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Streit um ein Loch im Militärhaushalt

Schweden diskutiert über Verteidigungspolitik

Von Gregor Putensen *

In Schweden wird um ein Defizit von 165 Millionen Kronen im Militärhaushalt gestritten. Aber eigentlich geht es um viel gewichtigere Beträge -- um die künftige Sicherheitspolitik des Landes.

Zu einer ungewöhnlichen Kontroverse zwischen der Regierung und der Streitkräfteführung Schwedens hat sich der Disput um die Beseitigung eines Milliardenlochs im laufenden Verteidigungshaushalt ausgeweitet. Der konservative Verteidigungsminister der bürgerlichen Vierparteienkoalition, Sven Tolgfors, liegt sich mit seinem militärischen Oberbefehlshaber (ÖB), Håkan Syrén, in den Haaren.

Vordergründig geht es um ein innerhalb von nur neun Monaten entstandenes Defizit von 1,5 Milliarden Kronen (etwa 165 Millionen Euro) für die Streitkräfte. Tolgfors verlangte daher auf Druck des Finanzministers vom Oberbefehlshaber einen bis 2010 zu realisierenden Sanierungsplan. Zugleich betreibt er die faktische Entmündigung des ÖB hinsichtlich dessen wirtschaftlichen Entscheidungskompetenzen im Streitkräftebereich. Syrén legte nun Mitte dieses Monats einen Sparplan vor, der vermutlich auch provokativ wirken sollte. Zum Beispiel sieht er die Streichung von 2500 Dienstposten vor und die Schließung von 21 Standorten.

Dies hatte nicht nur im Lager der mit militärischer Verteidigung des Landes unmittelbar befassten Kreise harsche Wortwechsel zur Folge. Auch die führenden, zumeist militärfreundlichen Medien Schwedens nutzen die Gelegenheit, um diesen Streit und seine Konsequenzen mit der Frage der Mitgliedschaft des Landes in der NATO zu verknüpfen.

Unter Verweis auf Finnland, wo die konservativen Minister für Äußeres, Verteidigung und Finanzen keine Scheu mehr haben, einen NATO-Beitritt zu befürworten, drängen Schwedens große Zeitungen und die Rüstungsindustrie die bürgerliche Regierung, ihre vorsichtige Zurückhaltung gegenüber einer öffentlich geführten NATO-Debatte bis zur nächsten Wahlperiode aufzugeben.

In der Tat scheint der Streit zwischen Verteidigungsminister und dem Oberbefehlshaber den NATO-Befürwortern Wasser auf die Mühlen zu leiten. Immerhin sprechen sich jetzt laut Umfragen bereits 38 Prozent der Bevölkerung für einen NATO-Beitritt aus. Allerdings sind das immer noch weniger als die Neinsager (42 Prozent). Der heftige Disput um die Konsequenzen des Milliardenlochs offenbart indessen vor allem Differenzen über die Militärdoktrin des Landes. Denn der Übergang von der klassischen Neutralitätsverteidigung zur weltweiten Konfliktintervention für die »Verteidigung« westlicher Interessen bereitet in Schweden nicht nur finanzielle Probleme. Wichtiger noch scheint der neuerliche Streit um eine schlüssige Interpretation des militärischen Bedrohungsbildes.

Oberbefehlshaber Syrén, der Chef des Außenpolitischen Instituts Thomas Ries und der im Sommer 2007 zurückgetretene Verteidigungsminister Mikael Odenberg warnen vor angeblichen sicherheitspolitischen Risiken, die aus Russlands massivem wirtschaftlichen und militärischen Machtzuwachs in der Barents-Region und im Ostseeraum resultieren. Schweden sei im militärischen Ernstfall nicht mehr zu verteidigen, warnte der Streitkräftechef. Diese Aussage widerspricht allerdings dem von allen Parlamentsparteien weitestgehend mitgetragenen verteidigungspolitischen Rapport vom Dezember 2007 und der Sicht des Verteidigungsminister Tolgfors. Nicht zuletzt kommen in diesen Auseinandersetzungen erhebliche Interessenunterschiede innerhalb der Rüstungsindustrie zum Ausdruck.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Mai 2008


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