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"An der Unabhängigkeit des Kosovo führt kein Weg mehr vorbei"

Die Welt schaut gebannt auf einen sich scheinbar unaufhaltsam anbahnenden Völkerrechtsbruch

Mit dem Wahlsieg von Hashim Thaci sind die Weichen endgültig auf die Sezession der serbischen Provinz Kosovo gestellt. Diese Entwicklung hinterlässt im Blätterwald auch dort zwiespältige Gefühle, wo die staatliche Unabhängigkeit im Grundatz befürwortet wird. Zu groß sind die politischen Gefahren, die mit einem solchen Präzedenzfall heraufbeschworen würden.
Im Folgenden dokumentieren wir verschiedene Pressestimmen von Meldungen, die alle am 19. November 2007 veröffentlicht wurden, zwei Tage nach der Wahl im Kosovo.



Ein neuer König und viele Falstaffs

VON NORBERT MAPPES-NIEDIEK (Auszug) (...)
Nicht der Extremismus ist im Kosovo nach vorn gerückt, sondern eine neue Generation - eine, die die steifen und inhaltsleeren Bekundungen der ex-kommunistischen Machtelite satt hat. Aber das Ergebnis als Triumph einer stabilen Demokratie zu deuten, wie westlichen Diplomaten es tun, wäre verfrüht. Eine Demokratie ist das Kosovo ganz und gar nicht. Die Macht geht nicht vom Volke, sondern von internationalen Diplomaten aus. Die Wahlen ahmen demokratische Mittel der Machtverteilung nur nach. Weil sie die reale Diktatur des Auslands verschleiern, tragen sie auch nicht dazu bei, die Demokratie populär zu machen. Für die Beamten ist immer alles "alternativlos" und "von der Sache her geboten". Für Verantwortung, für Ideen, Umbrüche, produktive Krisen, für eigene außenpolitische Initiativen und für wirkliche Versöhnung lässt die erstickende Herrschaft der Bürokraten keinen Platz. Die "internationale Gemeinschaft", die in Gestalt von Beamten aus vielen Ländern das Zepter führt, ist nicht so altruistisch, wie sie tut. Diese Szene hat massive Eigeninteressen, und sei es nur die Verlängerung ihrer Verträge und Projekte.

Die Parteien der Kosovo-Albaner sind nicht mehr als eine Art Übungsfirmen. Alles, was sie tun können, ist ein paar Pfründen zu verteilen. Sie haben allesamt noch kein Profil und lassen kaum erkennen, wie sie das Land, das sie "befreien" möchten, nachher regieren wollen.
(...)

Auszug aus Frankfurter Rundschau, 19. November 2007


Kosovo-Wahl: Thacis Zukunft

von Andrej Ivanji

(...) Die geringe Wahlbeteiligung zeugt von der Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit vieler, die sich ein besseres Leben in einem souveränen Kosovo nach dem Ende der serbischen Präsenz vor mehr als acht Jahren erwartet haben.

Nichts ist daraus geworden. Und Hashim Thaci soll das nun ändern. Der Mann, der in den Wäldern den bewaffneten Aufstand gegen die serbische Staatsmacht organisierte und in einem Jahr das schaffte, was der Pazifist Ibrahim Rugova nicht in einem Jahrzehnt vollbringen konnte: Den Kosovo de facto von Serbien zu trennen. (...)

Die wirtschaftliche Depression wird in absehbarer Zeit keine Regierung im Kosovo überwinden können. Was Thaci bleibt, ist seinen Landsleuten rasch die Genugtuung der lang ersehnten Unabhängigkeit zu bereiten. Das muss und wird er tun, damit sich der Unmut der Kosovaren nicht gegen ihn wendet. Auch wenn diese Unabhängigkeit von Kosovo-Serben, Serbien, Russland, China, einigen EU-Staaten und wegen Moskaus Veto vom UN-Sicherheitsrat nicht anerkannt werden wird. Und einen Versuch der Spaltung des von Serben bewohnten Nordens, was nur all zu leicht zu bewaffneten Auseinandersetzungen führen könnte, wird Thaci in Kauf nehmen müssen.

