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Die islamischen Strömungen nach dem 11. September

Zur Neugestaltung der politischen Landschaft Saudi-Arabiens

Von Stephane Lacroix*

Die Ereignisse des 11. September haben den Druck auf die saudische Regierung verstärkt, Reformen durchzuführen. Zunächst kam dieser Druck von außen, insbesondere vom amerikanischen Alliierten. Ob in Presseartikeln oder in offiziellen Erklärungen, Gesellschaft wie Regierung Saudi-Arabiens sind nach den Ereignissen zum Ziel einer beispiellosen Kampagne der Kritik geworden; immer zahlreicher ertönten aus Washington die offiziellen und inoffiziellen Rufe nach Reformen. Doch sehr schnell kam zu dem Druck von außen der Druck von innen hinzu. Die Ereignisse des 11. September haben die Neugestaltung der politischen Landschaft Saudi-Arabiens beschleunigt, die sich seit Ende der 90er Jahre abzeichnete. So tauchten eine Reihe von neuen Strömungen auf, getragen von Intellektuellen, die das Klima der relativen Liberalisierung ausnutzten, um sich zu treffen, zu diskutieren und ihre Thesen bekannt zu machen, nicht zuletzt indem sie den virtuellen Raum des Internets nutzen, das Privatpersonen in Saudi-Arabien seit 1999 zugänglich ist.

Die islamistische Opposition der frühen 90er Jahre, as-Sahwa al-islamiyya („Das islamische Erwachen“), deren Hauptfiguren Salman al-Awda und Safar al-Hawali 1999 aus der Haft entlassen wurden, sah damit nun ihre Führungsrolle in der islamistischen Szene von zwei neuen Akteuren bedroht: den liberalen Islamisten und den salafistischen Jihadisten. Gleich nach ihrer Entlassung aus der Haft gaben al-Awda und al-Hawali den Machthabern unverzüglich Beweise ihrer neuen, moderaten Einstellung in Sachen Kritik an den inneren politischen Verhältnissen im Königreich und dessen Beziehungen mit der westlichen Welt – und dies, wie wir noch sehen werden, zur großen Unzufriedenheit einiger ihrer Anhänger. Diese neue versöhnliche Einstellung der Sheikhs aus der Sahwa erreichte einen Höhenpunkt in der Verurteilung der Attentate vom 11. September und, einige Monate später, in der Unterzeichnung einer öffentlichen Erklärung, die in einer eher von saudischem Nationalismus als von internationalistischem Islamismus geprägten Sprache zur friedlichen Koexistenz und zum Dialog mit dem Westen aufrief. Eben gegen diese von den Sheikhs der Sahwa (unterdessen in „neue Sahwa“ umbenannt) bekundete moderate Haltung, formierte sich ab 1999 die salafistisch-jihadistische Strömung.

