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Dissidenz und Institutionalisierung:

die zweischneidige Debatte der Modernisierung

Von Stephane Lacroix und Steffen Hertog*

Neben der Königsfamilie einerseits und ausufernder Bürokratie andererseits gab es bisher praktisch keine formellen politischen Institutionen im Königreich. Zumindest dem Augenschein nach hat sich dies in den letzten Jahren geändert: Das Regime hat versucht, gewisse politische Interessen formell zu organisieren und zu institutionalisieren. In diesem Artikel soll erklärt werden, welches – patriarchalische und staatszentrierte – Politikmodell dieser Institutionalisierung zugrunde liegt und wo der Prozeß an seine historisch bedingten Grenzen stößt. Die neuen Institutionen, so unser Argument, bedeuten vor allem eine Modernisierung autoritären Herrschens. Sie scheinen generell Ausdruck einer gewissen Konvergenz hin zu arabischen Herrschaftssystemen zu sein.

In den letzten Jahren wurde das Regime intellektuell herausgefordert – und es hat reagiert. Während politische Debatten bis vor kurzem prinzipiell nur in privatem Rahmen erlaubt waren, hat es sich daran gemacht, mehrere offizielle Kanäle für die Artikulation politischer Interessen zu schaffen. Neben einem „nationalen Dialog“ zu verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Themen wurden eine Journalistenvereinigung zugelassen und eine Menschenrechtsorganisation gegründet. Weitere „zivilgesellschaftliche“ Verbände sind in Planung, und es gab sogar einen schüchternen Versuch, Arbeitnehmerinteressen zu organisieren.

Damit hat das Regime nicht nur auf das dynamischere intellektuelle Umfeld reagiert, sondern will auch dem generellen Eindruck entgegenwirken, daß ihm die saudische Gesellschaft langsam entgleitet – eine Sorge, welche die Prinzen gerade seit den Terrorattacken plagt. Die Al Saud, vor allem Kronprinz Abdallah, sind bemüht, den Saudis in irgendeiner Form Teilhabe oder zumindest den Anschein davon anzubieten. Die Identifizierung mit Staat und Nation soll gesichert werden, und neue Kommunikationskanäle helfen, zunehmend komplexe gesellschaftliche Interessen zu artikulieren.

Der Nationale Dialog

Die erste und symbolisch wichtigste unter den Institutionen, die vom saudischen Regime als Antwort auf den vielseitigen Druck geschaffen wurden, ist der „Nationale Dialog“, dessen Einrichtung vor allem von den islamischen Liberalen in ihrer ersten Petition vom Januar 2003 gefordert wurde. Dieser „Nationale Dialog“ hat eine lockere Struktur, verfügt über ein Verwaltungszentrum in Riad und hat den offiziellen Auftrag, in regelmäßigen Abständen (etwa alle drei bis sechs Monate) Treffen zwischen den verschiedenen Strömungen der saudischen Gesellschaft zu organisieren, bei denen es um ein vorher festgelegtes Thema geht. Das erste dieser Treffen fand unter dem Vorsitz des Kronprinzen Abdallah im Juni 2003 statt, und es versammelte Angehörige aller konfessionellen Gruppierungen, die auf dem Territorium des Königreiches existieren: reine und hartgesottene Wahhabiten wie Sheikh Rabi’ al-Madkhali; Mitglieder der „neuen Sahwa“, die salafistisch orientiert ist, aber im Dissens zur offiziellen religiösen Institution steht und den Vorstellungen von Sheikh Salman al-Awda folgt; nicht-salafistische Sheikhs aus dem Hijaz, von denen einige zu den Sufis gehören wie etwa Sheikh Muhammad Abduh Yamani; Zwölfer-Schiiten aus Medina oder der Ostprovinz wie etwa der historische politische Führer der schiitischen saudischen Gemeinschaft Sheikh Hassan as-Saffar; und schließlich ein Vertreter der schiitischen Gemeinschaft ismaelitischer Richtung, der in Najran residiert. Zu dieser Runde sollten auch die „Falken“ der Sahwa – die Sheikhs Safar al-Hawali und Nasir al-Umar hinzustoßen, die als noch unversöhnlicher gelten als Salman al-Awda (siehe den Artikel von al-Utaibi in diesem Heft). Sie weigerten sich jedoch, gemeinsam mit den Vertretern der „abweichlerischen Sekten“ zu tagen, es sei denn, es ginge um das Ziel, diese auf den „rechten Weg“ zurückzuführen. Folgerichtig zogen sie es vor, den Saal wieder zu verlassen.

