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Moskau soll Jukos-Aktionäre entschädigen

Russlands Regierung will sich mit allen Mitteln gegen Haager Urteil zur Wehr setzen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Während Moskauer Finanzexperten noch rechneten, wie sich neue westliche Sanktionen wegen der russischen Ukraine-Politik auswirken, kam aus Den Haag eine weitere Hiobsbotschaft.

Auf die russische Regierung kommen Entschädigungszahlungen in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar für ehemalige Aktionäre des Ölkonzerns Jukos zu. Dessen Mehrheit gehörte einst dem Oligarchen Michail Chodorkowski, der 2003 wegen Steuerhinterziehung verhaftet und 2005 wegen groß angelegten Betrugs verurteilt wurde. Der Konzern kam Ende 2004 unter den Hammer und fiel mehrheitlich dem staatlichen Ölgiganten Rosneft zu. Chodorkowski hatte seine Anteile zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Mitgesellschaftern, der Group Menatep Limited (GML), verkauft. Deren Aktionäre – darunter der inzwischen in Israel lebende enge Chodorkowski-Vertraute Leonid Newslin, Wladimir Dubow und andere – klagten daraufhin vor einem Schiedsgericht in Den Haag gegen den russischen Staat auf Entschädigung. Sie verlangten 114 Milliarden Dollar. Am Montag gaben die Richter der Klage zumindest teilweise nach und sprachen den Klägern 50 Milliarden zu.

Moskau hat zehn Tage Zeit für eine Berufungsklage. Zwar kündigte Außenminister Sergej Lawrow bereits an, Russland werde sich mit allen Mitteln gegen die Vollstreckung wehren. Doch Experten ziehen Parallelen zur Noga-Affäre. Wegen ausgebliebener Öllieferungen im Tausch gegen Pestizide und Kindernahrung hatte das Schweizer Handelshaus Mitte der 90er Jahre die russische Regierung vor die Internationale Arbitrage in Stockholm gezerrt und dort Kompensationen von fast 700 Millionen Dollar erstritten. Weil Moskau nicht zahlen wollte, hatten die Eidgenossen in spektakulären Aktionen weltweit versucht, russisches Eigentum beschlagnahmen zu lassen: Immobilen, Flugzeuge, Leihgaben des Puschkin-Museums für eine Ausstellung in Paris und sogar ein historisches Segelschulschiff. Erst 2006 kam es zu einem Vergleich.

Die Noga-Forderungen waren indes eine Bagatelle im Vergleich zu dem, was auf Moskau im Fall Jukos zukommt. Es geht um eine Summe, die in etwa dem entspricht, was die Olympischen Winterspiele in Sotschi kosteten. An dem sogenannten Fonds für nationalen Wohlstand, in den der Geldregen aus den Energieexporten floss, der über Russland zu Beginn des neuen Jahrhunderts niederging, zehrte bereits die Weltwirtschaftskrise 2009. An deren Folgen krankt das Land bis heute. Wachstumsprognosen wurden schon vor den Sanktionsdrohungen kontinuierlich nach unten korrigiert, für 2014 ist derzeit von höchstens 1,3 Prozent die Rede. Steuererhöhungen sind daher kein Tabu-Thema mehr. Geplant ist neben einer Reichensteuer auch die Anhebung der Umsatzsteuer von 18 auf 20 Prozent.

Zwar hieß es ursprünglich, die Grausamkeiten würden erst nach den Präsidentenwahlen 2018 greifen. Doch das war vor den Sanktionsdrohungen und dem Haager Urteil. Seit Montag wird von Vorverlegung der Maßnahmen gemunkelt, was die Regierungspartei »Einiges Russland« die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen Ende 2016 kosten könnte. Im Gespräch sind auch eine Erhöhung der Körperschaftsteuer und sogar eine Sonderabgabe für Konzerne, die sich die Jukos-Konkursmasse teilten. Auf der Rosneft-Website heißt es indes, das Unternehmen sei keine Konfliktpartei, habe die Jukos-Aktiva rechtmäßig erworben und sei daher überzeugt davon, dass sich aus dem Haager Urteil keine Konsequenzen für den Konzern ergeben.

