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Albaner und Serben im Kosovo vor der Wahl

Kosovska Mitrovica – die geteilte Stadt in Kosovo ein halbes Jahr nach den Unruhen

Am 23. Oktober wählt die serbische Provinz Kosovo ein neues Parlament. Die Nachrichtenagentur AFP meldete am Wahltag u.a.:

Die Abstimmung im weiter von ethnischen Spannungen geprägten Kosovo gilt als wegweisend für seinen künftigen Status: Die albanische Mehrheit strebt die Unabhängigkeit an, die Serben wollen diese verhindern.

Formal gehört die zu 90 Prozent von Albanern bewohnte Provinz zum Staatenbund Serbien und Montenegro; sie steht jedoch unter UN-Verwaltung. Die serbische Minderheit folgte offenbar einem Aufruf ihrer Führer, sich nicht an dem Urnengang zu beteiligen; auch im übrigen Teil Serbiens, wo ebenfalls Wahllokale eingerichtet worden waren, blieben die meisten der etwa 100.000 serbischen Kosovo-Flüchtlinge der Abstimmung fern.

Zu den wenigen Serben, die sich nicht an den Boykott hielten, gehörte der Politiker Oliver Ivanovic. Bei seiner Stimmabgabe betonte Ivanovic, er sehe "keine andere Lösung", wollten die Serben selbst die Verantwortung für ihre Zukunft übernehmen. Tatsächlich hat die Wahl vor allem Konsequenzen für die im nächsten Jahr geplanten Verhandlungen über die Zukunft des Kosovo. Von ihrem Ausgang hängt ab, wer wieviel Einfluss bei den unter UN-Regie geführten Status-Verhandlungen haben wird.

Der albanisch-stämmige Präsident Ibrahim Rugova betonte seinerseits, die Wahl sei "ein wichtiges Datum für die Unabhängigkeit des Kosovo". Dennoch schien auch die Wahlbegeisterung der Albaner eher gedämpft. Laut einer Umfrage wollten 25 Prozent der Wähler nicht zur Abstimmung gehen, weil sie mit der wirtschaftlichen Lage und den Lebensverhältnissen unzufrieden sind.

Mehr als 33 politische Gruppierungen und 30 Einzelkandidaten bewarben sich um die 120 Parlamentssitze, von denen zehn für Serben und zehn für andere Minderheiten reserviert sind. Umfragen zufolge dürfte keine Partei genug Stimmen bekommen, um allein regieren zu können. Stärkste Kräfte könnten demnach die Demokratische Liga von Präsident Rugova und die Demokratische Partei des früheren Rebellenführers Hashim Thaci mit je 30 bis 40 Sitzen werden.

Wir kompliziert die Verhältnisse in der Region tatsächlich sind, veranschaulicht der folgende Bericht, der vor der Wahl in der Tageszeitung "Neues Deutschland" erschien. Im Übrigen verweisen wir auf die Schlüsselresolution des UN-Sicherheitsrats zur Lösung der Kosovo-Frage, die Resolution 1244 (1999).

Wo die Brücke zur Grenze wurde

Kosovska Mitrovica – die geteilte Stadt in Kosovo ein halbes Jahr nach den Unruhen und wenige Tage vor den Parlamentswahlen

Von Stefan Tenner, Kosovska Mitrovica


Am Sonnabend wird in Kosovo ein neues Parlament gewählt. Unser Korrespondent versuchte die Vorwahlstimmung in der geteilten Stadt Kosovska Mitrovica einzufangen.

Heruntergekommene Wohnhäuser, Verkaufsbuden und Cafés an einer Straßenkreuzung – das ist das Zentrum von Nord-Mitrovica. Auf der schmalen Hauptstraße, die hinunter zur Brücke führt, patrouillieren gelegentlich Fahrzeuge von UN und KFOR. Auf dem Fußweg wird verkauft, was die Gärten hergeben und was sonst noch nützlich ist. Und nützlich scheint alles.

In der Nähe betreibt Sascha Gvozdic seinen Angelladen und das Büro seiner Organisation »Mission der Menschen guten Willens«. Gvozdic ist einer der wenigen, die in den letzten Jahren aus eigenem Antrieb versucht haben, der Trennung der Stadt entgegenzuwirken – durch Begegnungen zwischen Kindern und Jugendlichen. »Mitrovica war früher eine gemischte Stadt«, erinnert sich Sascha, dessen Familie bereits seit 200 Jahren hier wohnt. »Wir haben mit den Albanern zusammengelebt und hatten Freunde, aber trotzdem lebten wir getrennt«, gibt er zu. Schon in der Schule gab es immer wieder Rangeleien. Gemischte Ehen waren rar. Doch dass Mitrovica geteilt wird, hätte der heute 36-Jährige nie erwartet.

Die Brücke über den Ibar, die Nord- und Süd-Mitrovica verbinden soll, wurde zur Grenze. Im Sommer 1999 waren französische KFOR-Soldaten gekommen und hatten die Brücke aufs Modernste ausgestattet. Doch das allein machte keinen Frieden. Gewaltsame Zusammenstöße zwischen Serben, Albanern und »Internationalen« ließen die Brücke berüchtigt werden. Was die Albaner als »Vereinigung« beider Stadtteile propagierten, verstanden die Serben als Vereinnahmung und glaubten ihre Häuser und ihr Leben verteidigen zu müssen. Es gab dann auch Zeiten, in denen wenigstens die Brücke problemlos passiert werden konnte. Weiter in den Süden zu gelangen, blieb für Serben jedoch zu gefährlich.

