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Wem nutzt Nemzow-Mord?

Russischer Ex-Vizeregierungschef Boris Nemzow auf offener Straße erschossen. Gedenkmarsch wird zu Demonstration gegen Putin

Von Reinhard Lauterbach *

Mehrere zehntausend Anhänger der liberalen Opposition in Russland haben am Sonntag in Moskau und St. Petersburg des am Freitag ermordeten Politikers Boris Nemzow gedacht. Das russische Innenministerium nannte mit 6.000 bzw. 7.000 wesentlich geringere Teilnehmerzahlen als die Veranstalter. Vor allem in St. Petersburg trug die Veranstaltung weniger den Charakter eines Trauerzugs, sondern den einer politischen Demonstration. Die Teilnehmer trugen ukrainische Fahnen und forderten unter anderem die Freilassung der ukrainischen Kampffliegerin Nadeschda Sawtschenko, die seit dem Sommer in Russland unter dem Vorwurf, mitschuldig am Tod zweier russischer Journalisten an der Kampflinie bei Lugansk zu sein, inhaftiert ist. Teilnehmer riefen »Wir vergessen und vergeben nicht«, forderten ein »Russland ohne Putin« und ein Ende des Kriegs in der Ukraine.

Nemzow war am späten Freitag abend in Sichtweite des Kreml auf einer Moskwa-Brücke mit mehreren Schüssen getötet worden. Er war in Begleitung einer jungen Frau – nach Medienberichten ein ukrainisches Model – auf dem Weg in seine Wohnung. Die Polizei bezeichnete die Tatausführung als professionellen Auftragsmord. Der jungen Frau sei kein Haar gekrümmt worden. Die Täter flüchteten in dem Auto, in dem sie sich dem Paar genähert hatten. Der durch eine Überwachungskamera identifizierte Wagen wurde später verlassen gefunden; er trug Nummernschilder der Republik Inguschetien im Nordkaukasus. Die russische Justiz hat drei Millionen Rubel (rund 45.000 Euro) Belohnung für Hinweise auf den Täter ausgesetzt.

Präsident Putin bezeichnete den Mord als Provokation und würdigte Nemzow – einen seiner lautstärksten politischen Gegner – als »Persönlichkeit, die immer offen ihre Meinung vertreten und eine Spur in der russischen Geschichte hinterlassen« habe. Als Versuch der Destabilisierung Russlands wertete den Mord auch der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow. Die liberale Opposition machte zum einen Putin unmittelbar für die Tat verantwortlich, zum anderen die Stimmung nationalistischen Hasses in der russischen Gesellschaft im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt. Westliche Politiker riefen die russischen Behörden zu einer »unparteiischen Ermittlung« auf. Der CDU-Europapolitiker Elmar Brok nahm das Ergebnis solcher Ermittlungen vorweg und machte das »System Putin« für den Mord verantwortlich.

Nemzow war einer der zu Liberalen gewendeten Nachwuchskader der späten Perestroika-Jahre und machte in den neunziger Jahren unter Boris Jelzin eine steile politische Karriere. Mit 32 Jahren wurde er 1991 Gouverneur der wichtigen Industrieregion Nischni Nowgorod und brachte es 1997 bis zum Vizeministerpräsidenten. Im Zusammenhang mit der Rubelkrise von 1998 trat er von seinem Amt zurück und beschäftigte sich mit der parteipolitischen Organisation der an gesellschaftlichem Rückhalt verlierenden russischen Liberalen. Auf die Präsidentschaftskandidatur im Namen der von ihm mitgegründeten Partei »Bund der rechten Kräfte« verzichtete er mitten im Wahlkampf 2008, nachdem Umfragen ihm ein Potential von unter einem Prozent vorausgesagt hatten.

Zuletzt trat Nemzow mit verschiedenen Enthüllungsdossiers zur Lage in Russland hervor. So warf er Putin vor, die Veruntreuung von etwa 20 Milliarden US-Dollar im Zuge der Olympischen Spiele in Sotschi zugelassen zu haben. Sein letztes Projekt war nach Angaben von Mitstreitern ein Bericht, der eine Beteiligung russischer Truppen am Krieg im Donbass belegen sollte.

* Aus: junge Welt, Montag, 2. März 2015


Respekt

Klaus Joachim Herrmann über den Tod Boris Nemzows **

Boris Nemzow hätte eine würdigere Behandlung verdient, als sie ihm als Opfer des mörderischen Attentates nun zuteil wird. Statt einen Augenblick innezuhalten, wird durch die ruchlose Tat eine längst unter Hochspannung stehende und erbitterte politische Auseinandersetzungen nur befeuert. Mit ungewissem Ausgang.

Das Spektrum der sofort in den Kreis der Verdächtigen gezogenen Personen und Kräfte erweist sich als beredtes Zeugnis des politischen Wirkens des Ermordeten. In der Ukraine-Politik war Nemzow unversöhnlicher Gegner des russischen Vorgehens und nationalistischen Taumels. Er wehrte sich gegen die Herrschenden wegen ihres Umgangs mit Demokratie. Die Schlagworte Kreml-Kritiker und Putin-Gegner reichen nicht aus. Die Einordnung als Streiter gegen Korruption und seine Kampfansage an islamistische Verblendung wecken weitere Tatmotive. In gewisser Weise also könnte Nemzow jedermanns Opfer geworden sein.

Da das Attentat vor der Haustür Präsident Putins verübt wurde, geriet dieser unter eine Art Generalverdacht. Er stand im Zentrum harscher Kritik Nemzows. Schon bei geringerer Aufsässigkeit pflegt der Kreml traditionell rüden Stil. Kaum grundlos werden ihm gewaltsames Vorgehen, seltsame Gerichtsverfahren und ungeklärte Todesfälle vorgehalten. Dieser Mord allerdings schadet dem Kreml - unschuldig oder nicht - wie sonst kaum etwas.

Wer jetzt auch immer wem die Schuld zuschiebt, sollte bedenken, dass Respekt gegenüber dem Opfer ausschließt, es für eigene Absichten zu benutzen.

** Aus: neues deutschland, Montag, 2. März 2015 (Kommentar)


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