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Krimtataren unter Druck Moskaus

Repressionen gegen die Medschlis, das Parlament der nationalen Minderheit

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Der Republikchef der Krim erhebt schwere Vorwürfe gegen die Minderheit der Krimtataren. Die bitten die Bundesregierung um Hilfe.

Zuerst stürmten Geheimdienstmitarbeiter das Hauptquartier der Medschlis – der Organisation der Krimtataren, einer Volksgruppe, die 12 bis 14 Prozent der Gesamtbevölkerung der Schwarzmeerhalbinsel stellt. Elf Stunden dauerte die Durchsuchung. Dabei wurden Computer-Festplatten, Dokumente, das neueste Buch von Krimtataren-Führer Mustafa Dschemilew sowie Teile der Auflage von »Avdet«, der Zeitung der Krimtataren, beschlagnahmt. Auch der Safe, in dem Dschemilew persönliche Dinge verwahrt, wurde geknackt, Augenzeugen berichteten, dass dabei auch Geld verschwunden sei.

Kaum waren die Geheimdienstler gegangen, kamen Gerichtsvollzieher und verlasen in Begleitung Schwerbewaffneter einen Vollstreckungsbeschluss des Stadtgerichts von Simferopol, der Hauptstadt der Krim. Damit werden die Medschlis und deren Unterorganisationen – darunter die karitative Stiftung Krim – beauflagt, das ihnen gehörende Gebäude binnen 24 Stunden zu räumen.

Das war vergangenen Dienstag. Am Donnerstag kamen die Gerichtsvollzieher wieder und hatten erneut nichts Gutes zu verkünden. Das Vermögen der Stiftung – darunter sieben Immobilen – sei gesperrt, die Eigentümer dürften darüber nicht mehr verfügen.

Razzien fanden dieser Tage auch in mehreren Moscheen statt. In Fontany, einem Vorort von Simferopol, sogar während des Gebets. Daneben wurden zahlreiche Privatwohnungen und eine krimtatarische Schule durchsucht. Der amtierende Republikchef Sergei Aksjonow hatte die »Maßnahme« mit »Hinweisen« begründet, wonach die Medschlis verbotene Literatur vertreibe und ihre Stiftung sich auch mit Drogen- und Waffenhandel finanziere. Die Beweislage ist allerdings sehr dürftig. Den Fahndern, die laut Augenzeugen mit Panzerfahrzeugen und Maschinengewehren anrückten, fielen lediglich drei religiöse Bücher in die Hände, die in Russland auf dem Index stehen.

Stiftungschef Riza Schewkijew vermutet einen Racheakt. Er, Dschemilew und andere Führer der Krimtataren hatten die Volksgruppe aufgerufen, den Wahlen zum Regionalparlament fernzubleiben. Mit hoher Beteiligung sollte der Russland-Beitritt im März legitimiert werden. Die Medschlis hatte schon zum Boykott des dazu anberaumten Referendums aufgerufen – aus Angst, unter russischer Oberhoheit könnten sich Repressionen wie die kollektive Deportation 1944 wegen angeblicher Kollaboration mit der Wehrmacht wiederholen.

In der Tat kritisieren Berichte von UNO und OSZE eine Verschlechterung der Menschenrechtssituation und die »prekäre Lage« ethnischer Minderheiten seit dem Beitritt. So verhängte Moskau gegen Dschemilow, der für sein Engagement für die Rechte der Krimtataren schon in der Sowjetunion lange Haftstrafen verbüßte, ein fünfjähriges Einreiseverbot.

Die Medschlis will gegen Räumung und Sperrung ihres Vermögens klagen und hat zusammen mit anderen Bürgerrechtlern der Krim die Gesellschaft für bedrohte Völker gebeten, Angela Merkel einzuschalten. Die Bundesregierung dürfe die Repressalien nicht kommentarlos hinnehmen, die Kanzlerin solle auf die Behörden auf der Krim und in Moskau einwirken. Denn das Vorgehen gegen die Medschlis sei nur »die Spitze des Eisbergs«, kritisieren Aktivisten. Die Krimtataren seien verängstigt und würden an Massenflucht denken.

* Aus: neues deutschland, Montag 22. September 2014


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