Zunächst ist festzuhalten, daß eine solche Zusammenkunft eine absolute Premiere in der Geschichte des Königreiches ist. Die konfessionelle Vielfalt Saudi-Arabiens war bis dahin ein solches Tabu, daß sogar die Saudis selbst über das Ereignis überrascht waren. Bemerkenswert ist auch, daß die saudischen Machthaber tatsächlich die anerkannten Vertreter der verschiedenen konfessionellen Gruppen, die auf ihrem Staatsgebiet existieren, eingeladen haben – bei aller politischen Bedeutung einer solchen Entscheidung, denn viele von ihnen waren und sind immer noch, in gewissem Maße, Oppositionelle. Im Gegensatz zum Majlis ash-Shura (Konsultativrat, siehe den Artikel von C. Ammoun) verstand sich die erste Sitzung des Nationalen Dialogs – und das war sie auch – als wirklich repräsentativ. Der repräsentative Charakter des Majlis ist reine Fassade, denn – um nur diese zu nennen – die wenigen schiitischen Mitglieder wurden dort ausschließlich auf der Grundlage ihrer absoluten Unterwerfung unter das Regime ausgewählt, nicht aber aufgrund ihrer Stellung innerhalb ihrer Gemeinschaft. Das Treffen schloß mit der Verabschiedung einer Charta, die vom Kronprinzen gebilligt wurde und die spürbare politische und religiöse Reformen forderte – und damit weit über die im Vorfeld definierte Thematik der Gespräche hinausging. Dies zeigt eindeutig, wie sehr die inhaltliche Reichweite dieser Konferenzen letztlich über die schlichte Diskussion eines im Voraus festgelegten Themas hinausgeht und letztlich die wirklich wichtige Frage einschließt, nämlich die Zukunft des Königreiches. Aus dieser Sicht ist der Aufruf zu religiöser Reform ganz wesentlich, da er als Ausdruck eines Willens der Machthaber, „aus dem Wahhabismus herauszukommen“, interpretiert werden kann. Die Tatsache, daß die großen Figuren des wahhabitischen saudischen Establishments – repräsentiert vom Großen Rat der ’Ulama – an diesem Dialog nicht teilnahmen, bestätigt diese Orientierung. Die Reichweite einer religiösen Reform ist enorm, denn letztlich könnte dies die Abkehr von dem bedeuten, was seit jeher der Zement der saudischen Identität war, und die Gründung einer wirklichen Nation entsprechend des modernen Gedankens der Staatsbürgerschaft zu gründen, die allein die Minderheiten wirklich integrieren könnte.

Die zweite Konferenz des Nationalen Dialogs

fand im Dezember 2003 in Mekka statt. Wie bei der ersten Konferenz wurde ein Gesprächthema festgelegt, die Diskussionen gingen jedoch weit darüber hinaus. Eingeladen waren dieses Mal Vertreter der verschiedenen im Lande vertretenen politischen Kräfte: dem Staat nahestehende Salafisten, Personen, die mit der Sahwa (der islamistischen Opposition vom Beginn der 90er Jahre) in Verbindung stehen, konservative und „säkularistische“ Liberale und einige „islamische Liberale“. Die beiden erwähnten Charakteristika der ersten Konferenz treffen auch auf die zweite zu: Einerseits handelte es sich um ein wahre Premiere in Saudi-Arabien, bei der die Bürger erkennen konnten, daß ihre Gesellschaft nicht nur politisiert ist, sondern auch von sehr verschiedenen politischen Strömungen durchzogen wird. Andererseits handelte es sich bei den Eingeladenen um wirklich repräsentative Vertreter politischer Strömungen. Allerdings gab es einige Ausnahmen, insbesondere im Falle der islamischen Liberalen, von denen sich einige bewußt auf Distanz hielten und andere schlichtweg nicht eingeladen wurden. Wie bei der ersten Konferenz wurde von den Teilnehmern eine Charta ausgearbeitet, die anschließend vom Kronprinzen gebilligt wurde. Ähnlich der vom Juni 2003 enthält sie deutliche Aufrufe nach politischen, wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Reformen – in einem Maße, daß zu hören war, die dort formulierten Forderungen seien noch „revolutionärer“ als die Forderungen in den Petitionen der islamischen Liberalen.