Auszug aus: DER STANDARD, Printausgabe, 19. November 2007


Wenn Wahlsieger eine blühende Zukunft versprechen, ist stets Vorsicht geboten. Das gilt besonders für Kosovo. Wunder kann in der südserbischen Provinz kein Politiker bewirken. Auch der frühere 'Freiheitskämpfer' Hashim Thaci nicht, der jetzt vollmundig von einem Neuanfang spricht. Zu oft wurden in dem UN-Protektorat die Hoffnungen auf ein besseres Leben enttäuscht und die Menschen mit hohlen Phrasen vertröstet. Deshalb blieb über die Hälfte der Wähler zu Hause. Die seit acht Jahren andauernde Ungewissheit über die Zukunft der Provinz und die Herrschaft einer korrupten kosovo-albanischen Pseudoelite haben die Bevölkerung gelähmt.
Dass die Paten der Demokratie - UN, NATO und EU - die Missstände weitgehend tolerieren, um die politische Stabilität nicht zu gefährden, macht die Krise nur noch schlimmer. Dennoch besteht eine leise Hoffnung, dass Thaci aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Eine Wende zum Besseren kann Thaci aber nur erreichen, wenn die Europäische Union eine schnelle Lösung der Statusfrage durchsetzt und danach mit ihrer geplanten Mission die Kontrolle über die Provinz übernimmt.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 19. November 2007


Der Fall Kosovo

Von Detlef D. Pries

Hashim Thaci wurde 1997 von einem serbischen Gericht wegen Terrorismus und Mordbeteiligung zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Vier Jahre zuvor hatte er zu den Gründern der »Befreiungsarmee« UCK gehört, die damals auch im Westen noch als terroristische Vereinigung galt. Derselbe Thaci will Kosovo nun als Regierungschef in die Unabhängigkeit führen. »Wir vertrauen dem Westen«, verkündete er nach seinem Wahlsieg.

Das Vertrauen ist nicht unbegründet. Nachdem die NATO 1999 im Krieg gegen Jugoslawien faktisch als Luftwaffe der UCK agiert hatte, unternahmen die westlichen Übergangsverwalter Kosovos in den vergangenen acht Jahren nichts, was die Sezessionsbestrebungen der Kosovo-Albaner hätte bremsen können. Und dies entgegen der UNO-Resolution 1244, die Serbiens territoriale Souveränität bekräftigte, und entgegen dem Völkerrecht, das eine Abspaltung nur zuließe, wenn Kosovo berechtigte Autonomieforderungen verweigert würden. Das ist aber nicht der Fall: Belgrad ist zu weitestgehenden Zugeständnissen bereit. Einzig die Kosovo-Albaner lehnen jegliches Autonomiemodell ab.

Thacis westliche »Vertraute« suchen noch nach einer Finte, den Völkerrechtsbruch zu verschleiern. Notfalls werden sie sich auf die »normative Kraft des Faktischen« berufen und eine einseitige Unabhängigkeitserklärung anerkennen – ungeachtet gefährlicher Konsequenzen für offene und schwelende Konflikte auf dem Balkan wie in anderen Regionen.

Aus: Neues Deutschland, 19. November 2007


Die Wahl war nur das Vorspiel. Dass sie ohne Zwischenfälle ablief, hat weder in Washington oder Berlin noch im Kosovo jemanden aufatmen lassen. Der Stichtag für die Zukunft des Kosovo ist der 10. Dezember - wenn die von der sogenannten Kosovo-Troika geführten Verhandlungen zwischen Belgrad und Pristina enden. Hoffnung auf eine Einigung gibt es praktisch nicht mehr. (...) Die fragile Machtbalance zwischen Washington und Russland, von der die Lösung wichtiger internationaler Konflikte abhängt, geriete in Gefahr.

Russland steht an der Seite Serbiens und hat sich klar gegen eine Abspaltung des Kosovo ausgesprochen. George W. Bush hingegen hatte den Kosovaren noch im Sommer faktisch zugesagt, die Unabhängigkeit anzuerkennen. Er riskiert damit indes, dass sich Russland im Atomstreit mit dem Iran quer stellt. Einen solch hohen Preis will Washington nicht zahlen. Daher versucht die US-Regierung seit Wochen, ihren Einfluss in Pristina geltend zu machen.

Die Kosovaren sollen die Unabhängigkeit zurückstellen und zunächst eine maximale Autonomie erhalten. (...) Die meisten EU-Staaten, auch Deutschland, könnten angesichts der jüngeren Vergangenheit auf dem Balkan kaum umhin, ein unabhängiges Kosovo anzuerkennen. Doch einige Mitglieder haben selbst ein Minderheitenproblem und werden nicht mitziehen. Das Völkerrecht, das hat Belgrad auf seiner Seite. Ein solcher Präzedenzfall gefährdet die Glaubwürdigkeit Europas.

