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Serbien jenseits des Kosovostreits

Wirtschaftlich ausverkauft, sozial enteignet

Von Hannes Hofbauer, Belgrad *

Acht Jahre nach dem Fall des Systems Milosevic steht Serbiens Ökonomie mitnichten besser da als zuvor. Die Bauwirtschaft ist eine der wenigen Branchen, die – nicht zuletzt wegen der Zerstörungen durch NATO-Bombardements – blüht. Die übrigen Wirtschaftsdaten geben keinen Anlass zur Freude.

Ein Blick auf die Zahl der Beschäftigten zeigt das soziale Ausmaß der ökonomischen Krise, in der sich Serbien befindet: Seit dem Jahr 2000 hat sie sich laut Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche um fast 20 Prozent auf 2,6 Millionen reduziert. Dabei kann das Referenzjahr 2000 nicht gerade als hochkonjunkturell angesehen werden. Die Arbeitslosigkeit wird offiziell jenseits der 20 Prozent ausgewiesen, dürfte in Wahrheit aber mindestens 30 Prozent betragen. Und die Auslandsschulden übersteigen inzwischen die 15-Milliarden-Euro-Marke.

Derweil haben westeuropäische und US-amerikanische Firmen wie Raiffeisen, Societé Generale, US-Steel und andere die nach Krieg und Embargo übrig gebliebenen Reste der serbischen Industrie und den Dienstleistungssektor unter sich aufgeteilt. Wesentliche Kernstücke der Tito-Epoche waren, wie das Automobilwerk in Kragujevac, im Bombenhagel zerstört worden. »Serbien hat in den vergangenen Jahren fast seine gesamte industrielle Kapazität verloren, heute werden keine Flugzeuge und keine Pkw mehr produziert«, erläutert der Wirtschaftswissenschaftler Oskar Kovac. Was noch verwertbar war, wurde an ausländische Investoren verkauft. »Die bekamen Fabriken für ein Spottgeld und nutzten oft nur den Boden, um darauf ein Hotel oder ein Bürogebäude zu errichten.« Kovac resümiert: »Serbien heute befindet sich auf dem Niveau eines Entwicklungslandes.«

Zu den Profiteuren gehört beispielsweise die österreichische Raiffeisenbank, die nach der staatlich verordneten Schließung der vier größten serbischen Banken just zu jenem Zeitpunkt an Ort und Stelle war, als die Euroeinführung die serbische Bevölkerung zwecks Tauschs von DM und Schilling in die Banken trieb. Auch der Verkauf der drei Zementwerke des Landes an einen griechischen Investor war für diesen segensreich, konnte er doch nach dem Krieg die Preise für Baumaterial weitgehend monopolistisch bestimmen. Zu den Krisengewinnern gehört auch der russische Konzern Gazprom, der mit der Übernahme des serbischen Erdölunternehmens NIS ein gutes Geschäft machte.

Alles in allem sind westliche Eigentümer jedoch weit häufiger zum Zug gekommen als russische Investoren, die durchaus großes Interesse gezeigt hatten. Die meisten serbischen Oligarchen, die unter Slobodan Milosevic Kapital akkumulieren konnten, haben ihre Beteiligungen mittlerweile an westeuropäische Konzerne weiterverkauft. So gesehen stimmt die Aussage, wonach Serbien Europa ist – auf periphere Art und Weise freilich, wie es sich für den Rand der Brüsseler Union gehört.

Wer die Schwächsten der serbischen Gesellschaft aus der Nähe betrachten will, braucht nur den Zug von Wien nach Belgrad zu nehmen. Die Einfahrt in die Hauptstadt wird von Blech- und Papphütten gesäumt. Es sind in der Mehrheit Roma, die darin ihr Dasein fristen. Auf den ersten Blick wirkt das Ganze wie eine riesige Müllhalde. Man muss zweimal hinsehen, um Menschen und Behausungen auszumachen. Inmitten der individuellen und kollektiven Habseligkeiten taucht plötzlich ein weißer Pkw auf, dessen Anfahrtsweg die Vorstellungskraft des Betrachters sprengt.

Eine mutmaßliche Bewohnerin des Elendsquartiers treffen wir auf dem Fürst-Michael-Boulevard vor der Festung Kalemegdan. Ein Neugeborenes im Arm, stürmt die junge Frau auf Passanten zu, die sie mit ihrer Mischung aus Schmutz und Kindergeschrei aus der Ruhe bringen will. Besser angezogene Herren entgehen ihrem Soziologinnenblick nicht. Sie rechnet ganz korrekt mit dem Obolus, den ein Reicher zu geben bereit ist, um nicht mit dem Elend in direkten Kontakt kommen zu müssen. Wer sich weigert, ein paar Dinar zu spenden, bekommt die körperliche Nähe der Roma-Frau zu spüren. Aggressiv, leichtfüßig, charmant bewegt sie sich zwischen den Schaufenstern, immer den nächsten Kunden im Visier. Diese Form der privatisierten Sozialpolitik gehört in Belgrad mittlerweile zum Standard.

Das Elend betrifft indes nicht nur die Roma. Slavenko Terzic von der Akademie der Wissenschaften schätzt, dass das neue Serbien, wie es von Präsident Boris Tadic & Co. proklamiert wird, 70 Prozent der Menschen als sozial entrechtet zurückgelassen hat. 20 Prozent ordnet der Historiker einer Mittelklasse zu, die zu Titos Zeiten breiter und fester verankert war, während er fünf bis zehn Prozent als reich bis sehr reich einschätzt.

Härter und stärker als sonstwo in Osteuropa hat es in Serbien die ältere Generation getroffen. Denn als alt gilt hier, wer die 40 überschritten hat. Die neuen Unternehmer scheuen sich, Menschen, die älter sind, anzustellen. Ökonom Oskar Kovac erklärt dies eindrucksvoll mit den Ereignissen der jüngsten Geschichte. Spätestens mit dem Krieg und seinen Folgen verloren viele Menschen ihre Arbeit. Manche wurden noch für Jahre in – äußerst geringem – Lohn gehalten, ohne dass es in der zerstörten Fabrik etwas zu tun gegeben hätte. Genauso wichtig für die Skepsis gegenüber älteren Arbeitern ist jedoch deren Bewusstsein aus der Zeit der Arbeiterselbstverwaltung. »Die Unternehmer wollen keine Probleme mit Leuten, die ihr halbes Arbeitsleben von der Selbstverwaltung profitiert haben. Junge Beschäftigte sind dagegen extrem pflegeleicht, die kennen keine Gewerkschaften und keine Betriebsräte.« Die Regierung hat sich in den letzten Jahren um Arbeiterrechte nicht gekümmert. Den Vorgaben der EU, wonach es bei mehr als 2000 Arbeitern einen Betriebsrat geben muss, nähert man sich langsam. Neue Unternehmer werden damit leben können, alte Arbeiter nicht mehr.

* Aus: Neues Deutschland, 25. März 2008


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