Die dritte Konferenz fand im Mai 2004 in Medina statt. Sie unterschied sich erheblich von den beiden vorangegangenen. Das gewählte Thema, an das sich diesmal weitgehend gehalten wurde, waren die Frauen im Königreich. Eingeladen waren 35 weibliche und 35 männliche Intellektuelle, die in getrennten Räumen tagten, jedoch durch ein Audio-Übertragungssystem miteinander verbunden waren. Auch hier waren die Teilnehmer so ausgewählt, daß sie die Gesamtheit des saudischen politischen Spektrums repräsentierten, von den Konservativsten bis zu den Liberalsten. Jedoch waren die Debatten wesentlich angespannter als bei den beiden ersten Sitzungen. Dies unterstrich die hohe Brisanz des gewählten Themas. Die schließlich formulierte Charta beschränkte sich darauf, zur Achtung der Frauenrechte aufzurufen, wie sie im Islam festgelegt sind – selbstverständlich ohne zu präzisieren, worin diese denn bestehen. Diese Formulierung war völlig konsensfähig, da sowohl die Konservativsten wie die Liberalsten ihre Sicht der Frauenrechte als aus den heiligen Texten abgeleitet hinstellen.

Letztendlich ein korporatistisches Unterfangen

In einem allgemeineren Sinne markiert diese dritte Sitzung den Beginn eines Prozesses der Entpolitisierung des Nationalen Dialogs, die ihre Entsprechung in einer härteren Politik des Regimes gegenüber der Reformbewegung findet. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt in der vierten Sitzung des Nationalen Dialogs (Oktober 2004), die sich mit dem Thema „Jugend“ befaßte. Sorgfältig ausgewählte jugendliche Teilnehmer beschränkten sich darauf, eine Reihe von technischen und administrativen Lösungen für ein Problem vorzuschlagen, das auch höchst politischer Natur ist. Doch trotz dieser Veränderungen in der politischen Reichweite des Nationalen Dialogs bleibt eine Konstante: Die im Kern korporatistische Sicht, die dem Vorgehen zugrunde liegt. So kann jedes Treffen als eine Konsultation verstanden werden, die das Regime mit einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe geführt hat, wobei es sich bei den beiden ersten um komplexe Gruppen handelte – das religiöse Feld und das politische Feld –, während die beiden anderen sozialen Gruppen – den Frauen und der Jugend – galten. Dieser Übergang von einer Konsultation von Gruppen komplexer Zugehörigkeit zu einer Befragung von Primärgruppen trägt in hohem Maße zu der oben angesprochenen Entpolitisierung bei.

Institutionalisierung ja, aber von oben

Aber lange vor den Entwicklungen des Jahres 2004 und trotz des in hohem Maße innovativen Charakters des Unterfangens hatte ein Teil der Reformisten bereits zu verstehen gegeben, daß dies in ihren Augen nicht genug war. Wurde die erste Sitzung noch wohlwollend aufgenommen, so verursachte die fehlende Umsetzung der Bestimmungen der Abschlußcharta bereits im Oktober 2003 erhebliches Zähneknirschen. Bereits Ende 2003 zeigten sich die islamischen Liberalen zerstritten über die einzunehmende Haltung, und die kompromißlosesten unter ihnen begannen, den Prozeß öffentlich zu kritisieren. Folgerichtig war dann nur ein kleiner Teil von ihnen – wie Muhammad Sa’id Tayyib – bei der zweiten Sitzung des Dialogs vertreten, der doch gerade der Gesamtheit der politischen Strömungen eine Tribüne bieten sollte. Bezeichnend ist auch, daß die Petition der 116 unter Führung von Abdallah al-Hamid und Matruk al-Falih, die die Errichtung eines konstitutionellen monarchischen Systems im saudischen Königreich forderte, nur wenige Tage vor dem für den zweiten nationalen Dialog festgelegten Datum veröffentlicht wurde: Für die Reformer ging es darum zu zeigen, daß sie sich nicht mit leeren Versprechungen zufrieden geben würden. Seit diesem Zeitpunkt ist eine Eskalation festzustellen: Während der Text an Kronprinz Abdallah gerichtet war, der noch im Januar 2003 die Unterzeichner herzlich empfangen und ihnen seine Unterstützung für ihr Vorhaben zugesichert hatte, ignorierte dieser nun die Autoren der Petition, und der Antrag landete auf dem Schreibtisch von Prinz Nayef, dem Innenminister. Wenige Tage später wurden fünfzehn Unterzeichner von diesem vorgeladen, verächtlich behandelt und bedroht. Es sollte März 2004 werden, bis die Repression in Gang kam: Als Gerüchte über die Bildung einer unabhängigen Menschenrechtsorganisation aufkamen (als Konkurrenz zu einer Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte, die wenige Tage zuvor von der Regierung eingerichtet worden war), wurden am 16. März 2004 dreizehn der aktivsten Reformer aus der Petitionsbewegung verhaftet. Drei von ihnen, Abdallah al-Hamid, Matruk al-Falih und Ali ad-Dumaini sind bis heute hinter Gittern.