Die Ablehnungsfront der Jihadisten

Zunächst bildete sich diese „Ablehnungsfront“ um Hamud ash-Shu’aibi, einen blinden, betagten und einflußreichen Sheikh der Stadt Buraida, der die Sahwa Anfang der 90er Jahre unterstützt hatte. Zu den Lieblingsthemen dieser Sheikhs (wie das zehn Jahre früher schon bei der Sahwa der Fall gewesen war) wurden sogleich die Anprangerung der amerikanischen Präsenz auf dem „Boden der zwei Heiligen Stätten“ und die Unterstützung der Taliban, deren Regierung und politische Entscheidungen sie durch eine Reihe von fatwas zu legitimieren versuchten. Dies zeigte sich vor allem im März 2001 während des Streits um die Zerstörung der Buddhastatuen von Bamyan, die von jenen Sheikhs vorbehaltlos unterstützt wurde. Diese Logik fand ihren Höhenpunkt nach den Attentaten vom 11. September, als Sheikh Hamud ash-Shu´aibi in einer berühmt gewordenen fatwa legitimierte, was er „den Angriff auf New York und Washington“ nannte. Allerdings war seine Strömung damit innerhalb der saudischen islamistischen Szene, die die Anschläge überwiegend ablehnte, die einzige offen dissonante Stimme. Nach seinem Tod im Dezember 2001 wurde ash-Shu´aibi an der Spitze der salafistisch-jihadistischen Strömung durch eine Gruppe jüngerer Sheikhs ersetzt, die von Ali al-Khudair und Nasir al-Fahd angeführt wird. Innenpolitisch stellten diese ihren Eifer ganz in den Dienst einer kompromißlosen Kritik der Sahwa-Vertreter und ihrer angeblichen Zugeständnisse an die Staatsmacht. Außenpolitisch und in einer Zeit, wo der „Krieg gegen den Terror“ voll in Gange kam und offene, religiös legitimierte Unterstützung für die internationale jihadistische Strömung immer seltener wurde, machten sich die Sheikhs zu deren Fürsprechern. Der näher rückende Krieg im Irak verstärkte ihre Entschlossenheit, und sie konzentrierten sich darauf, von vornherein jegliche Unterstützung des saudischen Regimes für die USA im Krieg oder bei seiner Vorbereitung anzuprangern. Zahlreiche Bücher und öffentliche Erklärungen mit bezeichnenden Titeln wie „Über den Unglauben derjenigen, die den Amerikanern helfen“ wurden auf ihnen nahe stehenden Websites veröffentlicht. Obwohl nie explizit Drohungen ausgesprochen wurden, reichte dies aus, um dem Regime ein Gefühl der Bedrohung zu geben. So gab es einige Wochen vor dem Ausbruch des Krieges eine erste Verhaftungswelle in den salafistisch-jihadistischen Kreisen, und zum ersten Mal wurden die Sheikhs offen verfolgt. Mit den Attentaten vom 12. Mai 2003, die 34 Personen in drei Ausländersiedlungen von Riad das Leben kosteten und deren geistige Urheberschaft ihnen von den Behörden zugeschrieben wurde, war ihr Schicksal dann besiegelt: Einen Monat später wurden ihre Hauptakteure in Mekka festgenommen. Doch ihr Verschwinden von der politisch-religiösen Bühne brachte kein Ende der Gewalt mit sich. Ihr Erbe, das aus Büchern, Erklärungen und fatwas besteht, blieb eine der wichtigsten Legitimationsquellen für die gewalttätigen jihadistischen Gruppierungen, die seit Mai 2003 blutige Anschläge im Land verübten.

Tatsächlich stellten die Attentate vom 12. Mai 2003 den Ausgangspunkt einer langen Reihe terroristischer Aktionen dar, die abwechselnd von einer sich als al-Qa’ida auf der arabischen Halbinsel („Tanzim al-Qa’ida fi Jazirat al-Arab“) bezeichnenden Gruppe und den sogenannten Brigaden der zwei Heiligen Stätten“ (Kata’eb al-Haramain) verübt wurden. Die bis heute spektakulärsten Aktionen waren die Attentate vom 12. Mai 2003, die vom 8. November 2003 gegen die Ausländersiedlung al-Muhayya, wobei 17 Personen ums Leben kamen, die antiwestlichen Attentate von Yanbu und al-Khobar im Mai 2004, der Anschlag gegen das amerikanische Konsulat in Jiddah und schließlich gegen das Innenministerium im Dezember 2004. Nachdem die saudischen Sicherheitskräfte Mitte des Jahres 2004 Abd al-Aziz al-Muqrin, den damaligen Anführer der „al-Qaida auf der arabischen Halbinsel“, töteten, sind diese Attentate allerdings deutlich weniger geworden.

Nichtsdestotrotz war – und ist – die schlichte Existenz dieser Bedrohung ein starkes Druckmittel auf die saudische Regierung. Es ist aber bei weitem nicht das einzige: Zeitgleich mit der Entstehung der jihadistischen Strömung entwickelte sich eine starke Reformbewegung, die die Umsetzung wichtiger Veränderungen im Königreich forderte.

Die islamisch-liberale Bewegung

Diese Bewegung, die Ende der 90er Jahre die politisch-religiöse Bühne in Saudi-Arabien betreten hatte, richtete sich sowohl gegen die „Sahwa“ und die salafistischen Jihadisten als auch gegen die traditionellen wahhabitischen Institutionen. Getragen wurde diese Bewegung zunächst durch islamistische Persönlichkeiten aus der „Sahwa“, die sich jedoch für einen neuen islamisch-liberalen Weg entschieden hatten. Die Besonderheit und die Stärke dieser Bewegung liegt darin, daß sie Menschen aus allen politischen und konfessionellen Richtungen der saudischen Nation zusammenschließt. So verkehren sunnitische „moderate Islamisten“, sunnitische Liberale (ehemalige arabische Nationalisten oder Kommunisten, oder Anhänger einer am Westen orientierten Modernisierung) und islamistische oder nichtislamistische Schiiten miteinander innerhalb dieser im saudischen Königreich beispiellosen Bewegung. Diese „islamischen Liberalen“ sind sich u.a. einig über die Forderung nach einer Konstitutionalisierung der saudischen Monarchie mit der Schaffung eines direkt gewählten Parlaments, über das Ende der Diskriminierung aller Minderheiten und eine bessere Umverteilung der Reichtümer – alles innerhalb des islamischen Gesetzes, der Schari’a. Für die wichtigsten islamistischen Denker dieser Bewegung – allen voran Abdallah al-Hamid – erweist sich eine Neuinterpretation der religiösen Texte als notwendig. Tatsächlich ist die Schari’a für al-Hamid nicht das rigide und realitätsferne Objekt, zu dem die wahhabitischen ’Ulama der offiziellen religiösen Institutionen sie während der letzten drei Jahrhunderte gemacht haben. Sie müsse im Gegenteil eine Quelle politischer Innovation sein, und in ihr liege der Schlüssel zu einer Reform des Systems. Diese Position von al-Hamid wird u.a. von Muhammad Mahfuz geteilt, einem schiitischen Denker aus der islamisch-liberalen Strömung, die – in einem Duktus, der an die ägyptischen Modernisierer der Jahrhundertwende erinnert – den ’alim (Rechtsgelehrter) auffordert, sich seines legitimen Rechts auf ijtihad (Urteilsfindung durch Vernunft und nicht durch die Tradition) zu bedienen, um Islam, Demokratie und Modernität zu versöhnen.