Michail Chodorkowski, der im Dezember 2013 aus der Haft entlassen wurde und heute in der Schweiz lebt, betonte in einer Erklärung, dass er selbst von dem Urteil keinen finanziellen Nutzen haben werde, da er an GML nicht mehr beteiligt sei. Ungeachtet dessen begrüßte er das Urteil: »Es ist fantastisch, dass den Jukos-Aktionären eine Chance auf Schadenersatz gegeben wird«, erklärte er am Montag. »Aber es ist traurig, dass die Entschädigung aus der Staatskasse kommen wird und nicht aus den Taschen der Mafiosi mit Beziehungen zur Macht und aus denen von Wladimir Putins Oligarchen«, klagte der Oligarch, der einst als reichster unter allen Russlands Reichen galt.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. Juli 2014


Moskau soll zahlen

Freude bei Jukos-Dealern: Schiedsgericht verlangt 50 Milliarden Dollar von Rußland für frühere »Eigner« des zerschlagenen Ölkonzerns

Von Klaus Fischer **


Der Ständige Schiedshof in Den Haag hat die Rechte von Privateigentümern an Produktionsmitteln gegenüber Staaten gestärkt. Das Ergebnis: Rußland soll 50 Milliarden US-Dollar (37,2 Milliarden Euro) zahlen. Empfänger der angestrebten Wiedergutmachung sind einige frühere Besitzer des Erdölkonzerns Jukos (aus: Juganskneftegas und KujbischewnefteOrgSintes; engl. Yukos). Wie am Montag bekannt wurde, ist das Schiedsgericht der Ansicht, daß Jukos einst zu Unrecht von der Moskauer Regierung zerschlagen worden sei. Der Jubel auf der Siegerseite ist groß.

Es ist eine alte und lange Geschichte: 2003 wurde der damalige Eigentümer des größten russischen Ölkonzerns, Michail Chodorkowski, verhaftet und später vor Gericht gestellt. Der Vorwurf: Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe und diverse andere Gesetzesverstöße. Nicht thematisiert wurde bei diesen offiziellen Anschuldigungen Chodorkowskis Griff nach politischer Macht.

In mehreren Gerichtsverfahren wurde der gestürzte Oligarch verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Das Unternehmen wurde zerschlagen. Um die Steuerschuld des Konzerns und seines Eigners zu tilgen, wurden das besonders profitable, die Ölfelder, dem Staatskonzern Rosneft zugeschlagen. Als der Möchtegern-Putin-Nachfolger schon in Haft saß, verkaufte er seinen Anspruch auf Jukos – den Besitz hatte er nicht mehr – an ein paar Kumpels, die nicht hinter Gittern gelandet waren. Der Preis ist unbekannt. Der Name derjenigen, die dann auch klagten: Menatep-Gruppe mit beschränkter Haftung (Group Menatep Limited; GML).

Der Jukos-»Verkauf – Kauf« war eine Art Wette: Auf einen politischen Umsturz in Moskau, auf die Solidarität der Privateigentümer und auf geballte juristische Unterstützung des »Westens«. Die Geschichte davor hat das Haager Gremium nicht interessiert, die Voreigentümer wurden nicht gefragt, ob sie auch klagen wollten. Allen Grund dazu hätten sie. Denn Chodorkowski gehört zu den zwei Dutzend Sowjetbürgern, denen es gelang, aus dem früheren Volkseigentum der UdSSR große Filetstücke herauszuschneiden und sich einzuverleiben. Nicht mit »harter Arbeit«, sondern mit Frechheit, Glück, Gewalt und legalisierten miesen Tricks in einem Regime, dessen Chef dieser Selbstbedienungsmentalität ihren Namen gab: die Jelzin-Ära.

Erst einmal Milliarden Dollar schwer, konnte der nunmehr zum Dollarkrösus Gewordene auf ganz andere Weise seinen »Bürgerrechten« Respekt verschaffen, als der russische »Kumpel«, der »Muschik« oder der frühere »rote Soldat« (um bei Peter Hacks’ Oktobersong zu bleiben). Die konnten und können nicht in Den Haag klagen.

Ein ähnlich gearteter Deal wie der zwischen Chodorkowski und GML fand zu dieser Zeit auf dem amerikanischen Kontinent statt. US-Hedgefonds kauften für wenig Geld praktisch wertlose argentinische Staatsanleihen. 2014 sollte dann ein New Yorker Richter feststellen, daß diese Papierschnipsel 1,5 Milliarden Dollar wert sind und sofort ausgezahlt werden müßten. In dieser Woche läuft für Argentinien die Frist ab, eine erneute Staatspleite droht.