Diese Episode zeigt deutlich die außerordentliche Sensibilität, die mit der Frage der Institutionen in Saudi-Arabien verbunden ist: Wie bereits im Jahre 1993, als – nach Monaten des Protests – der Auslöser der Repression die Schaffung eines „Komitees der legitimen Rechte“ (lajnat al-difa’ ‘an al-huquq al-shar’iyya) gewesen war, so waren es die Gerüchte über die Schaffung einer von den Machthabern unabhängigen Institution, die eine Welle von Verhaftungen nach sich gezogen haben. Die Lage ist indes anders: Das Herrscherhaus hat sich verändert und ist selbst zum Produzenten von Institutionen geworden. Tatsache bleibt allerdings, daß die conditio sine qua non der Schaffung von Institutionen – genau wie im Falle des Nationalen Dialogs – der Inspiration und der Kontrolle des Staates entstammt. Das heißt: Institutionalisierung ja, aber von oben.

Die Entstehung von proto-korporatistischen Verbänden

Viele der wirklich interessanten politischen Figuren haben also beim Nationalen Dialog bald nicht mehr mitgespielt. Ähnlich erging es anderen Interessensverbänden, was deren zumeist etwas blutleeren Charakter erklärt: Dissidenten wurden entweder nicht zugelassen oder weigerten sich, mit ihrer Teilnahme an vom Regime vorbestimmten Institutionen politischen Kredit zu verschaffen.

Dies hielt das Regime nicht davon ab, den politischen Raum mit neuen Institutionen zu besetzen. Politisch ist diese Tatsache bedeutend, auch wenn es diesen an Glaubwürdigkeit oder Resonanz fehlt. Die Schaffung neuer „Interessensgruppen“ passierte gerade zu der Zeit (Anfang 2004), als die aufmüpfigsten Dissidenten in Polizeigewahrsam bzw. Hausarrest wanderten, womit neue Grenzen politischer Aktivität gezogen wurden.

Zusammen mit dem nationalen Dialog zeichnet sich eine gewisse Systematik der Institutionalisierung ab. Um den Staat herum scheint ein proto-korporatistisches Feld von Verbänden zu entstehen.

Der Journalistenverband

Für Aufregung sorgte die Schaffung eines Journalistenverbandes im Jahr 2004, der bereits mehrmals zuvor versprochen worden war. Verbände politisch sensibler Berufe spielen traditionell in vielen Nahoststaaten eine kritische politische Rolle, da Parteien oft sklerotisch sind oder gar nicht existieren. Saudi-Arabien hat in den letzten Jahren einen Medienfrühling erlebt, in dem Kritik an fast allem außer der Königsfamilie zulässig ist. Obwohl das Informationsministerium im Hintergrund nach wie vor umfassende Zensurmöglichkeiten hat und allzu aufmüpfige Redakteure auch mal entlassen werden, lesen sich saudische Zeitungen mit ihrer Kritik an rigidem Wahhabismus und administrativer Korruption weit lebendiger als noch vor fünf Jahren.

Die Wahlen zum Vorstand des saudischen Journalistenverbands (SJA) wurden Anfang 2004 mehrmals verschoben, bis schließlich, nach Intervention des Informationsministeriums, ein „Rat der Chefredakteure“ gewählt wurde, in dem einfache Journalisten unterrepräsentiert waren. Bestimmte Kandidaten waren überhaupt nicht zugelassen worden. Gleichwohl gehören dem Vorstand auch einige renommierte, gemäßigte Figuren an (wie z.B. Qinan al-Ghamdi von al-Watan). Trotz des großen politischen Potenzials einer journalistischen Interessensvertretung ist die SJA bisher wenig in Erscheinung getreten und hat sich teilweise außersaudischen Problemen gewidmet, wie z.B. der Behandlung von Journalisten im Irak.

Neben dem Journalistenverband sind seit 2000 auch ein Bauingenieursverband und ein Juristenkomitee gegründet worden. Beide sind bis jetzt wenig in Erscheinung getreten. Anwälte haben sich über mangelnde Aktivität und fehlende Kommunikation beim Juristenkomitee beschwert. Die Ingenieure haben Verteidigungsminister Prinz Sultan zu ihrem Ehrevorsitzenden ernannt, nachdem er Geld für ihre Hauptniederlassung gestiftet hatte.

