er habe Sie zum letzten Mal aufgefordert, über die Möglichkeit des Einverständnisses mit dem Ahtisaari-Plan nachzudenken. Das klang wie ein Ultimatum.

Tschurkin: Ich habe das nicht als Ultimatum empfunden. Eher war das eine rhetorische Frage, wobei die Antwort darauf im Voraus bekannt ist. Der Ahtisaari-Plan wurde von Belgrad bereits im Frühjahr abgelehnt, deshalb gibt es hier keinen Stoff zum Nachdenken.

Frage: Worin besteht das Wesen der von der Russischen Föderation vorgeschlagenen "Straßenkarte" für das Kosovo?

Tschurkin: Die "Straßenkarte" könnte ein zusätzlicher Stimulus für die Fortsetzung des Verhandlungsprozesses sein. Ein solches Dokument muss auf der Grundlage der Resolution 1244, der Völkerrechtsnormen und der UNO-Charta ausgearbeitet werden, und das gäbe die Möglichkeit, einerseits die Interessen der Seiten und die Prioritäten der internationalen Aspekte der Kosovo-Regulierung zu berücksichtigen und andererseits die Marksteine für die Bewegung der Seiten zur Einigung zu setzen, darunter auf den Wegen ihrer gemeinsamen europäischen Integrationsperspektive. Die Verhandlungen zwischen Belgrad und Pristina müssen fortgesetzt werden. Wir stehen für die Erörterung ihres Formats offen.

Frage: Wie wird Russland weiter handeln?

Tschurkin: In nächster Zeit muss die Taktik der weiteren Handlungen durchdacht werden. Das Kosovo-Thema kann im Sicherheitsrat bereits im Januar 2008 wieder aufkommen, da der turnusmäßige Bericht der UNO-Mission im Kosovo erörtert werden soll

Von wem das Kosovo abhängig war – historischer Abriss

Das Territorium des gegenwärtigen Kosovo war ab dem Jahr 1217 Teil des Königreiches Serbien. Im Jahre 1389 musste die Armee, der Serben, Bosnier, Kroaten und Albaner angehörten, eine Niederlage durch die Türken auf dem Kosovo-Feld hinnehmen. Serbien wurde dem Osmanischen Reich einverleibt und die Schlacht vom Kosovo wurde zum Inbegriff der Vereinigung der christlichen Balkan-Völker. Im Jahre 1913, nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Balkankrieg, wurde das Kosovo zwischen Montenegro und Serbien aufgeteilt. Im Jahre 1918 wurde die Region dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien) angeschlossen.

Im Zweiten Weltkrieg hat Italien das Kosovo besetzt. Laut serbischen Quellen wurden zu dieser Zeit bis zu 100 000 Albaner, die die italienischen Faschisten unterstützt hatten, aus Albanien hierher übergesiedelt. Im Jahre 1945 erhielt das Kosovo den Status einer Autonomie auf dem Territorium von Serbien, das der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien angehörte. Im Jahre 1989 führte der Staatschef von Serbien, Slobodan Milosevic, eine Verfassungsreform durch, in deren Folge die Region die Elemente ihrer Staatlichkeit eingebüßt hat. Als Antwort darauf proklamierten die Albaner im Jahre 1991 die Republik Kosovo. Im Jahre 1992 wurde Ibrahim Rugova zu ihrem Präsidenten gewählt.

Mitte der 90er Jahre kam es zu Zusammenstößen zwischen der serbischen Armee und Polizei und der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK). 1999 forderten die Nato-Länder, die von einer „humanitären Katastrophe" sprachen, ein Militärkontingent in die Region zu entsenden. Slobodan Milosevic wurde von der UNO wegen Kriegsverbrechen beschuldigt und die Nato-Truppen begannen am 24. März 1999 mit Bombenangriffen auf jugoslawisches Territorium. Serbien erklärte sich am 10. Juni bereit, seine Truppen aus dem Kosovo abzuziehen, und die KFOR-Kräfte - eine unter der Schirmherrschaft der Nato stehende multinationale Friedenstruppe - wurden auf das Territorium des Kosovo entsandt. Doch als erste rückten russische Fallschirmjäger-Einheiten im Kosovo ein, sie hatten von Bosnien aus „einen Marsch nach Pristina" unternommen (im Jahre 2003 verließen die russischen Friedenseinheiten die Region). Zur gleichen Zeit wurden unter Vermittlung der UNO Verhandlungen über den Status der Region aufgenommen.