Aus: Tagesspiegel, 19. November 2007


Politische Müdigkeit

Von Jürgen Elsässer

Das wichtigste Ergebnis der Wahlen im Kosovo ist die außerordentlich schwache Beteiligung. Weniger als die Hälfte, höchstwahrscheinlich sogar weniger als 40 Prozent der Stimmberechtigten gingen am Sonnabend an die Urnen – das ist der niedrigste Wert, seitdem die serbische Provinz im Sommer 1999 unter UN-Verwaltung geriet. Die politische Müdigkeit ist bemerkenswert, da die Führer aller Parteien die Ausrufung der Unabhängigkeit angekündigt und sogar ein konkretes Datum genannt haben: Gleich nach dem 10. Dezember, wenn die aktuellen Verhandlungen um den künftigen völkerrechtlichen Status enden werden, soll es soweit sein. Offensichtlich ist den meisten Leuten im Kosovo ziemlich schnuppe, wer diesen famosen neuen Staat regieren soll. Das kann zwei Gründe haben: Entweder sie ahnen, daß die bloß formale Umetikettierung ihres Territoriums – von der serbischen Provinz zur eigenen Republik – an Arbeitslosigkeit und Elend nichts ändern würde. Oder sie halten alle politischen Parteien für unterschiedliche Kostümierungen der Mafia und wollten ihre generelle Ablehnung des Gangsterwesens bekunden. In beidem lägen sie richtig.

Nichts zu tun hat die niedrige Wahlbeteiligung mit dem erneuten Boykott der Serben – deren Zahl ist zu niedrig, um die Quote zu beeinflussen. Weniger als 100000 leben von ihnen heute noch auf dem Amselfeld – mehr als 200000 wurden unter den Augen der NATO-geführten Besatzungsmacht KFOR in den letzten acht Jahren vertrieben. Von den 5000 wahlberechtigten Serben im Zentralkosovo blieben 97 Prozent zu Hause. Von den 40 000 im Nordkosovo, vor allem in der Hochburg Nord-Mitrovica, gingen nur fünf – nicht fünf Prozent, sondern fünf Personen! – an die Wahlurne. Diese Region hat angekündigt, sich im Falle der Gründung eines Albanerstaates Kosova von diesem abspalten und mit Serbien vereinigen zu wollen.

Zu den Ergebnissen im einzelnen: Die PDK (Demokratische Partei) des früheren Chefs der Terrorbewegung UCK, Hashim Thaci, wurde mit 35 Prozent erstmals stärkste Kraft. Auf Platz zwei fiel die bisher führende LDK (Demokratische Liga) des verstorbenen Präsidenten Ibrahim Rugova mit 22 Prozent zurück. Rang drei eroberte die neugegründete Partei des Behgjet Pacolli mit elf Prozent. Der Bauunternehmer mit Schweizer Paß war in den neunziger Jahren in die Bestechung des Jelzin-Clans verwickelt. Die Partei des ehemaligen Parlamentspräsidenten Nexhad Daci, eine Abspaltung der LDK, kam auf zehn Prozent, ebenso wie die Allianz für das Kosovo AAK. Die vom Verleger Veton Surroi geführte ORA-Partei, Favorit von Joseph Fischer, George Soros und anderen Rosenrevolutionären, scheiterte an der Fünfprozenthürde.

Wie sehr die NATO-Mächte albanische Verbrecher hätscheln, zeigt die Kandidatenliste der AAK. Sie wird angeführt von Ramush Haradinaj, der sich derzeit vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal verantworten muß. Wenn eine serbische Partei sich so etwas erlauben würde, würde der Westen mit Sanktionen drohen.

Aus: junge Welt, 19. November 2007


Ausgerechnet Hashim Thaci ist es also, der im Dezember die Unabhängigkeit des Kosovo ausrufen wird. Das enthält eine gehörige Portion historischer Ironie, denn Thaci ist nicht nur der neue starke Mann der (noch-)serbischen Provinz. Er war als Anführer der UCK-Guerilla auch der Gegenspieler des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic. Und schließlich hat Thaci sowohl Geschichte wie Völkerrecht studiert, weiß also sehr wohl, welche Sprengkraft eine einseitige Unabhängigkeitserklärung hat.