Die Menschenrechtsvereinigung

Vergleichsweise publikumswirksamer war bisher die saudische Menschenrechtsvereinigung (NHRA), die, ebenfalls seit 2000 angekündigt, Anfang 2004 ins Leben gerufen wurde. Ein weiteres Mal waren die Mitglieder durchaus angesehene Personen des öffentlichen Lebens, doch ausnahmslos solche, die nicht unbedingt durch Opposition zum Regime aufgefallen waren. Die Vereinigung erhielt eine Spende von 100 Millionen saudischen Rial (ca. 27 Millionen US-Dollar) von König Fahd und hielt ihre Gründungssitzung im Gebäude des Majlis ash-Shura ab.

Auch die NHRA widmete sich teilweise Problemen, die außerhalb des Königreichs oder zumindest außerhalb der unmittelbaren Schuldbarkeit des saudischen Staats lagen, wie z.B. häusliche Gewalt. Bei den zaghaften Versuchen, zum Verfahren um die drei Dissidenten Falih, Dumaini und Hamid Stellung zu beziehen, blamierte sich die NHRA eher. Als ein wahhabismuskritischer Akademiker im März 2005 zu 275 Peitschenhieben verurteilt wurde, bekundete er, lieber an den Kronprinzen oder König Fahd appellieren zu wollen als sich an die Menschenrechtsvereinigung zu wenden.

Einen etwas besseren Eindruck hinterließ die NHRA im Zuge ihrer Kontrollinspektionen in saudischen Gefängnissen und Abschiebelagern, als manche Mißstände klar publiziert wurden. Auch berichtet die NHRA, sich Menschenrechtsbeschwerden Hunderter von Gastarbeitern angenommen zu haben – was aber wohl auch eine prophylaktische Funktion hat, denn die Vereinigung will gleichzeitig nicht, daß Migrantenprobleme durch internationale Organisationen „politisiert“ werden.

Kaum Resonanz in der Bevölkerung

Es gibt weitere Pläne für einen Autorenverband sowie für Lehrer- und Studentenverbände. Sogar Arbeitnehmerinteressen sollen eine Vertretung erhalten: Seit Mai 2001 besteht per Kabinettsbeschluß in Betrieben ab 100 Angestellten die Möglichkeit, eine Art Betriebsrat einzurichten. Anfang 2004 war die Rede von einem nationalen Komitee für Arbeiter, dem allerdings nur Saudis angehören sollten (siehe die Dokumentation von HRW: Bad Dreams, i.d. Heft).

Während der Kommunalwahlen im Frühjahr dieses Jahres kamen mehrere der neuen „zivilgesellschaftlichen“ Organisationen zum gemeinsamen Einsatz als Wahlbeobachter. Angeführt von der NHRA stellte neben älteren (und völlig apolitischen Verbänden) wie der Geographischen Vereinigung und dem Wirtschaftsprüfer-Verband unter anderem auch der Journalistenverband Personal für die Wahlüberwachung.

So vorbildlich dies vordergründig organisiert war, so deutlich wurde im Wahlverlauf ein grundlegendes Problem aller unter dem Kronprinzen angestoßenen institutionellen Neuerungen: die fehlende Resonanz in großen Teilen der saudischen Bevölkerung. Die groß angekündigten Wahlen demonstrierten dies in besonderer Härte, als sich zumeist weniger als ein Drittel der potenziellen Wähler registrierte und von letzteren oft nur um die 70% zur Wahl gingen. Trotz aller Kampagnen in Medien und Schulen wollten dem Regime Information und Mobilisierung seiner „Bürger“ nicht gelingen. Laut Umfrage einer saudischen Zeitung hatten in Mekka gar 95% der Bürger keine Ahnung von der Wahl, waren nicht registriert und redeten auch nicht über das Thema.

Die Unterentwicklung formeller Politik

Die Sterilität der institutionellen Reformen erklärt sich nicht zuletzt damit, daß Politik in Saudi-Arabien traditionell eine private Angelegenheit ist, verhandelt auf persönlicher Basis und zumeist hinter verschlossenen Türen. Petitionen an die Machthaber sind prinzipiell zulässig – ausdrücklich in Artikel 43 des „Basic Law“ von 1992 erwähnt –, doch nur in nichtöffentlicher Form. Unabhängige öffentliche Forderungen wurden traditionell unterbunden und oft kriminalisiert. So akzeptiert persönlicher Zugang zu den Herrschern als Mittel zur individuellen Interessensvertretung ist – Relikt aus einer Zeit, in der Staatsvolk und vor allem Staatsapparat weit kleiner waren –, so wenig gern sehen die Al Saud seit jeher die unabhängige Artikulation von größeren Gruppeninteressen.