Kritik des Wahhabismus

Viele dieser islamischen Liberalen kritisieren das saudische System auf Grundlage einer religiösen Kritik des Wahhabismus und seiner Exzesse – eine in Saudi-Arabien beispiellose Herangehensweise. Die Wahhabismus-Kritik wird bei einigen Intellektuellen dieser Strömung sogar ein echtes „Markenzeichen“: So spielen die sogenannten Mutahawwilun (diejenigen, die sich gewandelt haben) eine wichtige Rolle: eine Gruppe, die sich um reuige radikale Militante wie Mansur al-Nuqaidan und Abdallah bin Bijad al-Utaibi zusammengetan hat. Gestützt auf ihre Vergangenheit und der damit verbundenen Legitimität kritisieren diese in der lokalen Presse und im Internet, „den im Wahhabismus verwurzelten Extremismus“, den sie ohne weiteres mit den terroristischen Anschlägen in Saudi-Arabien nach dem Mai 2003 in Verbindung bringen.

Die Annäherung zwischen Islamisten und Liberalen, Sunniten und Schiiten basierend auf einer islamisch-demokratischen Plattform ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre auf der politisch-religiösen Bühne Saudi-Arabiens. Mehrere Erklärungen bzw. Petitionen, die von zahlreichen Persönlichkeiten unterzeichnet wurden, haben diese neue Tendenz bestätigt.

Erklärungen

Die erste Erklärung wurde auch von den Sheikhs der „neuen Sahwa“ unterstützt. Sie trägt den Titel „Wie können wir zusammenleben?“ Die Unterzeichner, Islamisten und Liberale, die sich um eine Schlüsselfigur dieses neuen islamischen Liberalismus, Sheikh Abd al-Aziz al-Qasim, zusammengeschlossen hatten, riefen darin zu einem konstruktiven Dialog mit dem Westen auf.

Die zweite in dieser Serie von öffentlichen Erklärungen, unter der Überschrift „Vision für die Gegenwart und die Zukunft des Vaterlandes“, wurde im Januar 2003 Kronprinz Abdallah überreicht. Sie sprach heiklere innenpolitische Fragen an: Die 104 Unterzeichner verlangten darin weitreichende politische, wirtschaftliche und soziale Reformen. Zum ersten Mal wurde das Wort „Verfassung“ benutzt. Schließlich wurde im Dezember 2003 die dritte islamisch-liberale Erklärung „Nationaler Appell an die Regierenden und das Volk: Verfassungsreform zuerst“ veröffentlicht. Die Forderungen ähnelten jenen der vorangegangen Erklärung, gleichwohl gab es zwei Neuerungen: Unter den Unterzeichnern befanden sich mehr Islamisten als im Januar 2003, was der Erklärung mehr Gewicht verlieh, da die Islamisten traditionell in Saudi-Arabien mehr Unterstützung genießen als die Liberalen. Zum anderen setzten die Reformer dem Regime zum ersten Mal eine Frist – drei Jahre –, um sich in eine konstitutionelle Monarchie zu wandeln. Damit wurde über die relativ allgemein formulierte Forderung nach Reformen hinausgegangen und das Regime ausdrücklich aufgefordert, die Ernsthaftigkeit seiner Reformbestrebung zu beweisen.

* Stephane Lacroix, Institut d'Etudes Politiques, Paris. Aus dem Französischen von Anne Renaudineau.


Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 42, Juli 2005

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