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Verbrechen, mit zweierlei Maß gemessen?

Naser Oric, Kommandant der bosnisch-muslimischen Armee, wurde rehabilitiert - vom selben Strafgerichtshof, an den demnächst Karadzic überstellt wird - ein Kommentar der anderen von Walter Manoschek *

Über die Instrumentalisierung von Recht

Mit der Verhaftung von Radovan Karadzic ist der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wieder in die internationalen Schlagzeilen gekommen. Diese Woche soll Karadzic an den ICTY ausgeliefert werden. Sein Prozess wird weltweites Aufsehen erregen. Nicht zuletzt wegen der politischen Verantwortung, die Karadzic für das Geschehen in Srebrenica im Juli 1995 trägt, wo bosnisch-serbische Truppen ein Massaker an bosnisch-muslimischen Männern anrichteten.

So groß die Aufmerksamkeit für dieses Massaker ist, so bescheiden war die mediale Resonanz, als Anfang Juli der ehemalige Kommandant der 28. Division der bosnisch-muslimischen Armee, Naser Oric, von einem Berufungsgericht des ICTY freigesprochen wurde, nachdem er im Sommer 2006 für die Folterung und Tötung von sieben Serben durch seine Untergebenen in der Stadt Srebrenica zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Durch die Anrechnung der Untersuchungshaft hatte er bereits nach dem Urteilsspruch den ICTY als freier Mann verlassen und war in Bosnien von der muslimischen Bevölkerung als Kriegsheld euphorisch empfangen worden. Nach dem Spruch des Berufungsgerichts ist Oric nicht nur ein freier, sondern auch ein redlicher Mann.

So weit, so skandalös. Und es wirft ein Schlaglicht auf die politisch tendenziöse Seite des ICTY, die nicht nur von serbenfreundlicher Seite kritisiert wird. Denn um dieses Urteil als skandalös zu bezeichnen, braucht es nicht den Protest der russischen Regierung. Hier reicht es, sich das mörderische Treiben von Oric und seiner Division in der Region Srebrenica zwischen 1992 und 1995 anzusehen. Doch so moralisch empört sich die Medien dem Massaker der bosnisch-serbischen Truppen unter der politischen Verantwortung von Karadzic und General Mladic seit Jahren widmen, so uninteressiert zeigen sie sich an der Vorgeschichte, die eng mit der Präsenz von Orics Division im Raum Srebrenica verbunden ist.

Srebrenica war ursprünglich ethnisch gemischt. Doch bereits unmittelbar nach dem Eintreffen von Orics 28. bosnisch-muslimischen Division in Srebrenica waren die serbischen Einwohner im Mai 1992 aus der Stadt geflohen. An ihre Stelle kamen Muslime aus der umliegenden Gegend, und Srebrenica wurde zu einer muslimischen Enklave mit 35.000 Menschen. Von Beginn an attackierte die 28. Division die umliegenden serbisch bewohnten Dörfer mit größter Brutalität. Eine der erbarmungslosesten Aktionen fand am 7. Jänner 1993, dem Tag des serbisch-orthodoxen Weihnachtsfestes, statt, als Oric einen Überraschungsangriff gegen das Dorf Kravice anführte, bei dem über hundert serbische Soldaten und Zivilisten getötet wurden.

Ein großer Teil der Feindseligkeit der bosnischen Serben aus der Region gegenüber den Einwohnern Srebrenicas resultierte aus dieser Phase des Krieges. Im Frühjahr 1993 übergab die jugoslawische Staatskommission für Kriegsverbrechen dem UN-Sicherheitsrat ein Memorandum. Es beinhaltete eine Liste von etwa 1300 Serben, die von Orics Truppen von April 1992 bis April 1993 getötet und von 192 Dörfern, die niedergebrannt worden waren. Der UN-Sicherheitsrat akzeptierte das Memorandum als offizielles Dokument.

Blutige Trophäen

Im April 1993 erhielt Srebrenica den Status einer Schutzzone und UNO-Truppen wurden darin stationiert. Doch wurde die Stadt niemals erfolgreich demilitarisiert. Der UN-Report zu Srebrenica hielt fest, dass die muslimischen Truppen nicht mehr als 300 Waffen abgegeben hatten, die meisten davon waren unbrauchbar. Die etwa 5800 Mann starke 28. Division machte weiterhin Ausfälle in serbisches Territorium und tötete Soldaten und Zivilisten. Sowohl 1994 als auch 1995 lud Oric ausländische Reporter ein und zeigte ihnen seine "Kriegstrophäen" : Videos, auf denen abgeschnittene Köpfe, verbrannte und erschossene Serben, abgebrannte Häuser und Leichenberge zu sehen waren.

Die Gräueltaten der muslimischen Division unter dem Kommando von Oric sind gut dokumentiert. Doch als er im März 2003 vom ICTY angeklagt wurde, wurde er nur wegen der Ermordung von sieben Serben durch seine Untergebenen zur Verantwortung gezogen. Obwohl sich Oric öffentlich gegenüber westlichen Reportern mit dem Erschlagen von serbischen Zivilisten gebrüstet hatte, sah der ICTY die Beweislage für eine entsprechende Anklage nicht gegeben.

Neben dem milden Urteil von zwei Jahren Haft sticht die Dekontextualisierung der von Oric und seinen Truppen begangenen Verbrechen mit den blutigen Ereignissen in Srebrenica vom Juli 1995 ins Auge. Mit einer Anklage, die die offensichtlich schweren Verbrechen von Oric vor dem Juli 1995 ausklammerte, vermied das ICTY, einen Zusammenhang mit dem Massaker in Srebrenica herzustellen.

Dass das systematische Abschlachten der serbischen Zivilbevölkerung in der Umgebung von Srebrenica durch Orics Truppen vom ICTY nicht als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" qualifiziert wurde, sagt einiges über die politische Agenda dieses Gerichtshofes aus. Damit war es möglich, das Massaker der bosnisch-serbischen Armee in Srebrenica vom Juli 1995 als eine zusammenhanglose Tat darzustellen und Srebrenica als Symbol des serbischen Bösen und für die muslimische Opferrolle zu instrumentalisieren.

Die Rehabilitierung von Naser Oric durch den ICTY ist ein weiterer Höhepunkt in diesem zynischen Spiel mit der traurigen, blutigen und komplexen Geschichte des Zerfalls Ex-Jugoslawiens. Es ist zu befürchten, dass sich auch der Prozess gegen Karadzic in diese politisch tendenziöse Liste einfügen wird.

* Dr. Walter Manoschek ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien

Der Beitrag, den uns der Autor freundlicherweise zur Dokumentation zur Verfügung stellte, erschien in der Wieder Zeitung DER STANDARD, Printausgabe, 30. Juli 2008 ("Kommentar der anderen").



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