In dieser Tradition ist zu verstehen, daß die Nationalen Dialoge nicht öffentlich waren und auch deren Empfehlungen nur auf indirektem Wege publik wurden. Der Übergang zu einer wirklichen nationalen Öffentlichkeit für politische Belange fällt schwer, zumal er in einem künstlich und von oben herab geschaffenen formellen Rahmen stattfinden soll. Eine öffentliche Dialogkultur ist nicht per Dekret und in vorgefertigten Foren zu erzeugen. Das Konzept des politischen und gesellschaftlichen Dialogs an sich ist erst vor kurzem in den saudischen Medien aufgetaucht.

Die Unterentwicklung formeller Politik ist der Rentiergeschichte Saudi-Arabiens geschuldet: Über Jahrzehnte expandierte der Staat so rapide und hatte so viel Patronage- und Repressionsmacht, daß für unabhängige, formale Interessenartikulation wenig Platz war – zumindest für die Interessen moderner, funktionaler Gruppen wie Arbeitnehmer, spezielle Berufskategorien, Menschenrechts- oder Frauengruppen. Alle Versuche, unabhängig kollektive Interessen zu organisieren, wurden bestraft, zumindest indem der Zugang zu den Ressourcen und Entscheidungsträgern des Regimes verwehrt wurde. Einzig für islamistische Interessen bot der saudische Staatsapparat Raum sich zu organisieren, etwa im Erziehungswesen, in den Moscheen und bei der Polizei.

„Die Sozialstrukturen sind atomisiert“

In den pessimistischen Worten eines Dissidenten: „Die Sozialstrukturen in Saudi-Arabien sind atomisiert.“ Familienstrukturen sind weiterhin sehr stark, aber größere soziale Formationen, die politisch handlungsfähig wären, gibt es kaum. Auch die vermeintlich so wichtigen Stämme haben ihre politische Kohärenz und Führerschaft seit langem verloren. Die politische Regression des Rentierstaats äußert sich auch in der Abwesenheit einer einheimischen Arbeiterklasse – die Millionen von Gastarbeitern sind politisch rechtlos, und erst unter äußerem Druck durch ILO und USA bemüht sich das Regime, minimale soziale Rechte zu garantieren.

Staat und Gesellschaft wurden bis vor kurzem wesentlich durch kleinteilige und vielschichtige Klientelstrukturen zusammengehalten, in deren Zentrum immer die Königsfamilie bzw. deren zahlreiche einzelne Mitglieder zu finden sind. Der saudische Staat war über lange Zeit reduziert auf eine entpolitisierte Kombination aus formeller Bürokratie und Klientelismus. Klientelismus aber ist privat, exklusiv, individuell und vertikal strukturiert – das Gegenteil von „Öffentlichkeit“.

Die regimegesteuerten Reformen nehmen sich entsprechend zögerlich aus, wenn man sie vergleicht mit vergangenen Reformdebatten in Zeiten, als Staat und Regime noch weniger gefestigt waren. In den fünfziger Jahren erlebte die Ostprovinz noch mehrere Streiks von Aramco-Arbeitern (obwohl König Saud selbige 1956 verbot) und alle möglichen – wenn auch zersplitterten – links orientierten Untergrundparteien agitierten gegen das Regime.

1961, als der Nasserismus die Al Saud zu untergraben drohte, reagierte eine liberale Fraktion führender Prinzen mit einem Verfassungsvorschlag, der eine zu zwei Dritteln gewählte Nationalversammlung vorsah mit dem Recht, Minister und sogar den Premierminister zu entlassen. Der Verfassungsvorschlag verschwand schließlich unter Kronprinz bzw. (ab 1964) König Faisal endgültig in der Schublade. Trotzdem war bis in die sechziger Jahre hinein das politische Klima bedeutend offener als in den Folgejahrzehnten: Bis 1963 wurden in der westlichen Region regelmäßig Stadt- und Gemeinderäte gewählt. Seit den zwanziger Jahren bestand dort zudem ein beratendes Legislativgremium, dem mehr Kompetenzen zustanden als dem heutigen Majlis ash-Shura. Sein Einfluß wurde allerdings sukzessive durch die Schaffung neuer bürokratischer Entscheidungsstrukturen untergraben.

Spätestens seit den siebziger Jahren dominieren die Al Saud mit Hilfe des ausufernden Staatsapparats die Politik. Erst die Krisen der letzten Jahre haben ihnen gezeigt, daß allein durch Patronage und (relativ sanfte) Repression eine zunehmend komplexe Gesellschaft nicht zusammenzuhalten ist.