Sascha baute sich vor zwei Jahren auf dem Grundstück seiner Eltern im Vorort Zvecan ein Haus: »Es sah so aus, als wollte ich hier bleiben. « Heute ist er skeptischer. Denn die Ereignisse vor einem halben Jahr haben die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander zerstört. Am 17. März rollte die Welle der Gewalt wieder über die Brücke. In ganz Kosovo starben mindestens 19 Menschen, tausende Serben und Roma flohen vor gewalttätigen Albanern, serbische Häuser und Kirchen gingen in Flammen auf – unter den Augen von UNO und NATO.

Seine beiden Söhne könnten die Albaner nur als Feinde wahrnehmen, die sie vertreiben wollen, klagt Sascha. »Sie haben keine Möglichkeit, sich mit jungen Albanern zu treffen, um zu diskutieren und zu erfahren, dass es eigentlich keine Unterschiede gibt, dass alle Menschen gleich sind und dass kein Volk allein schlecht ist.« Sascha fürchtet, dass auch die kommenden Generationen auf beiden Seiten mit Angst und Hass leben müssen. Und was ändere daran eine Wahl? »Wir sind gegen ein unabhängiges Kosovo und wir glauben nicht, dass wir unseren Platz in einem unabhängigen Kosovo finden würden. Die Nichtteilnahme an der Wahl ist unsere Möglichkeit zu zeigen, was wir fühlen und denken.«

Nach dem Ende der NATO-Bombardierung und dem Abzug der serbischen Armee 1999 waren tagelang serbische Flüchtlingstrecks durch Mitrovica gezogen. Im Frühjahr strömten erneut Serben aus dem Süden Kosovos in die Stadt. Hals über Kopf hatten die meisten ihre Häuser verlassen müssen. »Niemand war auf diesen Flüchtlingsstrom vorbereitet«, erzählt Tatjana Jaksic. Geboren in Mitrovica, arbeitet sie in einer internationalen Organisation, die sich der Vertriebenen annimmt. Einige besetzten Häuser, die eigentlich für Flüchtlinge aus Kroatien bestimmt waren. Die meisten zogen in das Gymnasium, wo sie bis heute leben, »ohne Bad und ohne Möglichkeit zu waschen oder zu kochen. Einzige Wasserquelle ist die Schultoilette«, berichtet Tatjana.

Zu den rund 200000 seit 1999 vertriebenen Serben und Roma kamen im März noch einmal fast 4000 hinzu. Nur einige tausend waren in den Jahren zuvor zurückgekehrt. »Viele, die nun schon seit Jahren vertröstet werden, würden gerne im Norden Kosovos leben«, weiß Tatjana aus ihrer Arbeit mit den Vertriebenen. Doch das verstieße gegen die Politik der UNO. »Sie sollen zurück in ihre Herkunftsorte, selbst wenn ihre Sicherheit dort nicht garantiert werden kann. Kosovo soll multiethnisch sein, sagt die UNO. Die Leute interessieren sich aber nicht für Multiethnizität, sondern für ihre eigene Sicherheit.« Neue Unruhen würden dazu führen, dass noch mehr Serben Kosovo verlassen. Und was könnten serbische Abgeordnete in Pristina dagegen ausrichten? »Ich sehe keine Chance für diese Leute, Einfluss auf Kosovos Zukunft zu nehmen. Welchen Sinn also haben diese Wahlen für uns?«

Es ist Nachmittag geworden. Südlich der Brücke herrscht reges Leben. Taxis warten auf Kundschaft, junge Leute schaukeln kreischend in einer Riesengondel, Reisebüros laden nach Deutschland ein. Gleich hinter der Brücke – in der »Vertrauenszone« – hat CBM (Community Building Mitrovica) seinen Sitz. Die albanische Organisation will die Kontakte zwischen den Völkern wiederbeleben. Serben und Albaner begannen gemeinsam dafür zu arbeiten. Ein Vorzeigeprojekt, das erfolgreich zu sein schien – bis zum März. Seither ist es den Serben aus Sicherheitsgründen nicht möglich, die Brücke zu überqueren, erklärt die Leiterin Valdete Idrizi. Als Albanerin ist sie in Mitrovicas Norden aufgewachsen. Serbische Paramilitärs vertrieben sie 1999 aus ihrer Wohnung, Rückkehrversuche scheiterten. Die Ereignisse im März hätten viele entmutigt, gibt sie zu. Selbst sie und einige Kollegen gerieten in Gefahr, als sie sich gewalttätigen Albanern entgegenstellten, bevor die orthodoxe Kirche in Süd-Mitrovica angezündet wurde. Dennoch glaubt Valdete daran, dass man nach den Wahlen wieder zusammenarbeiten werde. »Wir haben nach wie vor Vertrauen zueinander, worauf ich sehr stolz bin«, vertritt sie einen Optimismus, der in Mitrovica selten ist.

Was sie von den Wahlen erwarten soll, weiß sie indes nicht. Doch wie die Mehrheit der Albaner hofft sie auf ein unabhängiges Kosovo, »aber eins für alle Menschen, die hier leben wollen.«

Es ist dunkel geworden, auch in Saschas Laden. Anschwellendes Brummen tönt durch die Stadt. In den Cafés werden die benzinbetriebenen Strom-Aggregate angeschaltet. Seit Jahren gibt es Strom und Wasser nur stundenweise. Warum das noch immer so ist, fragt sich keiner mehr. »Man gewöhnt sich hier fast an alles, aber gerade das ist gefährlich«, sagt Sascha trocken.

Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2004


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