EU führt Serbien weiter an der Nase herum
Die andere Sicht: Eine Analyse der Russischen Nachrichteanagentur zur Festnahme Karadzics
Von Jelena Guskowa *
Die Verhaftung von Radovan Karadzic hat die im zurückliegenden Jahrzehnt
nahezu in Vergessenheit geratenen Klischees wieder erweckt.
Beim Wort „Serbe“ stellt man sich vollbärtige Herren mit Gewehren vor,
bei der Erwähnung der Namen Karadzic und Mladic tauchen assoziativ
„Srebrenica“, „Folterungen“, „Morde“ und „Erschießungen“ auf.
Höchstens die Experten erinnern sich noch an die Ereignisse der 90er
Jahre. Deshalb sollte das Karadzic-Kapitel an dieser Stelle wieder
aufgerollt werden.
Karadzic ein Verfechter einer friedlichen Lösung
Radovan Karadzic war Gründer und Spitzenvertreter der serbischen Partei
in Bosnien-Herzegowina, wo drei Völker leben, die bereits seit Titos
Zeiten als „Serben“, „Kroaten“ und „Moslems“ klassifiziert wurden.
Damals war Karadzic ein entschiedener Verfechter einer friedlichen
Lösung der zwischen den Völkern entstandenen Streitigkeiten, als das
seinerzeit so mächtige Jugoslawien zu zerfallen begann. Als Arzt,
Lyriker und Musiker war er ein Befürworter von Verhandlungen, die den
ausgebrochenen Brand des ethnischen Hasses löschen sollten. Er rief zur
Toleranz auf und war bemüht, den drohenden Bürgerkrieg abzuwenden.
Er warnte vor der Gefahr eines Krieges, sollten sich die
Spitzenpolitiker der Moslems und der Kroaten zu einer Abtrennung
Bosnien-Herzegowinas von Jugoslawien entschließen. Selbst als die
kroatischen und die moslemischen Abgeordneten in Abwesenheit ihrer
serbischen Kollegen für eine Abtrennung Bosnien-Herzegowinas von
Jugoslawien stimmten, waren die Serben bemüht, alles in ihren Kräften
stehende zu tun, um Zusammenstöße zu verhindern.
Als in Sarajevo mit der Errichtung von Barrikaden begonnen wurde und die
ersten Schüsse fielen, war es Karadzic, der das Volk aufrief, Barrikaden
wieder abzutragen und gemeinsame Straßenpatrouillen aufzunehmen. Im
Dezember 1992 hatte er in der Skupstina der Serbischen Republik
(Republika Srpska) eine Erklärung über das Ende des Krieges initiiert,
wonach „der ethnisch-religiöse Krieg im ehemaligen Bosnien-Herzegowina
für die Serbische Republik abgeschlossen“ sei.
Srebrenica
Ein paar Worte zu Srebrenica. Man ist bemüht, in dieser Stadt ein Symbol
des „serbischen Faschismus“ zu finden, Beweise findet man aber keine.
Diese gibt es auch nicht, weil das Bild der Ereignisse entstellt und die
Zahl der Opfer erfunden ist. Verschwiegen wird auch, dass die Moslems
nahe Srebrenica und Bratunac 43 serbische Dörfer dem Boden gleich
gemacht haben. Niemand behauptet zugleich, dass Karadzic als Präsident
der Serbischen Republik an Kampfhandlungen nicht teilgenommen und keine
Mordbefehle erteilt hat.
Außerdem war Karadzic ein aktiver Teilnehmer der Friedensverhandlungen
in Dayton und damit ein international anerkannter Politiker.
Vom serbischen und russischen Volk werden Karadzic und Mladic als Helden
wahrgenommen, die ihr Volk sowie die Gebiete verteidigt haben, in denen
die Serben im Laufe von Jahrhunderten gelebt und einen international
anerkannten Staat gegründet haben, allerdings im Bestand von
Bosnien-Herzegowina. Deshalb können sich die Serben so schwer damit
abfinden, dass die serbische Regierung Karadzic ausgeliefert hat - in
der Hoffnung, dass dies Serbien der Europäischen Union näher bringen würde.