Bei der Jukos-Wette ist ein solcher Automatismus keineswegs sicher, auch wenn das Timing aus Sicht der Kläger besser kaum sein konnte und der Westen krampfhaft versucht, den politischen Druck auf Rußland weiter zu erhöhen. Der Haager Spruch ist kein Gerichtsurteil, auch wenn nahezu alle deutschen Leitmedien dies zu suggerieren versuchen. Hier wird nicht das neoliberale »Völkerrecht« der Konzerne gesprochen, der Schiedshof reguliert Streitigkeiten in gegenseitigem Einvernehmen der Kontrahenten.

Rußlands Regierung teilte mit, daß sie den Spruch anfechten werde. Sein Land werde »alle rechtlichen Möglichkeiten« nutzen, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Montag in Moskau. Bei nicht auszuräumenden Differenzen vor dem Schiedshof kann auch ein ordentliches Gericht eingeschaltet werden. Allerdings eines in den Niederlanden, dem Mitglied von NATO, EU und Euro-Gruppe.

In welche Richtung der Prozeß tendieren wird, scheint offensichtlich: Chodorkowski freute sich: »Es ist fantastisch, daß den Yukos-Aktionären eine Chance auf Schadenersatz gegeben wird«, erklärte er am Montag. »Aber es ist traurig, daß die Entschädigung aus der Staatskasse kommen wird und nicht aus den Taschen der Mafiosi mit Beziehungen zur Macht und aus denen von Wladimir Putins Oligarchen.« Zugleich verwies er darauf, daß er selbst von dem Urteil keinen finanziellen Nutzen haben werde.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Juli 2014


Jukos – zum zweiten

Europäisches Menschenrechtsgericht spricht »Eigentümern« 1,9 Milliarden Euro Entschädigung zu ***

Erst Den Haag, jetzt Strasbourg: Am Donnerstag (31. Juli) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den früheren Aktionären des russischen Ölkonzerns Jukos eine Entschädigung in Höhe von knapp 1,9 Milliarden Euro zugesprochen. Wie zuvor am Montag der Ständige Schiedshof in der niederländischen Hauptstadt verurteilte der EGMR den russischen Staat dazu, vermeintliches Unrecht wiedergutzumachen. Allerdings konnten die Strasbourger Richter keinen politischen Hintergrund bei der Zerschlagung des Oligarchenkonstruktes Jukos erkennen. Sie glauben, Fehler im russischen Steuerverfahren gegen den Ölkonzern ahnden zu müssen.

Die als Exeigentümer auftretenden »Investoren« hatten eine Entschädigung von rund 71 Milliarden Euro gefordert. Sie warfen Rußland eine unrechtmäßige Zwangsenteignung zur eigenen Bereicherung vor. Am Montag hatte der Haager Schiedshof von Moskau eine Rekordentschädigung von gut 37 Milliarden Euro zu Gunsten der angeblichen Eigentümer verlangt. Die Auflösung von Jukos sei politisch motiviert gewesen, befanden die Hinterzimmerrichter.

Also was stimmt? Bereits 2011 hatte der EGMR entschieden, daß die Jukos-Steuerschulden »Ergebnis legitimer Verfahren der russischen Regierung« seien, »um der Steuerhinterziehung des Unternehmens entgegenzutreten«. Damit wurden damals Vorwürfe der Kläger über einen politischen Hintergrund der Steuerverfahren zurückgewiesen. Es gebe keine Hinweise, daß »Rußland diese Steuerverfahren mißbraucht hätte, um das Unternehmen zu zerstören und alle Aktiva des Konzerns unter seine Kontrolle zu bringen«, befand der Gerichtshof vor drei Jahren. Der nun geforderte Schadenersatz sei fällig, weil zwei von Jukos bezahlte Strafen im Steuerbescheid sowie eine Vollstreckungsgebühr unrechtmäßig gewesen seien.

Jukos war früher »Eigentum« des Oligarchen Michail Chodorkowski. Der frühere Funktionär des Kommunistischen Jugendverbandes Komsomol hatte sich diesen Besitz in der weitgehend rechtsfreien Ära unter »Präsident« Boris Jelzin in den 90er Jahren zusammengerafft. U.a. wegen Steuervergehen war er 2003 zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden, der Konzern wurde zur Schuldbegleichung aufgelöst. Das hinderte Chodorkowski nicht, die »Besitzrechte« weiterzuverkaufen – Rechte, auf deren Grundlage Rußland jetzt Milliarden an Spekulanten zahlen soll.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 1. August 2014


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