Die Ressourcen dienen der Krisenbewältigung

Und natürlich ist seit dem 11. September auch der äußere Druck auf das Königreich erheblich gewachsen. Mit vielen Initiativen reagiert das Königreich nicht zuletzt auf die Kritik durch USA und internationale Organisationen – mit leidlichem Erfolg, gemessen an den vorsichtig lobenden Worten von Condoleeza Rice und George Bush. Auch bei der Vorstellung des „Arab Human Development Report“ in Riyad dieses Jahr freute sich der UNDP-Chef vor Ort über die „zivilgesellschaftlichen Initiativen“ der jüngsten Zeit. Die neuen Institutionen erlauben es Saudi-Arabien auch, in internationalen Gremien mitzuspielen und z.B. an regionalen Berufsvereinigungen oder Menschenrechtskonferenzen teilzunehmen.

Mit den meisten Initiativen hat das Regime aber auch auf innere Spannungen reagiert, wie das Timing oft deutlich machte. Sensible gesellschaftliche Schichten – Intellektuelle, Journalisten, die Jugend – sollen organisiert werden, um weitere soziopolitische Desintegration und Enttäuschung über das System zu verhindern. Das saudische Regime hat auf Krisen schon immer reagiert, indem es, ausgestattet mit beträchtlichen Ressourcen, zusätzliche Institutionen geschaffen hat.

Die neuen Institutionen haben nicht zuletzt eine Kooptionsfunktion für führende Angehörige funktionaler Schichten, sofern diese sich auf die Spielregeln des Regimes einlassen. Wie König Fahds milde Gabe für die NHRA zeigt, können die dabei eingesetzten Ressourcen beträchtlich sein. Das Regime verfügt zusätzlich über einen Pool an gefügigem Personal aus Institutionen wie Majlis ash-Shura und World Muslim League, das flexibel eingesetzt werden kann, um die Gremien neuer Organisationen zu füllen. Saudische „Intellektuelle“, ob regimekonform oder kritisch, sind oft ohne festen sozialen Rückhalt und deswegen relativ einfach zu ersetzen.

Die neuen Organisationen dienen vor allem dazu, öffentlichen Raum zu besetzen und Grenzen zu ziehen. Wirklich unabhängige Initiativen, politische Interessensgruppen zu schaffen, sind bisher allesamt unterbunden worden.

Das Spektrum der Debatte ist größer geworden

Allerdings sollte man die Absichten des Regimes nicht zu machiavellistisch interpretieren. Dem Kronprinzen zumindest scheint an wirklicher „shura“, an Beratung und Diskussion gelegen zu sein. Gleichzeitig aber ist er nicht willens, politischen Kräften ihren freien Lauf zu lassen und hat eine patriarchalische Vision von nationaler Führung, was letztlich nolens volens zu staatskontrollierten Organisations- und Debattenstrukturen führt. Immerhin aber ist das Spektrum der Debatte im Königreich, trotz gelegentlicher Rückschritte, erheblich breiter geworden. Auch scheint die NHRA innerhalb des Staats durchaus eine gewisse, quasi verwaltungstechnische Kontrollfunktion zu haben, die durchaus gewünscht sein mag.

Nach wie vor aber haben die neuen Institutionen auf das gesellschaftliche Leben in Saudi-Arabien sehr wenig Einfluß. Dies liegt einerseits daran, daß sie nicht genug politischen Freiraum genießen, andererseits aber auch daran, daß die informell strukturierte saudische Gesellschaft formeller Organisation widerstrebt und, wie erläutert, eine Tradition offener Interessensorganisation weitgehend fehlt.

Der erste Beschwerdereflex der meisten Saudis ist immer noch die Petition an einen Prinzen – auch wenn es nur ein kleiner ist –, und nicht die Nutzung von ebenso unzuverlässigen wie unvertrauten formellen Kanälen. Die Patronageverhältnisse im Königreich sind tief verwurzelt und selbst hinter den vermeintlich modernen Organisationen verbirgt sich oft die persönlich Patronage eines oder mehrerer Prinzen.

Wie sich in den Gemeindewahlen 2005 zeigte, sind Islamisten die mit Abstand am besten organisierte Gruppe in der saudischen Gesellschaft. Doch auch wenn man ihnen eine gewisse politische Unabhängigkeit zugesteht, war wiederum die patriarchalische Art und Weise des Wahlkampfs bezeichnend: Eine Reihe islamischer Gelehrter verpaßte bestimmten Listen von Kandidaten ihre Gütesiegel ohne große Begründung. Voraussetzung war: Die Kandidaten mußten zuverlässige Personen und gute Muslime sein.