Aus: RIA Novosti, 21. Dezember 2007



Frage: Unter Berufung auf die Meinung gewisser europäischer und amerikanischer Juristen sagte der US-amerikanische UN-Botschafter, die Resolution 1244 behindere die Unabhängigkeit des Kosovo nicht. Stimmt das?

Tschurkin: Eine solche Behauptung ist absolut inkorrekt. Das ist eine Logik nach Orwell, bei der Schwarz als Weiß ausgegeben wird. Die Resolution 1244 stellt die internationale Kontrolle über das Kosovo bis zur Erarbeitung eines Beschlusses über den künftigen Status des Gebietes her. Beim Fehlen eines solchen Beschlusses aber behindert die Resolution die Unabhängigkeit des Kosovo ganz eindeutig. Hier braucht man nicht einmal Schiedsrichter zu befragen. Wenn Pristina die Unabhängigkeit dennoch einseitig ausruft, muss die UNO-Leitung diesen Beschluss für nichtig erklären und von Pristina seine Aufhebung verlangen.

Frage: Ihre Opponenten appellieren an die Willensäußerung des Volkes des Kosovo, wenn sie von der Unterstützung der Unabhängigkeit sprechen. Inwiefern ist dieses Argument vom Rechtsstandpunkt aus am Platze?

Tschurkin: Gegenwärtig geht es um den künftigen Status der historischen Provinz Serbien, einer Provinz, in der übrigens vor erst einem halben Jahrhundert das Verhältnis zwischen der serbischen und der albanischen Bevölkerung ungefähr gleich war. Die Analyse dessen, warum sich die Lage so drastisch verändert hat, liefert den Schlüssel zu einer objektiven und keiner politisch engagierten Auffassung von der Geschichte des Gebietes, einer Auffassung, die besonders unsere angelsächsischen Kollegen gern vorschieben. Außerdem muss der Begriff "Wille des Volkes des Kosovo" per Definition die Meinung sowohl der albanischen als auch der serbischen Bevölkerung in Betracht ziehen. In Wirklichkeit kommt es so heraus, dass die Interessen der Serben in Vergessenheit geraten.
Das bedeutet, dass die Losung des Aufbaus einer polyethnischen Gesellschaft in der Praxis in ihr Gegenteil umschlagen wird. Denken wir an das deprimierende Bild der Enklaven und rechtgläubigen Heiligtümer, die hinter Stacheldraht bleiben, oder an das Problem der Rückkehr der Flüchtlinge, vor allem der serbischen Flüchtlinge, in das Gebiet - ein Problem, das von niemandem gelöst wird. Wo gibt es die Voraussetzungen dafür, dort die demokratische Gesellschaft wieder aufzubauen?

Frage: Wie sehen Russlands juristische Argumente gegen die einseitige Erklärung der Unabhängigkeit des Kosovo aus?

Tschurkin: Der Sicherheitsrat hat in der Resolution 1244 die Treue aller Mitgliedsstaaten zur Souveränität und territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien (und heute Serbiens als ihres Rechtsnachfolgers) genau fixiert. Bekanntlich lässt die Schlussakte von Helsinki eine Änderung von Staatsgrenzen zu, aber nur mit politischen Mitteln und nur mit Zustimmung der Seiten. Im gegebenen Fall ist die eine Seite - Belgrad - ganz offenkundig gegen eine solche Lösung. Mehr noch, erst am 21. November hat der Sicherheitsrat in der Resolution 1785 die Treue zu einer politischen Konfliktregelung im ehemaligen Jugoslawien, zur Erhaltung der Souveränität und territorialen Integrität aller dort liegenden Staaten innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen erneut einmütig bekräftigt.
Es kann noch so viel über die "Einzigartigkeit" des Falls Kosovo geredet werden, in Wirklichkeit geschieht das lediglich zur Selbstberuhigung der Menschen, die die Ideen der einseitigen Beschlüsse durchdrücken wollen. Der Verzicht auf einen Dialog im Kosovo gäbe dem Separatismus in den verschiedensten Teilen der Welt einen mächtigen Impuls. Die auf diese Weise ausgelöste gefährliche Kettenreaktion kann früher oder später jede Region, jedes Land berühren, wo noch Probleme des Separatismus und der ethnisch-konfessionellen Konflikte bestehen, und sei es nur latent. Die Status-Formel für das Gebiet wird in jedem Fall den Charakter eines Präzedenzfalls haben. Nur eine durch Verhandlungen erzielte Entscheidung darf durch den Sicherheitsrat unterstützt werden.

