Haager Richter enttäuschen Serbien
Unabhängigkeitserklärung Kosovos mit zehn gegen vier Stimmen für rechtens erkannt
Die Unabhängigkeitserklärung Kosovos verstößt nach Einschätzung des
Internationalen Gerichtshofs (IGH) nicht gegen internationales Recht.
»Die Erklärung vom 17. Februar 2008 hat das allgemeine internationale
Recht nicht verletzt«, sagte IGH-Präsident Hisashi Owada am Donnerstag
(22. Juli) bei der Verlesung eines nicht bindenden Rechtsgutachtens in
Den Haag.
Das wichtigste Rechtsorgan der Vereinten Nationen musste sich mit der
Unabhängigkeit Kosovos befassen, nachdem die UN-Vollversammlung im
Oktober 2008 auf Betreiben Serbiens beim IGH ein Gutachten dazu bestellt
hatte. Belgrad betrachtet Kosovo nach wie vor als als zu Serbien gehörig.
Die Erklärung des IGH war mit Spannung erwartet worden. Zwar ist sie
rechtlich nicht bindend, praktisch wurde bislang jedoch nur etwa eine
Handvoll der mittlerweile mehr als 90 Entscheidungen nicht befolgt.
Kurz vor Veröffentlichung des Gutachtens hatte Serbien vor einer
Stellungnahme zu Gunsten Pristinas gewarnt. »Keine Grenze in der Welt
und in der Region wäre sicher«, wenn das Gericht die Abspaltung Kosovos
unterstütze, sagte Außenminister Vuk Jeremic laut der Nachrichtenagentur
Tanjug. Nach Bekanntwerden des IGH-Gutachtens erklärte Jeremic: »Wir
werden niemals die Unabhängigkeit Kosovos anerkennen«, der
»diplomatische Kampf« gehe weiter.
Die USA hatten dagegen demonstrativ der Regierung in Pristina den Rücken
gestärkt. Vizepräsident Joe Biden bekräftigte nach einem Treffen mit
Kosovo-Regierungschef Hashim Thaci in Washington, die USA unterstützten
weiterhin »ein unabhängiges, demokratisches und multiethnisches Kosovo«.
Mit zehn gegen vier Richterstimmen erklärte das IGH denn auch, das
internationale Recht kenne kein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen.
Zudem habe der UN-Sonderbeauftragte für Kosovo, Finnlands Expräsident
Martti Ahtisaari, seinerzeit ausdrücklich die Unabhängigkeit Kosovos als
einzigen möglichen Weg empfohlen.
Experten hatten erwartetet, dass die Stellungnahme des wichtigsten
Rechtsorgans der UNO möglicherweise mehrdeutig ausfallen werde, weil die
Richter keinen Präzedenzfall schaffen wollten, der andere Minderheiten
veranlassen könnte, ebenfalls ihre Unabhängigkeit zu erklären und sich
abzuspalten. Während 69 Staaten, darunter die USA und 22 der
27-EU-Mitgliedstaaten, die Unabhängigkeit Kosovos bereits anerkannt
haben, betrachten gut 120 UNO-Mitglieder – darunter Russland und China
sowie die EU-Staaten Spanien, Griechenland, Zypern, Rumänien und
Slowakei – das Gebiet offiziell immer noch als serbische Provinz. Die
Region war nach Kämpfen zwischen der »Befreiungsarmee Kosovos« (UCK) und
der jugoslawischen Armee (1998-99) und nach NATO-Luftangriffen gegen
Jugoslawien unter UN-Verwaltung gestellt worden. Der Sicherheitsrat
hatte Kosovo in der Resolution 1244 jedoch nach wie vor als Teil der
damaligen Bundesrepublik Jugoslawien definiert. Im Februar 2008
erklärten sich die Albaner Kosovos, die nach Vertreibung und Flucht der
meisten serbischen Bewohner mehr als 90 Prozent der Bevölkerung
ausmachen, nach langen, unergiebigen Gesprächen unter durchaus nicht
unparteiischer Vermittlung einseitig für unabhängig.
* Aus: Neues Deutschland, 23. Juli 2010
Neuer Imperialismus
Von Sevim Dagdelen **
Schon vorab hatten insbesondere die USA und Deutschland deutlich
gemacht: Sie wollen unabhängig vom Gutachten des Internationalen
Gerichtshofs (IGH) zur Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung des
Kosovo mit ihrer Politik der Unterstützung der Sezession fortfahren. Vor
dem IGH waren 15 der Anerkennerstaaten aufgetreten, darunter neben den
USA auch Saudi-Arabien und Kroatien. Dagegen hatten u.a. China, Rußland,
Venezuela, Bolivien, Spanien und Zypern argumentiert. Die Liste
derjenigen, die den Separatismus des Kosovo bejahen, liest sich fast wie
eine Aufzählung der »Koalition der Willigen« des Irak-Krieges. Jetzt
werden die USA, aber auch Deutschland weiter Druck machen auf von ihnen
abhängige kleinere Staaten, um diesen Kreis zu erweitern.