Dennoch führt daran kein Weg mehr vorbei. Und wahrscheinlich ist die Zeit dafür jetzt einfach reif. Formal gilt es, noch den 10. Dezember abzuwarten, wenn die Frist der internationalen Vermittler für eine einvernehmliche Lösung ausläuft. Seit zwei Jahren versuchen EU, USA und Russland eine Formel zu finden, mit der sowohl Albaner wie Serben, der Westen und Russland leben könnten - ein aussichtsloses Unterfangen. Aus: Handelsblatt, 19. November 2007


Die UN-Verwaltung hat sich als kostspieliges und ineffektives Provisorium erwiesen, in das Milliarden flossen, ohne sichtbaren Nutzen. Vom Profit der hoch bezahlten UN-Emissäre einmal abgesehen. Die Wirtschaft hat keinen Schritt nach vorne gemacht, Investoren schlagen um das merkwürdige Konstrukt einen weiten Bogen, weil ihnen die ungelöste Statusfrage keine Planungssicherheit gibt.

Belgrad wiederum instrumentalisiert die Kosovo-Serben im Kampf um längst verlorenes Territorium, die Politikerkaste der Kosovo-Albaner füllt sich die Taschen, während Armut und Arbeitslosigkeit den Alltag ihrer Landsleute bestimmen. Die näher rückende, vom Westen unterstützte Unabhängigkeit wird diese Probleme nicht über Nacht lösen. Aber zumindest können sich Thaci & Co., wenn sie denn kommt, nicht mehr hinter der Ausrede verstecken, alles Übel hänge mit der fehlenden Souveränität zusammen."

Aus: Stuttgarter Zeitung, 19. November 2007


Der Wahlausgang im Kosovo lässt keine Zweifel übrig. Mit dem früheren Rebellenchef Thaci als Premier dürfte die von Serbien wegstrebende Provinz noch entschiedener auf die Verwirklichung der vom Westen mehrmals zugesicherten Eigenstaatlichkeit drängen. Doch die niedrige Wahlbeteiligung sollte dem neuen starken Mann in Pristina eine Warnung sein: Mit vollmundigen Versprechungen und der Verheißung der immer wieder neu in Aussicht gestellten Unabhängigkeit lassen sich seine politikmüden Landsleute kaum mehr abspeisen. Acht Jahre sind seit dem Kosovo-Krieg vergangen. Doch ob Kosovo-Albaner oder Serben: Von der Hoffnung auf bessere Zeiten wollen und können die Bewohner der zerrissenen Provinz nicht länger leben.

Aus: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 19. November 2007


Die Abspaltung Kosovos wird für Serbien auf Jahre hinaus der Stachel im Fleisch sein, der das nationalistische Fieber immer wieder ausbrechen lässt. Für Pristina wird die Sezession Nord-Kosovos zum Hauptthema, das vom Reformbedarf im Innern ablenkt. (...) Die Wahl von Thaci, dem Ex-Guerillaführer, gäbe dem Westen die Chance, in letzter Minute einen Formelkompromiss durchzusetzen, der Kosovos legitimes Selbstbestimmungsrecht mit einer inhaltlich und zeitlich begrenzten Garantie von Serbiens territorialer Integrität verbände. Die Vorzüge einer auch nur oberflächlich konsensuellen Lösung für die Entwicklung der Region sind immens. Dies für Kosovo akzeptabel zu machen kann nur eine starke Figur wie Thaci, dessen Reputation als Freiheitskämpfer unangefochten ist.

Aus: Basler Zeitung, 19. November 2007


The path to independence for Kosovo was never going to be smooth. The small Serbian population needs real guarantees that their rights will be protected; even then, their sense of grievance will run deep. For Serbs, parts of Kosovo have profound religious and cultural significance; more Serbs will probably leave. If, as is likely, Serbia refuses to recognise an independent Kosovo, and if – as is also likely – Russia vetoes recognition at the UN, Kosovo will be in a diplomatic limbo.

In this event, nothing can be ruled out, including resort to arms by disillusioned Albanian Kosovans and irate Serbs. The flames of a new Balkan war could reignite latent conflicts further afield, destabilising the region as a whole. Unless we show greater awareness of these dangers now, Kosovo risks becoming a small country of which we get to know all too much.

Aus: The Independent (Leitartikel), 19. November 2007


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