Unter den serbischen Jugendlichen gibt es allerdings auch viele, die
nicht mehr wissen, was in ihrem Land vor 15 Jahren geschehen ist. Ihnen
ist die Auslieferungsgeschichte egal - Hauptsache, die Grenzen zum
verlockenden Europa müssten möglichst bald geöffnet werden.
Krise in Serbien wird sich verschärfen
Die meisten sind aber von diesem Ereignis schockiert. Deshalb wird die
ohnehin instabile politische Situation im Lande noch komplizierter.
Wegen der Unmöglichkeit, sich zu dieser oder zu jener Frage zu einigen,
wird das Parlament in immer neue Krisen geraten. Die für diese
Entwicklung verantwortliche Regierung wird immer unpopulärer. In eine
tiefe Krise wird auch die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) geraten,
deren Führer die Interessen der einfachen Mitglieder verraten haben und
zu jenen übergewechselt sind, die ihren Parteichef Slobodan Milosevic
verraten, die Nato-Aggression vergessen und eine Schließung dieser
Partei gefordert haben.
All das rückt neue Parlamentswahlen in Serbien näher heran, bei denen
das Kräfteverhältnis wegen der jüngsten Ereignisse ziemlich anders
aussehen wird. Die SPS wird zwar praktisch nicht mehr existieren, die
jetzige Mehrheit (die Partei von Boris Tadic und ihre Verbündete) wird
aber ihre dominante Position nicht mehr verteidigen können. Bis dahin
wird es die EU nicht schaffen, Serbien zu ihrem Mitglied zu machen.
Tadics Demokraten würden dann, bis auf die Festnahme Karadzics, nichts
mehr aufweisen können - kein ausgesprochen erfolgsträchtiges Wahlargument.
Immer neue Forderungen der Europäischen Union
Was Serbiens Annäherung an Europa anbelangt, so hat der Westen von
Belgrad seit Anfang der 90er Jahre immer neue Zugeständnisse abverlangt
- Abschaffung von Sanktionen, Abgabe von Territorien, Zugeständnisse in
Dayton, Auslieferung von Slobodan Milosevic, Vojislav Sesel u. a. Auch
nach der Auslieferung Karadzics wird Serbien wohl kaum etwas bekommen.
Oder doch - es wird schon etwas bekommen, und zwar weitere Bedingungen.
Zunächst wird eine Auslieferung von General Ratko Mladic, dann eine
Zustimmung für die Unabhängigkeit der Provinz Kosovo gefordert. Danach
wird man sich die Auflösung der Serbischen Republik in
Bosnien-Herzegowina gefallen lassen, den politischen Forderungen der
Albaner im Süden Serbiens und der Ungarn in Vojvodina (eine weitere
autonome Provinz in Serbien) nachgeben und die Wirtschaftsverträge mit
Russland revidieren müssen. Und jedes Mal wird Belgrad zu hören
bekommen, es sei Europa einen weiteren Schritt näher gekommen.
Insofern wird Karadzics Festnahme dem Land keine Stabilität, den Serben
keine Ruhe und Zukunftssicherheit, Europa keine Sorglosigkeit und dem
Den Haager Tribunal keine Genugtuung bringen. Die Serben werden quasi
dazu provoziert, sich wieder stur und unbesonnen zu zeigen, wie das in
der komplizierten Vergangenheit bereits der Fall war.
* Unsere Autorin Jelena Guskowa ist Leiterin des Zentrums für das
Studium der Balkan-Krise des Slawistik-Instituts der Russischen
Wissenschaftsakademie.
Die Meinung der Verfasserin muss nicht mit der von RIA Novosti
übereinstimmen.
Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 31. Juli 2008;
http://de.rian.ru
[Zwischenüberschriften von uns; AG Friedensforschung]
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