Frage: Der Westen wirft Russland die Verzögerung des Prozesses vor und behauptet, dass deshalb der Entwicklung des Kosovo Schaden zugefügt werde und dass nur die Unabhängigkeit eine Chance für das Gebiet wäre.

Tschurkin: Ja, es wird von der Unannehmbarkeit eines Status quo gesprochen. Dagegen lässt sich schwer etwas einwenden. Aber ist eine widerspruchslose Annahme einer nicht auf dem Recht basierenden Formel durch die Weltgemeinschaft, einer Formel, die eine der Seiten apodiktisch aufzwingt, denn die einzige Möglichkeit voranzukommen? Es heißt, die Verhandlungen würden viel zu lange dauern. Aber das Status-Thema wurde ja ernsthaft nur unter der Ägide der "Troika", das heißt nur 120 Tage lang, erörtert. Welch ein Chaos würde in der Welt herrschen, wenn die Weltgemeinschaft bei Konfliktsituationen schon nach vier Monaten das Interesse für die Suche nach Lösungen verlieren würde! Hier aber ist es so, dass in den einen Fällen - wenn die Rede von den eigenen Lebensinteressen oder den Interessen der strategischen Verbündeten ist - trotz des Untergangs und der Leiden von Tausenden Menschen jahrzehntelang verhandelt, in anderen dagegen Ungeduld gezeigt werden darf.

Frage: Glauben Sie daran, dass sich die Serben und die Albaner einigen werden?

Tschurkin: Der Bericht der "Troika" zeugt ausdrücklich davon, dass der Verhandlungsprozess unter ihrer Schirmherrschaft zwar nicht mit einem konkreten Ergebnis gekrönt wurde, jedoch eine solide Basis für weitere Verhandlungen der Seiten geschaffen hat, und diese allein sind berechtigt, sich über das Schicksal des Kosovo zu einigen. Erstmals seit 1999 ist zwischen Belgrad und Pristina ein beständiger Dialog auf hoher Ebene in Gang gebracht worden, die Seiten haben den Weg der Überwindung der Entfremdung betreten, und die Verhandlungen selbst sind zu einem ernsten Faktor geworden, der auf die Stabilität im Gebiet und in der Region hinwirkt. Die Ergebnisse wären noch beeindruckender gewesen, wenn Pristina nicht fortwährend durch Versprechungen einer baldigen Unabhängigkeit von den Verhandlungen abgelenkt worden wäre. Es ist unsere feste Überzeugung, dass der Weg zu einer Lösung nach wie vor existiert. Wie im Bericht der "Troika" zu Recht betont wird, werden Belgrad und Pristina auch weiter miteinander fest verbunden sein: kraft des besonderen Charakters ihrer Beziehungen, vor allem aufgrund von deren historischen, gesamtmenschlichen, geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten. Am wichtigsten aber ist, dass es die "Troika" verstanden hat, den Bereich der grundsätzlichen Differenzen zwischen Belgrad und Pristina faktisch auf nur ein grundlegendes Problem - das der Souveränität - zu reduzieren.

Frage: Eine akute Frage ist zur Zeit die Entsendung einer EU-Mission ins Kosovo. Wird Russland dagegen auftreten?

Tschurkin: Das Streben der EU nach der Erhöhung ihres Beitrags zur Lösung des Kosovo-Problems ist verständlich. Aber ein solcher Beitrag muss im vollen Einklang mit dem Völkerrecht gestaltet werden. Ich meine auch die bedingungslose Forderung nach der Notwendigkeit eines entsprechenden Beschlusses des UN-Sicherheitsrates für die Entfaltung einer EU-Mission im Gebiet.
Wir erwarten, dass sich die von der NATO geführten Kräfte für das Kosovo (KFOR) ebenso wie auch die UNO-Mission weiterhin strikt an ihr Mandat halten werden, wie das in der Resolution 1244 fixiert ist. Diese Resolution muss in vollem Umfang erfüllt werden, man darf aus ihr nicht einzelne Komponenten herausreißen. Die Kosovo-Regulierung kann nicht außerhalb des Rahmens des Sicherheitsrates geschehen, denn er ist das Hauptorgan der UNO, das für die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit verantwortlich ist. Wie auch immer geartete Handlungen, die die Autorität der UNO in Frage stellen würden, sind unzulässig.

Quelle: „Kommersant" vom 21.12.07

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 21. Dezember 2007


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