Relativ säkulare Kandidaten haben lautstark gegen die inoffiziellen islamischen Listen protestiert, die im Prinzip dem bei der Wahl geltenden (und höchst typischen) Vereinigungsverbot widersprechen. Doch zur Reifung der politischen Kultur, die ein Ziel der Gemeindewahlen war, trägt das Insistieren auf autoritären Regeln wenig bei. Am ehesten haben die Auseinandersetzungen, ganz im Sinne der Al Saud, gezeigt, daß eine nationale Schlichtungsinstanz gebraucht wird: eine Rolle, welche nur die Königsfamilie einnehmen kann.

Ausblick: Zivilgesellschaft oder saudischer Korporatismus?

Nachdem das Terrorproblem bis auf weiteres gebannt scheint, mag Raum sein für weitere politische Experimente. Andererseits aber ist das System auf absehbare Zeit auf immensen Öleinnahmen weich gebettet: der Barrelpreis scheint sich um 50 Dollar zu stabilisieren.

Bisher sind die institutionellen Teilreformen am ehesten als vorsichtige Modernisierung eines prinzipiell autoritären Systems zu verstehen, oder zynisch betrachtet: Die Reformen muten eher wie Versuche an, Kontrolle zu modernisieren und zu formalisieren.

In der Formalisierung von staatlich kontrollierten Interessenorganisationen hat sich das Königreich dem generellen Paradigma arabischen Autoritarismus angenähert: Staatskorporatismus ist schon seit langem das Herrschaftsmodell in Syrien und Ägypten. Und obwohl die Gesellschaften in anderen Staaten oft weit stärker politisch mobilisiert sind, leiden offiziell sanktionierte Institutionen auch dort oft an Blutarmut.

Einmalig saudisch ist aber wahrscheinlich, daß von unten gebildete Gegenstücke zu staatlich geschaffenen Organisationen fast völlig fehlen, zumindest, was „moderne“ politische Interessensgruppen betrifft wie Frauen, Arbeitnehmer, Menschenrechtler oder Journalisten. Der Vergleich mit dem kleinen Nachbarn Bahrain zeigt, daß nicht jede Rentiergesellschaft am Golf so funktionieren muß: Dort ist eine historisch tief verwurzelte Arbeiterbewegung aktiv, und Gesellschaft und Regime streiten sehr aktiv über Formen der Interessensvertretung. Zur Zeit etwa wird ein neuer Entwurf zum Vereinsgesetz in verschiedensten Foren heiß debattiert, und eine Reihe „politischer Vereine“, linksorientiert wie islamisch, warnen vor einer restriktiven staatlichen Genehmigungspolitik gegenüber Vereinen und Gesellschaften – ein Thema, das so in Saudi-Arabien gar nicht debattiert wird, da es eine Vereinsgesetzgebung bisher gar nicht gibt.

Gleichwohl beansprucht das Königreich für seine Reformen das Etikett „Zivilgesellschaft“. Es ist ein im nahöstlichen Sprachgebrauch schwammiger, aber trotzdem im Westen gerne gehörter Begriff, der für die Al Saud keinen unmittelbaren Wandel der Machtstrukturen impliziert. Die transnationale oder zumindest regionale Integration von „Zivilgesellschaft“ und politischer Debatte wird auch genutzt, um von Saudi-Arabien selbst abzulenken, wie die Aktionen von NHRA und SJA teils zeigen. Das Regime scheint oft darum bemüht, Probleme entweder auf regionaler Ebene zu verorten oder, wenn es um Saudi-Arabien selbst geht, eher gesellschaftliche als politische Fragen anzugehen – weswegen sich die NHRA dann etwa eher mit häuslicher Gewalt auseinandersetzt als mit Polizeigewalt. „Zivilgesellschaft“ soll vor allem gesellschaftliche Probleme lösen und Interessen kommunizieren, aber Politik nur in klar abgegrenzten Bereichen betreiben – in der Finalität fast eine Umkehrung der westlichen Idee von „civil society“.

* Stephane Lacroix, Institut d'Etudes Politiques, Paris und Steffen Hertog, St. Antony´s College, Oxford.
Aus dem Französischen der Teil von Stephane Lacroix: „Der Nationale Dialog“ bis „Institutionalisierung ja – aber von oben“, von Werner Ruf.



Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 42, Juli 2005

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