Klar ist: Mit der Anerkennungspolitik wurden Völkerrecht, UN-Charta wie
auch die KSZE-Schlußakte von 1975 mit ihrer Festlegung, daß es keine
einseitige Veränderung von Grenzen geben dürfe, de facto außer Kraft
gesetzt. Der serbische Außenminister Vuk Jeremic hatte im Vorfeld des
Gutachtens zu Recht darauf hingewiesen, daß – sollte der IGH sich für
die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo verwenden – dies
weltweit zu einer Eskalation von Konflikten führen werde. Angesichts
dieses Szenarios war zu erwarten, daß der IGH ein uneindeutiges
Gutachten verfassen würde, um gleichsam eine Quadratur des Kreises zu
vollbringen: Sich gegen die Vorbildwirkung der einseitigen
Unabhängigkeitserklärung auszusprechen, aber gleichzeitig den USA und
Deutschland als Meinungsführern der Anerkennungsfront nicht zu sehr auf
die Füße zu treten.
Ersten Meldungen über das Gutachten zufolge kam es aber anders. Mit der
Maßgabe, daß die Unabhängigkeit des Kosovo kein Verstoß gegen
internationales Recht ist, haben die Richter eine neue Epoche
eingeläutet. Damit sind alle Schutzklauseln, die aufgrund der
Erfahrungen mit der aggressiven Außenpolitik des faschistischen
Deutschlands in die UN-Charta aufgenommen wurden, in Frage gestellt. Das
Gutachten bedeutet eine Stunde Null. Die Welt ist wieder auf das
Zeitalter des Imperialismus zurückgeworfen. Die wesentlichen Grundzüge
des Völkerrechts stehen zur Disposition. Man wird sich an diesen 22.
Juli 2010 noch erinnern. Er wird als Tag in die Geschichte eingehen, an
dem Interventionismus und Völkerrechtsbruch »Carte blanche« erteilt
wurden. Seit gestern gilt in der internationalen Politik nicht nur de
facto, sondern auch de jure das Recht des Stärkeren. Imperialistische
Interventions- und Anerkennungspolitik wurden vom IGH mit dem Stempel
»völkerrechtlich unbedenklich« versehen. Man muß aber davon ausgehen,
daß der IGH und die Staaten von den USA bis Deutschland einen Bumerang
geworfen haben, der sie eines Tages selbst treffen kann.
** Die Autorin ist Sprecherin für internationale Beziehungen der
Fraktion Die Linke und Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages
Aus: junge Welt, 23. Juli 2010 (Kommentar)
Dokumentiert:
THE INTERNATIONAL COURT OF JUSTICE ABDICATES RESPONSIBILITY WITH
RULING ON KOSOVO
Response by the Serbian Unity Congress
PRESS RELEASE, Washington, DC July 23, 2010
The Serbian Unity Congress considers yesterday’s ruling of the
International Court of Justice an abdication of its legal and moral
responsibility that will result in consequences much greater than the
messy political backlash it was meant to avoid.
Kosovo-like secessionist movements abound in today’s world and are
powder kegs waiting to explode. More are sure to come in the 21st
century. The quintessential issue at the heart of these potentially
bloody outcomes contested by the parties in this conflict is: does
unilateral ethnic secession from an existing sovereign entity violate
international law? International order of tomorrow depends on a clear
legal answer to that question that can guide the resolution of these
conflicts peacefully tomorrow.
It was incumbent upon the ICJ to seize the moment, address the crux of
this issue head on without consideration of international political
pressure and power politics of yesteryear. Its job is to provide the
legal interpretation and leadership as it is mandated to do that could
have preempted, diffused and allowed for legal and diplomatic resolution
of such conflicts in the future. It had to take into consideration the
Helsinki Accords and empower its principle that border changes between
states cannot be imposed but are acceptable if mutually agreed.
Moreover, as the highest United Nations court, the ICJ has in effect
contravened the UN Resolution 1244. It clearly provided that the future
status of Kosovo was to be decided by the Security Council.
Instead, the ICJ defaulted on its responsibilities by making a non-issue
an issue to rule on: whether a declaration of independence violates
international law. A ruling on this issue one way or another does not
answer the quintessential question that needed to be answered - whether
unilateral secession is illegal and whether it was done according to
Resolution 1244. But the fact that the world waited for a ruling for 1½
years awards this ruling with an undeserved legitimacy as an answer to
the question of legality of secession, which it is not. It is
irresponsible for the ICJ to have demeaned its role and legitimacy in
this way.
By ruling positively on a non-issue, the ICJ has now opened the
proverbial Pandora's Box. By avoiding what is needed and not forging new
legal guidelines for the international community of states and various
ethnic groupings to resolve disputes of this kind, the ICJ has left the
world adrift with powder kegs without a way to diffuse them and only
violence as a way toward solution. Henceforward, the impetus has been
created to move worldwide toward more power politics, manipulations,
permanent instability and tragic wars. If Albanians in the Serbian
province of Kosovo may secede, why not the Kurds in Turkey and Iraq, or
Basques and Catalonians in Spain, Corsicans in France, Albanians in
Macedonia and Greece, or Republic of Srpska in Bosnia, and many other
simmering powder kegs.
This ruling essentially authorizes resolution of ethnic conflict by
ethnic majority rule and threat of violence. Therefore, the ICJ ruling
can be used to rationalize violence as a means for settling disputes and
achieving by force what cannot be achieved by diplomacy.
This decision with its implications is not as much a loss for Serbia as
it is for the entire civilized world.
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